Einführung in die Zweite Kammersymphonie von Schönberg
Den achtzigsten Geburtstag Arnold Schönbergs begehen wir festlich mit einer Aufführung der in Deutschland noch recht selten gehörten Zweiten Kammersymphonie. Ich könnte mir kaum ein Werk vorstellen, das besser dazu taugte, ihn zu feiern. Es vereint Qualitäten der einleuchtendsten Wirkung mit jenen spezifischen, verborgeneren der Gestaltung, die Schönbergs säkularen Rang bestimmen. Im allgemeinen hilft bei großer Musik die Kenntnis der Entstehungsgeschichte dem Verständnis der Sache selbst wenig. Aber auch darin ist vielleicht die Zweite Kammersymphonie eine Ausnahme. Ihre Konzeption liegt bald fünfzig Jahre zurück; sie wurde gleichzeitig mit der Ersten Kammersymphonie begonnen, und die Arbeit an beiden Partituren hat sich überkreuzt. Aber die Zweite Kammersymphonie teilte das Schicksal vieler anderer Schönbergscher Entwürfe; sie blieb unvollendet, wahrscheinlich weil die unbeschreiblich steile, sprunghafte Entwicklung des Meisters in den entscheidenden Jahren kurz vor dem ersten Weltkrieg ihn von Plänen wegriß, die sich noch ans traditionelle Material der Tonalität gebunden wußten. Immerhin war die Zweite Kammersymphonie damals weit fortgeschritten. Ich erinnere mich, daß Alban Berg, Schönbergs Schüler und mein eigener Lehrer, mir 1925 Wunder von einem großen es-moll-Adagio daraus erzählte, das er zu dem Schönsten rechnete, was Schönberg überhaupt geschrieben hatte. Es ist das Verdienst des Dirigenten Fritz Stiedry, eines der treuesten Freunde Schönbergs, daß er ihn viele Jahre später in Amerika zur Vollendung des Werkes anspornte. Er hat dann auch die Uraufführung bei den New Friends of Music in New York geleitet. Stiedrys Bemühungen kam die Neigung Schönbergs entgegen, nicht nur, wie im Fall der Gurrelieder, auf Älteres, Unvollendetes zurückzukommen, sondern überhaupt die Souveränität, die er an den neuen Mitteln sich erworben hatte, an alte zu wenden und unter Beweis zu stellen, daß vom Standpunkt des fortgeschrittensten Komponierens aus auch mit jenen alten Mitteln Neues sich aussagen läßt.
Die Zweite Kammersymphonie ist der Ersten höchst unähnlich. Ihr Grundton ist nicht stürmisch-schwungvoll, sondern tragisch; sie ist nicht für solistische Besetzung, sondern von Anbeginn für kleines Orchester gedacht, und sie sollte nicht einsätzig, sondern mehrsätzig werden. Bei der Arbeit hat sich dann der Plan verdichtet: es ist bei zwei Sätzen geblieben, die scharf konstrastieren, aber eng verklammert sind und zu einem höchst geschlossenen Ganzen sich runden.
Man hat es mit einem Gebilde zu tun, in dem die Spontaneität und Ursprünglichkeit von Schönbergs Jugend mit der höchsten Meisterschaft seines reifen Stils sich verbindet. Um der Einheit des Ganzen willen ist auch der nachkomponierte zweite Satz tonal behandelt, aber von einer kontrapunktischen Kunst erfüllt, welche die ganze Erfahrung der Zwölftontechnik in sich aufspeichert: ein tonales Stück im Zwölftongeist, eine integrale Komposition, in der es keine zufällige, keine unthematische Note mehr gibt, ohne daß dabei vom unmittelbaren Musizierimpuls das leiseste geopfert wäre. Beim Hören dieses zweiten Satzes ist es einem zumute, als wäre die ganze Tonalität selber nichts anderes als ein Spezialfall des Komponierens mit zwölf Tönen. Was aber dem Werk seinen unverwechselbaren Charakter in Schönbergs Gesamtoeuvre zuteilt, ist die Einheit der technischen Gestaltung mit dem, was man wohl früher poetische Idee nannte. Kein anderes Instrumentalstück Schönbergs seit seiner Jugend, das Zweite Quartett vielleicht ausgenommen, realisiert so eindringlich eine solche poetische Idee. Erst beim Hören der Zweiten Kammersymphonie kann man die gar nicht an der Oberfläche bemerkliche, aber bis ins Innerste reichende Liebe Schönbergs zu Gustav Mahler ganz verstehen, dessen Symphonien ähnlich als geistige Totalitäten geschichtet sind. Die technische Verfahrungsweise der Zweiten Kammersymphonie selbst schreibt die Bahn vor, in der ihr Ausdrucksgehalt hevortritt.
Der erste Satz ist jenes berühmte es-moll-Adagio, voll der herrlichsten Themen, vor allem aber bezeichnet durch seine Harmonik, den außerordentlichen Stufenreichtum, der fast jedem Ton seinen selbständigen und dabei in der Formbildung des Ganzen jeweils mitbeteiligten Akkord zuweist und damit perspektivische Wirkungen außerordentlicher Art herstellt. Der Charakter ist einer des größten aber zugleich verhaltenen Ernstes, lyrisch und doch symphonisch-expansiv. Der zweite bietet eine Überraschung. Er setzt in leichtestem, graziösem Serenadenton ein, man könnte zunächst an Hugo Wolf denken. Aber durch die kontrapunktische Kunst, die hier im Gegensatz zum vorwiegend homophonen ersten Satz waltet, schürzt sich allmählich der symphonische Knoten. Der Bau wird immer reicher, beziehungsvoller und durch die angespannte Konstruktion auch im Ausdruck immer dunkler, bis dieser tragisch ausbricht, und mündet in eine auf den ersten Satz zurückgreifende Coda, die nun die lyrische Trauer des Beginns ins düster Monumentale erhöht. Der zweite Satz endet im ersten, aber es ist, als werde hier erst die Gefühlslage, aus der jener entsprang, ganz objektiviert.
Manchmal will es mir scheinen, als sei heute die Schwierigkeit, vor die Schönberg stellt, gar keine sachliche mehr, sondern Produkt der öffentlichen Meinung, die für sein Werk so viele Clichés bereit hält, daß die Hörer nur noch nach diesen Clichés hören und nicht die Musik. Die Zweite Kammersymphonie vermag davon zu befreien. Wenn Sie sich die innere Geschichte vergegenwärtigen, die das Stück durchmißt, und sich ihm dann ohne viel Reflexion überlassen, so werden Sie mühelos folgen können und all das unmittelbar wahrnehmen, was ich Ihnen nur darum durchs Wort vermittelte, damit Ihre Aufmerksamkeit sogleich sich aufs Wesentliche richte. Sie werden nichts anderes als eines der schönsten, reichsten und gesammeltesten Stücke der gesamten symphonischen Musik vernehmen, und werden das Vertrauen mitnehmen, daß einer, der so Neues mit dem Vertrauten auszusagen wußte, das Recht besaß, vom Vertrauten sich zu lösen, und dabei einer Notwendigkeit folgte, die größer war selbst als die große Tradition, an der er seine Kraft bildete.