Valérys Abweichungen
Für Paul Celan
Kurz nacheinander sind auf deutsch zwei Bände mit Prosa von Paul Valéry erschienen. Der Insel-Verlag bringt, in einer vorzüglichen Übersetzung von Bernhard Böschenstein, Hans Staub und Peter Szondi, eine Auswahl aus den Merkbüchern. Der Titel ›Windstriche‹ gibt das ›Rhumbs‹ des Originals wieder, Teilstriche auf der Windrose, sodann die Winkel zwischen einem dieser Striche und dem Meridian, also die Abweichung eines Kurses von der Nordrichtung; von Valéry gemeint sind »Abweichungen von einer bestimmten, von meinem Geist bevorzugten Richtung« (W 9)1. – Die Bibliothek Suhrkamp hat die ›Pièces sur l'art‹ aufgenommen und nennt sie verkürzt ›Über Kunst‹. Die Übertragung stammt von Carlo Schmid, vermutlich dem ersten und einzigen deutschen Politiker von den front benches, der Valérys Rang und Namen kennt und heroisch die Zeit für derlei schwierige und anspruchsvolle Texte sich abringt. Die beiden Bände sind angesiedelt an den Gegenpunkten der Prosaschriftstellerei des Lyrikers. Der eine enthält Einfälle, deren er als Mann der Ordnung, einem Passus des Vorworts zufolge, kokett sich schämt; der andere offizielle Äußerungen bei Gelegenheit von Ausstellungen und Ähnlichem. In ihnen zeigt Valéry zuweilen den Gestus des Mitglieds der Akademie; ihm gefährlicher vielleicht denn der »Schein des Lebens« von Notizen, deren unterirdischer Zusammenhang ihnen mehr an Einheit und Form verleiht, als Außenarchitektur ihnen hätte verschaffen können.
Die späte Stunde der Publikation mag den beiden Büchern in Deutschland günstig sein. Nicht nur vereinen sie, gleich Proust, das Fortgeschrittene mit einer heute hierzulande seltenen Autorität des Gelingens. Sondern das Spannungsfeld Valérys nimmt um dreißig Jahre das der gegenwärtigen Kunst: das von Emanzipation und Integration, vorweg. Hochmütig spricht Valéry gelegentlich sich selbst die Qualifikation zum Ästhetiker ab (K 114), will damit freilich das Versagen der Schulphilosophie vor den Fragen der aktuellen Produktion treffen, ähnlich wie er der Literarhistorie die sachliche Zuständigkeit abstreitet (K 161). Wohl ist er viel zu gescheit, um nicht einem Ressentiment sich verdächtig zu machen, dem er auf den Grund sah: »Man nennt den andern einen Sophisten, wenn man fühlt, daß man dümmer ist als er. Wer das Denken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an.« (W 99) Aber sein Gedanke schärft sich durch rückhaltlose Preisgabe ans Objekt, nie durchs Spiel mit sich selber. Darüber zergehen ihm die Clichés, deren Demontage mittlere Intellektuelle der Eitelkeit dessen aufzubürden pflegen, der es um jeden Preis besser wissen wolle. Die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen – eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder hinter Naivetät verschanzt, noch ihre konkreten Bestimmungen eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt, ist wohl die allein mögliche Gestalt von Ästhetik heute. Sie bewährt sich daran, daß Valérys Formulierungen kaum andere Kritik dulden als eine, die sie weiterdenkt.
Das Wort Ästhetik hat mittlerweile jenen leise archaischen Klang angenommen, den Valérys Sensorium an so vielem anderen, wie der Tugend, als erster registrierte. Als Lehre vom Schönen, die dessen Gesetze ein für allemal aufrichten möchte – und der Wille dazu war Valéry nicht fremd, so wenig er auch ihm sich verschrieb –, ist sie so reaktionär geworden wie das mit jener Konzeption von Kunst verschwisterte Pathos, das sie über die empirische Realität, die Gesellschaft, ins Absolute erhöht. Dies Pathos hat Valéry von Mallarmé ererbt, obwohl der Essay über Manets Triumphzug in den Stücken über die Kunst gebietend auch über die Parole l'art pour l'art sich erhebt, die man ihm so einfältig zuschiebt; er preist und deutet den Maler als den, welchen Zola nicht weniger geliebt habe als Mallarmé. Aber es ist in der französischen Avantgarde üblich geworden, Valéry unter die Reaktionäre einzureihen, und das wird gewiß seine deutsche Rezeption beeinträchtigen. Nach Bemerkungen von Pierre Jean Jouve gehörte er auf die Baudelairesche Rechte. Dorthin verweise ihn der herrschaftlich-klassizistische Kultus der Form, der samt seinen finsteren politischen Implikationen schon einen Aspekt Baudelaires selber abgab und dann in Mallarmé von den sozialrevolutionären Impulsen der Fleurs du mal sich schied, während der linke Baudelaire über Rimbaud in den Surrealismus mündete. Die Surrealisten haben Valéry in Verruf gebracht. Er muß es sich schon gefallen lassen, daß man auf ihn selber eine Nietzsches würdige Stelle der Windstriche anwendet: »Der Haß bewohnt den Gegner, erforscht seine Tiefen und zergliedert die feinsten Wurzeln der Absichten, die er in seinem Herzen hegt. Wir erkennen ihn besser als uns selbst und besser, als er sich selber erkennt. Er vergißt sich, wir vergessen ihn nicht. Denn wir nehmen ihn durch eine Wunde wahr, und keiner unserer Sinne ist so stark, keiner vergrößert so sehr und bestimmt so genau, wovon er getroffen wird, wie ein verletzter Teil unseres Wesens.« (W 98) Den Büchern mangelt es nicht an schlicht Reaktionärem, von einer Verbeugung vor Mussolini als dem machtvollen Willen, »der jenseits der Berge das Regiment führt« (K 146), über die sich anbiedernde Behauptung, es bedürfe »gesellschaftlicher Ordnungen, die eine Aristokratie gelten lassen und erhalten, der es weder an Reichtum noch an Geschmack gebricht und die den Mut zu dem Gepränge in sich fühlt, das zu ihr gehört« (K 60), bis zur fatalen Moltkeschen Befriedigung: »Diese Welt süßer Beglückung ist nicht unsere Welt, und ich behaupte, daß man dessen im Grunde froh sein muß.« (K 67) Antipolitisch war Valéry wie der Thomas Mann der ›Betrachtungen‹. Pointiert jedoch hat er seine Haltung eher in Worten, die bei Karl Kraus stehen könnten: »Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.« (W 32) Die antipolitische Intention ist leicht genug der reaktionären des Privatiers gleichzusetzen. Aber der Vorwurf wäre zu kurzatmig. Valéry beschreibt eine politische Versammlung: »Einer besteigt die Tribüne, Tumult, tierische Schreie, die ›verstimmte‹ Opposition, usw. Er beginnt ... Ist es eine Rede? Doch nach und nach tritt, eindringlich, die Arbeit des Denkens hervor, beginnt zu wirken. Das Denken selbst zeigt sich an der Arbeit. Es gibt keine billigen Lösungen mehr, keine einfachen Formeln, keine politischen Programme, keine parlamentarische Taktik, keine überraschenden Vergleiche, keine schlagkräftigen Entgegnungen ... Sondern die ungeheure schöpferische Verlegenheit, die sich vortastet, unbekannte Zukunft, unvertraute Gegenwart, mangelhafte Logik, ungestaltetes Wissen, Verfolgung falscher Fährte, der ungreifbare Gegenstand, das grobschlächtige Wort, die Entscheidung immer in der Schwebe ... Alles, was die Kunst des Redners verdeckt, alles, worin das Denken ursprünglich mit der wirklichen Wirrnis der Dinge übereinstimmt, wird sichtbar ...« (W 32f.) Den gleichen Widerwillen gegen das Überredende zeigt Valéry auch als Ästhetiker, etwa gegen Wagner. Er findet es allgemein »unwürdig, zu verlangen, daß die andern unserer Meinung seien« (W 67). Seine Aversion gegen Politik als Herrschaftstechnik und als Gestalt von Ideologie schießt hinaus über jenes engagement, das man dem Artisten so pharisäisch predigt. Was sich gebärdet wie das ça ne me regarde pas des Pariser Individualisten, sympathisiert insgeheim mit der Anarchie.
Dennoch affiziert Valérys antipolitisch-politischer parti pris auch sein künstlerisches Urteil. Dann geht er unter das Niveau; so wenn er bewundert, »daß man es einmal fertig gebracht hat, zwanzig menschliche Gestalten auf die Leinwand oder den Kalk zu werfen und dies in den mannigfaltigsten Haltungen, und daß es um sie her weder an Früchten, noch an Blumen, noch an Bäumen, noch an Baulichkeiten mangelte« (K 98). Weil man es heute so gut nicht mehr habe, passieren sogar Sätze wie: »Der ausschließliche Geschmack am Neuen verrät eine Entartung des kritischen Sinns, denn nichts ist einfacher, als über die Neuheit eines Werks zu urteilen.« (W 121) Oder: »Die Künste halten mit dem Hasten nicht Schritt. Zehn Jahre dauern unsere Ideale! Der abgeschmackte Wahnglaube an das Neue – der unheilvollerweise an die Stelle des alten und wohltätigen Glaubens an das Urteil der Nachwelt getreten ist – richtet vor dem eifernden Fleiße das trügerischste aller Ziele auf und mißbraucht ihn dazu, das Allervergänglichste zu schaffen, zu schaffen, was schon seinem Wesen nach vergänglich sein muß: den Reiz des Neuen.« (K 148) Veraltet auch an den Kunstwerken genau der »Reiz des Neuen«, so werden doch die, welche eines solchen Reizes entraten; welche nicht in ihm das eingeschliffene Bewußtsein ihrer Epoche durchbrechen, zu dem auch das dubiose Vertrauen aufs Urteil der Nachwelt rechnet, schwerlich alt werden.
Aber nur an den reaktionären Momenten ist abzulesen, was in Valéry weitertreibt. Denn über seine Bücher ist nicht Progressives und Regressives ausgestreut, sondern das Progressive wird dem Regressiven abgezwungen und transformiert dessen Schwerkraft in den eigenen Elan. Der Theoretiker Valéry hat, wie man es wohl auszudrücken pflegt, zwischen den Extremen Descartes und Bergson die Brücke geschlagen. Aber dem Cartesianer in ihm, dem Hüter eingeborener ewiger Ideen, ebenso wie dem Bergsonianisch aufs Fließende, »Unbestimmte« Horchenden, das der begrifflichen Fixierung spottet, muß Hegel ursprünglich überaus fern gewesen sein, der bewegt denkt und doch in harten Umrissen, ohne jeglichen schwebenden oder fließenden Übergang. Um so nachdrücklicher das Plaidoyer für die Dialektik, zu der Valéry gegen Bildung und Temperament, lediglich durch die »Freiheit zum Objekt« genötigt wird, dem er denkend gerecht zu werden trachtet. Sein philosophisches Wesen, hartnäckig wie anschlagende Wellen, unterspült das Gemeinsame der beiden philosophischen Erzfeinde, die Illusion des Unmittelbaren als eines schlechterdings sicheren Ersten. Die Kritik am Ausgang vom je eigenen Bewußtsein als solcher Unmittelbarkeit und die implizite Wendung gegen die Reinheit dessen, der nicht sich zu entäußern vermag, hat Valéry selbst vollzogen in einem Gedankenexperiment, das man in der Phänomenologie, vielleicht auch in der Rechtsphilosophie des seit Cousin bis zur jüngsten deutschen Welle in Frankreich vergessenen Hegel vermutete: »Ein Mensch, der alles nur nach seiner Erfahrung einschätzen würde, der über nichts urteilen würde, was er nicht gesehen und erlebt hat, der sich nur selbständig entschiede, der sich ausschließlich aus den Tatsachen geschöpfte, vorläufige und begründete Meinungen erlaubte, der bei jedem Gedanken, der ihm käme, gleich hinzusetzte, er habe ihn selber erzeugt oder gelesen oder gehört (der eine sei zufälliger und unbekannter Herkunft, der andere nur ein Echo); und was er irgend denke oder verstehe, sei alles nur durch Zufall oder Widerhall vermittelt, – der wäre wohl der ehrlichste, selbständigste und wahrhaftigste Mensch auf Erden. Doch seine Reinheit würde ihn hindern sich mitzuteilen, und seine Wahrhaftigkeit verurteilte ihn zum Nichtsein.« (W 33f.) So wenig in der unmittelbaren Gewißheit des ego cogitans autarkisch sich leben läßt, so wenig stichhaltig ist der Glaube an Natur als Unmittelbarkeit: »Keine Anschauung ist naiver als diejenige, die alle dreißig Jahre zur Entdeckung der ›Natur‹ führt. Es gibt keine Natur. Oder genauer: was man als gegeben annimmt, ist allemal, früher oder später, hergestellt worden. Der Gedanke, daß man Dinge wieder in ihrer Ursprünglichkeit erfaßt, ist von erregender Kraft. Man stellt sich vor, es gebe ein solches Ursprüngliches. Doch das Meer, die Bäume, die Sonnen – und gar das Menschenauge –, all das ist Kunst.« (W 35) In den Essays ›Über Kunst‹ erweitert sich das zu einer Denunziation jenes ästhetischen Wald- und Wiesenbegriffs vom Einfachen, den der Philister als Winckelmannsches Erbe hütet: »Der Wille zum Einfachen in der Kunst ist immer tödlich, wo er sich selbst genug sein will und uns verführt, uns um eine anfallende Mühsal zu drücken.« (K 78) Unmittelbares, Einfaches ist für Valéry wie für Hegel nicht das Erste sondern Resultat einer Vermittlung. Das erläutert er an einer Anekdote von chinesischer Schönheit: »Einer der ruhmvollsten Meister der Reitkunst aller Zeiten erhielt, arm und alt geworden, vom Zweiten Kaiserreich eine Stallmeisterstelle in Saumur. Dorthin kam eines Tages, ihn zu besuchen, sein Lieblingsschüler, ein junger Rittmeister und glanzvoller Reiter. Baucher sagte zu ihm: ›Ich will für Sie ein wenig in den Sattel steigen‹. Man hebt ihn auf ein Pferd; er durchquert die Bahn im Schritt, kommt zurück ... Der andere, geblendet, sieht einen vollkommenen Kentauren daherkommen. ›So‹, sprach der Meister zu ihm, ›ich mag keine Wichtigtuerei. Ich stehe auf dem Gipfel meiner Kunst: Reiten im Schritt und dies fehlerlos.‹« (a.a.O.) Wie er das Unmittelbare als vermittelt durchschaut, so ist er offen fürs Unmittelbare als telos der Vermittlung. Das ist ihm Kultur. Die Kunst der Renaissance habe dem italienischen Volk »nicht als Dreingabe« gegolten, nicht »als etwas, das nur in Ausnahmefällen zum Dasein gehört, sondern als eine seiner natürlichen und so gut wie notwendigen Bedingungen, deren Fehlen ihm eine spürbare Entbehrung bedeuten würde« (K 155). Von dem ist nicht weit zur Hegelschen Definition von Kunst als einer Erscheinung der Wahrheit. Die Wahlverwandtschaft reicht bis in die Logik hinein. In der Hegelschen des Wesens würden Analysen keine üble Figur machen wie: »Aussagen haben stets mehrere Bedeutungen, deren bemerkenswerteste sicherlich der Grund selber ist, warum die Aussage getan wurde. So bedeutet ›Quia nominor Leo‹ durchaus nicht ›Denn Löwe heiße ich‹, sondern: ›Ich bin ein grammatikalisches Beispiel‹.« (W 111) Dafür hat Hegel in Sätzen wie »Je schlechter der Künstler ist, desto mehr sieht man ihn selbst, seine Partikularität und Willkür« Valéry prophetisch plagiiert. Früh nahmen sie die Dynamik der Idee jenes Fortschritts vorweg, dessen Spätzeit noch Valéry, zumindest ästhetisch, zugehörte, der subjektivistischen. Ihre Träger sind ihm Manet, Baudelaire und Wagner, in denen sensuelle Reizsamkeit und Differenziertheit, wie Impressionismus und Symbolismus sie teilten, zum Prinzip geworden und aufs höchste gesteigert seien. Als einer der ersten verbuchte Valéry, was darüber an Kräften der Objektivation und Verbindlichkeit verlorenging. Selber vom Symbolismus geprägt, war er vor der laudatio temporis acti gefeit, schätzte jedoch den Preis ein, den die Stimmigkeit der Gebilde für ihre subjektive Durchdringung zu zahlen hat. Die nach-Valérysche moderne Kunst hat unabhängig von ihm daraus die Konsequenz gezogen. Was in Malerei und Plastik von der Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, in der Musik von der Tonalität sich lossagt, wird wesentlich motiviert von dem Drang, dem Gebilde rein von sich aus etwas von jener Objektivität wieder anzuschaffen, deren es enträt, solange es beim subjektiven Reflex auf ein wie immer auch Vorgegebenes sein Bewenden hat. Je mehr das Kunstwerk all der Bedingungen kritisch sich entäußert, die seiner je eigenen Gestalt nicht immanent sind, desto mehr nähert es mittlerweile einer Objektivität zweiter Potenz sich an. Insofern hat die Radikalisierung der Kunst eingebracht, was Valéry retrospektiv am Fortschritt seiner eigenen Epoche noch bemängelte. Dazu stimmt, daß inmitten einer fortdauernd gefesselten Gesellschaft die Entfesselung des Subjekts, seine Pflicht und sein Glück, zugleich auch Schein bleibt und am allgemeinen Schein mitwirkt. Dem ästhetischen Subjekt ging die Autorität alles Traditionalen unwiederbringlich verloren. Es muß auf sich selbst rekurrieren, darf nur auf das sich verlassen, was es aus sich herauszuspinnen vermag; ihm wahrhaft ist der kritische Weg allein offen. Auf keine andere Objektivität kann es hoffen. Zurückverwiesen auf sich, ist es künstlerisch notwendig sich selbst das Nächste und Unmittelbarste. Gesellschaftlich aber bleibt es abgeleitet, bloßer Agent des Wertgesetzes. Je tiefer es seine je eigene Wahrheit als ihm allein erreichbare, von ihm allein zu füllende ausdrückt, desto mehr verstrickt es sich in die Unwahrheit. Diese Antinomie bezeugt Valérys gesellschaftlich bewußtlose Trauer ums Vergangene ebenso treu, wie die ästhetische Eigenständigkeit, die er im Gedanken an die authentischen Werke von einst verficht, durch ihre hermetische Abdichtung vom kommunikativen Unwesen mit Tendenzen solcher übereinkommt, denen Valéry anathema ist und die er selbst wohl ohne Zögern als Verfall verdammt hätte. Wenn in der Phase des Tachismus und der Experimente mit aleatorischer Musik Mallarmés Würfeltheorie aktuell geworden ist, so manifestiert darin sich ein Zusammenhang, in den das oeuvre seines Schülers Valéry insgesamt fällt. Wie nach ihm die Spannung zwischen dem konstruktiven Gesetz und der Kontingenz in der Kunst bis zum Bersten sich steigerte, so wird schon seiner eigenen anachronistischen Insistenz auf Begriffen wie Ordnung, Regelhaftigkeit und Dauer die Abweichung konstitutiv beigesellt. Sie ist ihm Bürgschaft der Wahrheit. Schroff widerspricht er der Ansicht des common sense von Erkenntnis: »Jede Sicht der Dinge, die nicht befremdet, ist falsch. Wird etwas Wirkliches vertraut, so kann es nur an Wirklichkeit verlieren. Philosophische Besinnung heißt vom Vertrauten auf das Befremdende zurückkommen, im Befremdenden sich dem Wirklichen stellen.« (W 144) In einer Gesellschaft, deren Totale sich fugenlos zur Ideologie abgedichtet hat, kann wahr nur sein, was der Fassade nicht gleicht. Das kritische Bewußtsein des konservativen Artisten vom Banalen als Trug geht über in Brechts Verfremdungseffekt. In seinen Gedanken so wenig wie in der Praxis der Künstler läßt das Allgemeine dem Besonderen so bruchlos sich versöhnen, wie es der traditionellen Kunst und Ästhetik vor Augen stand. Indem der Reaktionär Valéry dessen gedenkt, was auf dem Weg des Fortschritts vergessen wird; was der großen Tendenz sich entzieht, deren Fürsprecher er doch als einer der ästhetischen Naturbeherrschung selber ist, muß er auf die Seite der Differenz, des nicht Aufgehenden sich schlagen. Daher der nautische Name seiner Merkbücher. Keine Interpretation könnte das präziser herausstellen als seine eigene Formulierung vom »Akzidens, das meine Substanz ist« (W 80).
Dem hätte Valérys deklarierter Antipode Proust zugestimmt, dem klassische Rationalität und Ordnungsgefüge vorweg verdächtig sind: wozu Valéry widerstrebend sich nötigen läßt, ist das Formgesetz des Proustischen Gesamtwerks. Aber Prousts enthusiastisches Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt des Inkommensurablen, der unwillkürlichen Erinnerung ist bei Valéry schwermütig gebrochen: »Die richtigen Gedanken sind immer unerwartet. Jeder unerwartete Gedanke ist einige Augenblicke lang richtig.« (W 108) Die Evidenz des Unwillkürlichen, der Zeitkern der Wahrheit als eines jeweils Neuen, die plötzlich erscheinende Wahrheit hat den Aspekt des Trügerischen und Hinfälligen. Das ist der Grund des Schmerzes, den die unwiderleglich jähe Einsicht Valéry wie Proust bereitet. Der Nachfahre Baudelaires, der die Lüge der Geliebten verherrlichte, bringt dessen spleen ein in eine leidvolle Physiognomik, wie Proust nicht anders an Albertine sie hätte entwerfen können. »Die Menschen flehen schweigend die Menschen an, ihnen zu sagen, was sie nicht denken. ›Sagt uns, was wir hören möchten!‹ ›Sag mir etwas Freundliches!‹ singen die Augen.« (W 137) Larochefoucauldsche Aufklärung und neuromantische Sensibilität verschränken sich in der Beobachtung. Gleich Proust hat Valéry die verhärtete Scheidung von Denken und Intuition widerrufen, an welche das verdinglichte Bewußtsein befriedigt sich klammert: »... es sei denn, man verstehe unter Inspiration eine so bewegliche, geordnete, scharfsinnige, unterrichtete und berechnende Kraft, daß man sie ebensogut Intelligenz oder Kenntnis nennen könnte« (W 48). Zuweilen reicht die Übereinstimmung bis in die philosophische These: »Die Vergangenheit ist ganz und gar nicht, was man dafür hält. Die Vergangenheit ist nicht, was einmal war; sie ist nur, was von dem, was einmal war, übrigblieb. Das sind Spuren und Erinnerungen. Sonst ist einfach nichts vorhanden.« (K 163) Die Besinnung über den klassischen Begriff des Dauernden und Bleibenden, den Valéry nicht antastet, führt zur Verneinung des monumentum aere perennius. In Valérys Geschichtsphilosophie öffnet sich ein Spalt im Gefüge der vérités éternelles. Der Generalnenner für Proust und Valéry ist aber kein anderer als jener Bergson, dem Valéry, unter der nationalsozialistischen Besetzung, die Totenrede hielt.
Nirgends kann man den Zwang, antithetisch über jene Art Position hinauszugehen, welche alle traditionelle Philosophie mit Besitzerstolz hütet, in Valéry deutlicher wohl erkennen, als an seinem Verhältnis zur Musik. Er hat sich unmusikalisch genannt, wenn nicht antimusikalisch: »Musik langweilt mich nach kurzer Zeit.« (W 118) Der einem mittleren Komponisten wie Honegger seinen »mächtigen Atem« (K 34) nachrühmt, beschreibt die opernhaften Züge jenes Racine, »dessen Tragödien Lulli sich so beflissen anzuhören pflegte und dessen Linienführung und Themen sich anhören, als seien sie unmittelbar in die schönen Formgebilde und die reinsten Durchführungen Glucks übergegangen« (K 31), nicht wissend, daß es bei Gluck kaum »Durchführungen« gibt und daß die Primitivität von dessen Formgestaltung ihn zum blutigen Hohn reizen müßte, wenn er ihr in der Malerei begegnete. Dennoch charakterisiert er unmittelbar danach Unmanieren beim Sprechen von Versen so, wie es wörtlich auf schlechte musikalische Interpretationen angewendet werden könnte: »Man zerschlägt sie, man unterschlägt sie; andere Male scheint es, als ob man nur ihre Zwänge zur Geltung bringen wolle: man unterstreicht, man übertreibt die Zeilenfügung, die Ecksilben der Alexandriner, eingebürgerte Formelemente, die meiner Meinung nach durchaus ihren Nutzen haben, die aber zu grobschlächtigen Wirkungsmitteln werden, wenn die Sprechweise sie nicht in die Gewänder ihrer Anmut hüllt.« (a.a.O.) So fern und nah war Valéry der Musik. Er fügte sich zunächst dem Schema, welches das Visuelle als statisch rational in einfachen Gegensatz rückt zum Fließenden und Chaotischen der begriffslosen Zeitkunst. Im Gegensatz zu Dichtung und Musik schreibt er der Malerei ein dinghaft positivistisches Moment zu. Daher seine Reservate gegen die magische Wirkung des Bildes. Der Symbolist Valéry hat es denn auch mit den Impressionisten gehalten und nicht mit Puvis de Chavannes: »Die Malerei darf, bei Vermeidung von Gefahren, sich nicht herausnehmen, uns den Traum vorzutäuschen. Die Einschiffung nach Kythera scheint mir nicht vom Besten Watteaus zu sein. Die Zauberwelten Turners bringen es bisweilen fertig, mich zu entzaubern.« (K 90) Nicht wenn Kunst desperat ihr magisches Erbe hütet, nur wenn sie es sich versagt, durch die Ernüchterung hindurch, kann sie überleben und übergehen in jene Sprache, als welche Valéry sie las. Darin terminiert seine Interpretation Manets. Die »Naturalisten«, denen er ihn in diesem Zusammenhang zuzählt, haben, analog zu Baudelaire, »ein wirkliches Verdienst: sie haben in Gegenständen oder Vorwürfen, die bis auf ihre Zeit für schmählich oder bedeutungslos galten, Poesie entdeckt (oder vielmehr darein eingebracht) und bisweilen solche vom höchsten Range« (K 110). Aber er war nicht so intransigent gegen Musik wie gegen die Pseudomorphose an sie. Schon zu Beginn der Windstriche ist, in erstaunlicher Parallele zu Kierkegaard, vom »philosophischen Ohr« die Rede (W 16). Valéry besaß es selber. Der den musikalischen Sinn sich aberkannte, konnte als Lyriker nicht darüber sich täuschen, daß »die Wege der Musik und der Dichtung« sich kreuzen (W 57). »Es war die Zeit des Symbolismus: wir waren, ein jeder wie es seiner Anlage und seiner Schule entsprach, reichlich damit beschäftigt, nach besten Kräften das Maß an Musik zu mehren, das die französische Sprache in die Aussage einzuführen erlaubt.« (K 35) Aber er beharrt nicht auf dem synästhetischen Programm von Verlaines Art Poétique, sondern legt seine widerspruchsvolle Erfahrung auseinander. Den Witz: »Gute Verse vertonen heißt ein Gemälde durch ein Kirchenfenster beleuchten« (W 61), meint er boshaft gegen die Musik. Er zielt zu kurz: kaum sonst könnte die Qualität von Liedern so sehr abhängen von der der Gedichte; jene siedeln sich eher in deren Hohlräumen an, stehen ihnen eher in ihrer Fehlbarkeit bei, als daß sie sie verdoppelten. Dafür aber ist die Verfremdung eines Bildes durch den Strahl, der durch gemalte Scheiben bricht, kein schlechtes Gleichnis für die Transfiguration guter Verse in einem guten Lied. Valéry gesteht sich denn auch zu, was Goethe nicht Wort haben mochte: seine antimusikalische Haltung wehrt eine bedrohliche Lockung ab, der er dann doch unerschrocken folgt. »Meine ›Ungerechtigkeit‹ gegen die Musik kommt vielleicht von dem Gefühl, eine solche Macht wäre imstande, selbst dem Absurden Leben zu verleihen« (W 63), Sinnzusammenhänge jenseits des rationalen zu stiften: »... habt vor allem keine Eile, an die Schwelle des Sinnes zu gelangen« (K 32). Danach umschreibt Valérys Postulat jener reinen Dichtung, welche den Sinn der Sprache unter sich lasse, die Kriterien eines seiner selbst bewußten Musikers: »Welche Schande, zu schreiben, wenn man nicht weiß, was Sprache, Wort, Metapher sind, Gedankenübergänge und Wechsel im Ton; wenn man die Struktur der zeitlichen Folge eines Werks und die Voraussetzungen für seinen Schluß nicht begreift, kaum das Warum kennt und schon gar nicht das Wie! Die Scham darüber, eine Pythia zu sein ...« (W 166) Die Sehnsucht, daß der Sinn im Vers verschwinde, ist beheimatet in der Musik, die Intentionen kennt nur als untergehende. Das Korrelat dazu bemerkt Valéry an der Sprache: »Wenn der Klang, der Rhythmus dem Sinn zum Bewußtsein kommen, machen sie sich nur für einen Nu geltend: als eine sich im Augenblick aufbrauchende Notwendigkeit, als Hilfsorgan der Sinnbedeutung, die sie herführen, und die sie dann unverzüglich aufzehrt« (K 29)2. Es zeugt für die gegensätzliche Einheit der beiden Medien, daß, wo in der Lyrik musikalische Strukturen die meinende Sprache überflügeln, die Musik strukturell der Prosa sich anähnelt, vor deren Spuren Valéry den Vers schützen möchte. Die Ästhetik des Antimusikalischen klingt zuzeiten wie eine Musikästhetik: »Alle Teile eines Werks müssen ›arbeiten‹.« (W 169) Nicht anders verwendet die musikalische Terminologie den Begriff thematischer Arbeit. Dies bewußtlose Einverständnis Valérys mit der Musik kommt manchmal Werken zugute, die er nie hörte. »In sehr kurzen Werken erreicht die Wirkung des geringsten Details die Größenordnung der Gesamtwirkung« (W 170) – das ist die Physiognomik Anton von Weberns. Dem optisch-kristallinischen Valéry verwandelt am Ende jegliche Kunst sich in die von ihm gefürchtete Musik; nicht bloß ist ihm, wie in Benjamins Jugendwerk, alle Kunst Sprache, sondern es gibt »Schauseiten, Formen, Zustände auch in der Welt des Sichtbaren, die Gesang sind« (K 83). Ihn entdeckt der saugende Blick des Dichters auf Farben und Formen.
Seine diffizile Stellung zur Musik ist aber relevant nicht bloß für die allgemeine Abgrenzung der Künste gegeneinander und ihre Einheit. Ein Fragenkomplex, um den Valéry kreist, rückte heute ins Zentrum des Komponierens: die Beziehung integraler Konstruktion, wie sie den Gedanken der Autonomie des Werks, seine Unabhängigkeit vom je Aufnehmenden zu Ende denkt, zum Zufall. In der Idee des integralen, in sich lückenlos geschlossenen und bloß seiner immanenten Logik verpflichteten Kunstwerks, welche aus der Gesamttendenz der abendländischen Künste zur fortschreitenden Naturbeherrschung, konkret: zur vollkommenen Verfügung über ihr Material folgt, ist etwas ausgelassen. Kunst, die dem zivilisatorisch-rationalen Zug sich einfügt und ihm die historische Entfaltung ihrer Produktivkräfte verdankt, meint doch zugleich auch den Einspruch gegen ihn, das Eingedenken dessen, was in ihm nicht aufgeht und was er eliminiert; eben das Nichtidentische, worauf das Wort Abweichung anspielt. Sie verschmilzt darum nicht bruchlos mit der totalen Rationalität, weil sie dem eigenen Begriff nach Abweichung ist, nur als solche in der rationalen Welt ihr Lebensrecht hat und die Kraft, sich zu behaupten. Wäre sie bloß identisch mit der Rationalität, sie verschwände in dieser und stürbe ab, während sie ihr doch nicht ausweichen darf, wenn sie nicht hilflos Reservate besiedeln will, ohnmächtig gegenüber der unaufhaltsamen Naturbeherrschung und ihren gesellschaftlichen Verlängerungen, und gerade als geduldete erst recht jener hörig. Die ästhetisch aktuelle Figur solcher Paradoxie ist der Zufall, das mit ratio Nichtidentische, Inkommensurable als Moment der Identität selber, einer rationalen Gesetzlichkeit von eigenem Typus, der statistischen, deren Valéry häufig gedenkt. Als Zufall schlägt die sich selbst entfremdete Gestalt der Subjektivität im objektiven Kunstwerk durch, dessen Objektivität nie eine an sich sein kann, sondern durchs Subjekt vermittelt wird, während es keinen unmittelbaren Eingriff des Subjekts mehr dulden möchte. Zugleich bekundet der Zufall die Ohnmacht eines Subjekts, das zu nichtig wurde, um legitimiert zu sein, im Kunstwerk überhaupt unmittelbar noch von sich zu reden. Er negiert das Gesetz der ästhetischen Freiheit zuliebe und bleibt doch in seiner Heteronomie Widerspiel der Freiheit. Das bestätigt Valéry, als spräche er wider den gegenwärtigen Traum total determinierter und vom Subjekt schlechterdings unabhängiger Musik: »In allen Künsten – und darum gerade sind sie ja Künste – kann das Aus-Notwendigkeit-so-geworden-sein, das uns ein glücklich zu Ende gebrachtes Werk glaubhaft machen muß, nur durch einen Akt freier Schöpfung ins Leben gerufen werden. Der Fug und der abschließende Zusammenklang der voneinander unabhängigen Eigenschaften, die es zu verweben gilt, werden nie durch ein Rezept oder einen Automatismus erzielt, sondern durch das Wunder oder schließlich und endlich durch Bemühung – durch Wunder im Verein mit Bemühungen, die ein Wille trägt.« (K 18f.) Darum bleibt nach seinem Willen wie dem der jüngsten Kunst der Zufall gesteuert, der Rationalität des Ganzen unterworfen. Aber er markiert doch auch die Grenze der Rationalität an dem Material, das sie zurichtet; nur ist es von jener schon so ausgelaugt, daß seine Abstraktheit wiederum mit der bloßen Gesetzmäßigkeit, der formalen Einheit des Begriffs, zusammenfällt, der der Zufall opponiert: das Nichtidentische als Identisches. Was der Zufall an Sinnfremdheit in jedes Gebilde hineinträgt, ahmt die des Zeitalters nach; indem er unbeschönigt die Sinnfremdheit der Totale einbekennt, erhebt er Einspruch gegen sie. Die Erfahrungen alles dessen hat Valéry gemacht. Dabei sympathisiert er wie Mallarmé ohne apologetische Vorbehalte, großartig unbekümmert um den Widerspruch zu seiner primären Neigung, mit dem Zufall, obgleich sein ganzes Pathos daher rührt, daß der Geist seiner selbst mächtig werde, indem das Kunstwerk seiner mächtig wird. Die Konstellation beider Momente ist entworfen in dem Essay der Pièces sur l'art über die Würde der künstlerischen Verfahrungsweisen, an denen das Feuer beteiligt ist. »Doch all die Wachsamkeit des erlauchten Handwerkers am Feuerofen, alles, was seine Erfahrung, seine Wissenschaft von der Hitze, den gefährlichen Zuständen, den Temperaturen für die Schmelze und die Reaktion der Stoffe vorauszusehen erlauben, lassen die adelnde Ungewißheit in ihrer Unermeßlichkeit bestehen. Sie alle schaffen den Zufall nicht ab. Seine hohe Kunst bleibt unter der Herrschaft des Wagnisses und wird dadurch gleichsam geheiligt.« (K 12) Was der Notwendigkeit entschlüpft, schlägt er nicht geringer an als diese und vom Zufall erhofft er sich die Indifferenz von beidem. Gerade das sinnfremde Moment des Zufalls, wahrhaft eines Grenzwertes im temps espace, assoziiert er mit dem Bergsonschen temps durée, dem unwillkürlichen Eingedenken als der einzigen Gestalt des Überlebens. Denn in der Anarchie der Geschichte ist dies Eingedenken selbst zufällig: das definiert bei Valéry die Würde des Zufalls. Von einer Keramikausstellung sagt er: »Nichts gleicht dem bis zum heutigen Tage angehäuften Kapital unserer Kenntnisse, unserem Haben im Buche der Geschichte so, wie diese Sammlung von Dingen, die der Zufall uns erhalten hat. All unser Wissen ist wie sie ein Rückstand. Unsere Geschichtsurkunden sind Strandgut, das ein Zeitalter einem anderen überläßt, wie es der Zufall will, und in vollem Durcheinander.« (K 164) Gleichwohl mildert diese Rettung nicht sein Mißtrauen gegen die unmittelbare Zufälligkeit des künstlerischen Produktionsprozesses, gegen das Zu leicht. Der Nachdruck, den er auf widerstrebende Materialien legt, die den Zufall ins Kunstwerk tragen, rührt her von eben diesem Mißtrauen gegen den Zufall bloßer Subjektivität. »Darum befällt in allen Künsten, deren zugeordneter Stoff nicht schon durch sein bloßes So-sein gegenwirkende Widerstände häuft, die wahren Künstler das Gefühl der Gefahren und der Langeweile allzu großer Leichtigkeit des Schaffens.« (K 9f.) Mag der Zufall, als ein dem schaltenden Künstler Entzogenes, mit der freilich heute bereits ein wenig antiquierten Vorstellung vom »Akt freier Schöpfung« unvereinbar sein – ihre Unvereinbarkeit definiert die Frage, wie Kunst überhaupt noch möglich sei.
Valérys Widersprüche insgesamt haben ihre gesellschaftlich-historische Seite. Wie die Essays über die italienische Malerei der Renaissance, zumal Veronese, nach neuromantischer Sitte Herrschaft schlechthin, die große Allüre, die souveräne Verfügung adorieren, die im bürgerlichen Individualismus zur Formlosigkeit zersplittert dünkt, so mag Valéry in den Musikanten windige Leute beargwöhnt haben, deren flüchtige Spektakel so wenig fest, verbindlich, zuverlässig im Raum angesiedelt und der Ordnung immanent sind wie die Herumziehenden selber. Unter seinen Idealen ist nicht das letzte das einer Kunst, die des Vagantentums sich entäußert hätte, ihres wie immer auch sublimierten gesellschaftlichen Odiums, während doch dies Vagantische, der Kontrolle seßhafter Ordnung nicht gänzlich Unterworfene allein der Kunst erlaubt, inmitten von Zivilisation zu überleben. Aber die Lauterkeit eines Gedankens, der von der Ideologie nicht sich fesseln läßt, auf die er vereidigt ist, hält auch vor diesem Motiv nicht inne. Valéry, der als Kind des rationalen Zeitalters die säuberliche Scheidung von Produktion und Reflexion in der Kunst nicht anerkennt, ist viel zu reflektiert, um sich darüber zu täuschen, daß auch solche Künstler, welche die Rücksicht auf den Markt verschmähen, an die prekäre Stellung des Geistes in der herrschaftlichen Gesellschaft gekettet bleiben, der sie noch als opponierende willfahren müssen. Künstler heute sind Intellektuelle, sie mögen es akzeptieren oder nicht, und als solche das, was die Theorie der Gesellschaft dritte Personen nennt: sie leben von abgezweigtem Profit. Während sie selber keine »gesellschaftlich nützliche Arbeit« leisten, nichts zur materiellen Reproduktion des Lebens beitragen, repräsentieren sie allein die Theorie und alles Bewußtsein, das über den blinden Zwang der materiellen Verhältnisse hinausweist; so wehrlos gegen das Mißtrauen des Bestehenden, von dem sie leben, ohne ihm zuverlässig zu dienen, wie gegen das seiner Feinde, denen sie nichts sind als ohnmächtige Agenten der Macht. Sie ziehen darum als neuralgischer Punkt der Gesellschaft den Haß der ganzen Welt auf sich. Nicht aber sind sie durch die abstrakte Anpreisung des Geistes zu verteidigen, sondern einzig dadurch, daß auch ihr Negatives ausgesprochen wird. Erst wenn die ideologische Hülle ihrer eigenen Existenz fällt; erst in der schonungslosen Selbstreflexion, die zugleich eine der Gesellschaft wäre, gelangten sie zu ihrer gesellschaftlichen Wahrheit. Dazu hilft Valéry. Den Makel, der jeden Gedanken befleckt, nimmt Valéry in diesen hinein: »Ohne ihre Schmarotzer, Diebe, Sänger, Mystiker, Tänzer, Helden, Dichter, Philosophen, Geschäftsleute wäre die Menschheit eine Gesellschaft von Tieren; oder nicht einmal eine Gesellschaft: eine Gattung; die Erde wäre ohne Salz.« (W 36) Die gleiche Liste der dritten Personen könnte bei Marx stehen, dessen Namen Valéry kaum über die Lippen gebracht hätte. Auch der Zusammenhang des Geistes und der geistigen Produktion mit dem, was in der Sprache der politischen Ökonomie Zirkulationssphäre heißt, ist ihm nicht fremd. »Wenn ›Handel treiben‹ bedeutet, daß man einkauft, mit der Absicht wiederzuverkaufen, so ist der Künstler oder Autor ein Handelsmann, der nur darum anschaut, reist, liest, ja lebt, um zu produzieren, um seinen Eindruck auf den Markt zu bringen. – Statt für sich selber zu erwerben. – Aber, wer weiß, für sich selber erwerben ist vielleicht sinnlos.« (W 41f.) Der unbestechlich auf der Reinheit des Werkes um seiner selbst willen insistiert, durchschaut zugleich, wie sehr diese Reinheit des ästhetischen An sich einem Für anderes, dem Markt, sich verdankt; wo mesquine Künstler vom Schöpfertum schwafeln und gerade, indem sie es ideologisch anpreisen, des allgemeinen Einverständnisses auf dem Markt sicher sind, gesteht Valéry den paradoxen Zusammenhang des autonomen Werks mit seinem Warencharakter zu. Es wird überhaupt erst zu einem Objektiven, indem der Produzierende nicht unmittelbar zu seinen Erfahrungen ist, sondern diese vergegenständlicht; die sich selbst entfremdete Wahrheit wird zum eingestandenen Modell des absoluten Gebildes. Was sich selbst Ursprünglichkeit und Genius ist, ist gesellschaftlich ein natürliches Monopol. Darauf spielt eine jener witzigen Bemerkungen an, die, laut Nietzsche, das kaum bemerkbare Lächeln erzeugen: »Wie, könnte ein Genie zu sich selber sagen, – so bin ich also ein Kuriosum ... Und was mir so natürlich erscheint, das Bild, das mir da einfiel, ein unmittelbar einleuchtendes Wort, eines, das mich nichts gekostet hat, flüchtiges Ergötzen meines inneren Auges, meines heimlichen Hörens, meiner Stunden, und dann die Zufälle beim Denken und Reden ... machen sie aus mir ein Ungeheuer? – Seltsam ist meine Seltsamkeit. So wäre ich nur eine Rarität? Und ohne daß ich mich im geringsten zu ändern brauchte, genügten hunderttausend meinesgleichen, und ich würde nicht mehr auffallen ... Und bei einer Million wäre ich gar irgendein Trottel ... Ein Millionstel meines früheren Wertes ...« (W 68f.) Derlei Erwägungen kulminieren in einer erstaunlichen Gleichung von Geist, Selbstentfremdung und Warencharakter: »Je ›bewußter‹ ein Bewußtsein ist, desto mehr scheinen ihm seine Person, seine Meinungen, seine Taten, seine Eigenheiten und seine Gefühle befremdlich, – fremd. So neigt es dazu, über seinen eigensten und persönlichsten Besitz als über etwas Äußeres und Zufälliges zu verfügen.« (W 146) Eine selbstzerstörerische Spitze ist dabei unverkennbar. Anti-intellektuelle Motive fehlen neben exponierten Rettungen des Anfälligsten am Geist so wenig wie bei Nietzsche. Stimmgeräusche aus der Ära des Vorfaschismus lassen sich vernehmen: »Das Geschäft der Intellektuellen ist es, mittels Zeichen, Namen, Symbolen alles aufzurühren, ohne das Gegengewicht wirklicher Handlungen. Das macht ihre Reden verblüffend, ihre Politik gefährlich, ihr Vergnügen oberflächlich. Es sind soziale Reizmittel, mit den Vorteilen und Gefahren aller Reizmittel.« (W 37) Aber wo Valérys spezifische Erfahrung sitzt, in der künstlerischen Produktion, gewährt er derlei Flausen keinen Raum. Intuition, der Markenartikel der Anti-Intellektuellen, kommt bei ihm schlecht weg. Er polarisiert sie in die Extreme von Bewußtsein und Zufall und heftet spottend den gelben Fleck der dritten Personen gerade an die offiziell Begnadeten: »Unerträglich ist oder sollte den Dichtern die Vorstellung sein, wonach sie das Beste ihrer Werke von erdichteten Mächten empfangen haben. Mittelsmänner – eine demütigende Auffassung. Ich, für mein Teil, will davon nichts wissen. Ich berufe mich nur auf den Zufall, der allen Menschen zugrunde liegt; und dann auf eine zähe Arbeit, die gegen eben diesen Zufall wirkt.« (W 95)
Was in solchen Modellen sich zuspitzt, aber insgesamt den Rhythmus von Valérys denkender Bewegung definiert, wäre, nach dem Brauchtum der offiziellen Philosophiegeschichte, der Widerstreit von rationalistischen und irrationalistischen Motiven. Ihr Stellenwert in Frankreich jedoch ist umgekehrt als in Deutschland. Hier ist man gewohnt, den Rationalismus dem Fortschritt zuzurechnen und den Irrationalismus, als romantisches Erbe, der Restauration. Bei Valéry aber ist das traditionale Moment eins mit dem Cartesianisch-rationalistischen, und irrationalistisch die Selbstkritik des Cartesianismus. Das rational-konservative Moment bei Valéry ist das herrisch-zivilisatorische, die deklarierte Verfügung des autonomen Ichs übers Unbewußte. »Die Träume abschütteln, die Schlacken, die Dinge, denen Abwesenheit und Nachlässigkeit erlaubt hat, zuzunehmen und sich breit zu machen; die Naturprodukte, Unrat, Irrtümer, Torheiten, Schrecken, Bedrängnisse. Die Tiere kriechen wieder in ihr Loch. Der Meister kehrt von der Reise zurück. Der Hexenspuk ist gestört. Weggang und Rückkehr.« (W 17) Nach wie vor wird solche Herrschaft Cartesianisch gerechtfertigt durch clara et distincta perceptio. Valérys Zweifel noch an den bündigen Antworten, Ferment seiner irrationalen Abweichungen, mißt sich an jener Bündigkeit: »Aber unsere richtigen Antworten sind überaus selten. Die meisten sind schwach oder nichtig. Wir spüren das so genau, daß wir uns zuletzt gegen unsere Fragen wenden. Damit aber sollte man gerade beginnen. Man sollte eine Frage in sich ausbilden, die allen andern vorausgeht und jede auf ihren Wert hin befragt.« (W 70) Der Cartesianismus überschlägt sich kraft seines eigenen methodischen Motors, des Zweifels: »Ich stelle mir oft einen Menschen vor, dem alles zur Verfügung stände, was wir an genauen Verfahren und Vorschriften kennen, dem aber alle Begriffe und Bezeichnungen unbekannt wären, die keine klaren Vorstellungen erwecken, die nicht zu einheitlichen und wiederholbaren Handlungen führen. Er hat nie von Geist, von Denken, von Substanz reden hören, nie von Freiheit und Willen, von Zeit und Raum, von Kräften, von Leben, Instinkt, Gedächtnis, Ursache, von Göttern, nie von Moral, nie von Ursprüngen; kurz: er weiß alles, was wir wissen und kennt nicht, was uns unbekannt ist, aber er kennt nicht einmal die Namen davon. So setze ich ihn den Schwierigkeiten aus und den Gefühlen, die sich aus ihnen ergeben; so lasse ich ihn entstehen. Jetzt setze ich ihn in Bewegung und liefere ihn den Umständen aus.« (W 148f.) Das Beharren auf der Forderung des absolut Gewissen endet im Offenen, nach Descartes' Kriterien Ungewissen. Das sum cogitans wird der Zufälligkeit seiner bloßen Existenz überführt, auf die bei jenem nicht reflektiert war und die den Meditationen den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Ausdrücklich wird daraus die volle erkenntnistheoretische Konsequenz gezogen, die der Nichtidentität des Seienden mit seinem Begriff: »Die kleinen, unerklärten Fakten enthalten in sich immer genug, um alle Erklärungen der großen Fakten zu entkräften.« (W 140) Valéry bringt den Rationalismusstreit, ohne Entscheidung sich anzumaßen, auf die mathematisch elegante Formel: »Was nicht festgehalten wird, ist nichts. Was festgehalten wird, ist tot.« (W 112) Darf etwas den Namen von Philosophie überhaupt noch beanspruchen, dann solche Antithesen. Indem sie unversöhnt stehenbleiben, drückt der Gedanke die eigene Grenze aus: die Nichtidentität des Gegenstandes mit seinem Begriff, der ebenso jene Identität fordern, wie ihre Unmöglichkeit begreifen muß.
Auch der Rationalismusstreit hat bei Valéry seine geschichts-philosophische Dimension, die einer Dialektik der Aufklärung. Von ihr hat er ein Zentrales gewahrt, das Heraufkommen eines bloß noch instrumentellen Denkens, den Triumph subjektiver über objektive Vernunft vermöge des Fortschritts von Rationalität als solcher: »Hinzu kommt, daß die Ideen, selbst die grundlegenden, allmählich den Charakter von Wesenheiten verlieren und zu Werkzeugen werden.« (W 38) Er zögert nicht vor der Folgerung, daß damit die entfesselte Vernunft sich gegen sich selbst wendet: »Die Wissenschaft hat das Gewissen der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes zerstört.« (a.a.O.) Den Schauder, der ihn befällt, hat seitdem das Grauen der Praxis schon überboten: »Mit dem Einwand des gesunden Menschenverstandes weicht der Mensch vor dem Unmenschlichen zurück, denn im gesunden Menschenverstand liegt nichts als der Mensch, seine Vorfahren, die Maßstäbe des Menschen und die menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen. Doch die Forschung und selbst die Mächte rücken vom Menschen ab. Die Menschheit wird sich daraus retten, so gut sie kann. Die Unmenschlichkeit hat vielleicht eine große Zukunft.« (W 39) Die Verschränktheit der losgelassenen subjektiven Rationalität und der Selbstentfremdung des Subjekts ist ihm so wenig entgangen wie der Zusammenhang dieser Tendenz mit der totalitären: »Eine zu genaue Vorstellung vom Menschen, eine zu deutliche Wahrnehmung seines Mechanismus, das vollständige Fehlen von Aberglauben in menschlichen Dingen, die kategorische Weigerung, den Menschen als Ding an sich, als sein eigenes Ziel zu betrachten, eine zu statistische Sicht der Lebenden, eine zu genaue Voraussicht ihrer Reaktionen, der heute schon feststehenden Wandlungen und Rückfälle, die ihre Gefühle in einigen Wochen oder Jahren erfahren werden, ein zu starkes Gefühl für Ordnung und für das Staatsideal – all dies ist an der Spitze vielleicht nicht am richtigen Platz. Wenn der Verstand herrschen sollte? ...« (W 100f.) Vom neuen Staatsideal redet er in Gleichnissen wie Karl Kraus: »Der Staat ist ein riesengroßes, furchtbares und schwaches Wesen. Ein Zyklop von berüchtigter Kraft und Ungeschicklichkeit, das mißgestaltete Kind der Gewalt und des Rechts, die es aus ihren Widersprüchen gezeugt haben. Er lebt nur dank den unzähligen Männlein, die linkisch seine trägen Hände und Füße bewegen, und sein großes Glasauge sieht nur Pfennige und Milliarden. Der Staat ist jedermanns Freund und jedes Einzelnen Feind.« (W 100)
So heikel steht es um Valérys Konservativismus. Bei aller Aversion gegen die verwaltete Welt verschmäht er es, hinter Invektiven gegen Dekadenz und Perversion sich zu verschanzen. Was der Vernunft, den Menschen als deren Trägern, dem Subjekt widerfährt, ist ihr eigenes Prinzip: »Das Denken ist brutal, es kennt keine Schonungen. Was ist brutaler als ein Gedanke?« (W 109), oder gar: »Das Gemeinste auf der Welt, ist es nicht der Geist? Der Körper weicht vor Schmutz und Untat zurück. Der Geist rührt gleich einer Fliege an alles. Weder Abscheu noch Ekel, weder Bedauern noch Reue stammen von ihm; sie sind ihm nur ein Gegenstand der Neugier. Die Gefahr spricht ihn an, und wäre der Körper nicht so mächtig, der Geist führte ihn mit einer Art Torheit und einer absurden und drängenden Gier nach Erkenntnis ins Feuer.« (W 144) Reiner Geist beichtet in Valéry die eigene Unwahrheit. Seine Komplizität mit dem Abscheulichen ist aber nichts anderes als die Erbschaft der Gewalt, die er seit Jahrtausenden all dem widerfahren läßt, was ist, indem er es dem Prinzip seiner eigenen Selbsterhaltung unterwirft. Bei Valéry ist Geist gestählt genug, um seinem Geheimnis ins Auge zu sehen.
Dem, der soviel riskiert, ist auch die Kunst nicht tabu. Als vergeistigte ist sie in Fortschritt und Wissenschaft zum Guten und zum Unheil verstrickt. »Es gibt in allen Künsten einen Naturgesetzen unterworfenen Bereich, den man nicht mehr betrachten und behandeln kann wie ehedem: es ist nicht möglich, ihn den Unternehmungen des Erkenntnisvermögens und der Schaffenskraft von heute vorzuenthalten.« (K 46) Valérys Stolz richtet in keinem Elba von Irrationalität wie in einem Fürstentum sich ein: »Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind in den letzten zwanzig Jahren geblieben, was sie vordem seit jeher waren. Man muß damit rechnen, daß so bedeutsame Neuerungen die ganze Technik der Künste umwandeln, damit auf den schöpferischen Vorgang selbst wirken – so sehr, daß sie vielleicht in erstaunlicher Weise bestimmen könnten, was künftig unter Kunst zu verstehen sein wird.« (a.a.O.) Der Erzfeind des Naturalismus schont nicht die Romantiker: »Ihr Geist suchte sich eine Fluchtburg in einem Mittelalter, das sie sich zurechtmachten; an der Esse des Alchimisten brachten sie sich vor dem Chemiker in Sicherheit. Wohl fühlten sie sich nur in der Welt der Sage oder der Geschichte, das heißt bei den Gegenfüßlern der Physik. Sie retteten sich vor den Bedingtheiten eines durch die Mechanismen der Gesellschaft geprägten Daseins durch die Flucht in die Leidenschaft und die Wallungen des Gemüts, deren Pflege und Ausbeutung sie zu einer Institution ausbauten (und sogar zu einer Komödie). Auf die Vergötzung des Fortschritts antwortete man mit der Vergötzung der Verdammung des Fortschritts; das war alles und ergab zwei Gemeinplätze.« (K 118f.) Freilich gelangt in dem fast Max Weberschen Gestus, mit dem der Artist für die Rationalität der Kunst Partei nimmt, das reaktionäre Element nach oben als Einverständnis mit Entwicklungen, deren Träger bis heute die Kulturindustrie war. Wahr ist, daß der Geist und was ihm nicht gleicht in der Kunst von Anbeginn sich verbanden und dichter stets sich durchdrangen: »Nun hat der Gang der Zeit, oder, wenn man lieber will, der Dämon der unverhofften Verkettungen (jener, der aus dem, was ist, die überraschendsten Folgerungen zieht und münzt und daraus zusammenbraut, was sein wird), sich damit vergnügt, zwei einstmals genau entgegengesetzte Begriffe in wunderlicher Weise durcheinander zu werfen.« (K 120) Definiert aber Valéry jene »Begriffe« als »das Wunderbare und das Gegebene« (a.a.O.) und hofft er darauf, »daß diese beiden Feinde von ehedem sich verschworen haben, um unsere Lebensordnungen in eine unbegrenzte Abfolge von Wandlungen und Überraschungen zu verwickeln« (a.a.O.), so ähnelt dies Vertrauen allzusehr der Begeisterung von Poeten für die Möglichkeiten des Visionären, die der Film eröffnen werde. Die Übermacht der mechanischen Massenmedien verschlägt manchmal selbst Valéry den Gedanken, ob der Fortschritt der rationalen Naturbeherrschung nicht in Ideologie sich verkehrt, wenn er ausgespitzt als Kunst Zauber destilliert. Auch Valéry zollt einem Zeitalter Tribut, in welchem das positivistisch »Gegebene«, von dessen Kultus seine Meditationen mehr als bloß die Spur tragen, mit der Verzauberung der Welt mühelos übereinkommt: die Übermacht dessen, was der Fall ist, wird ihr zur magischen Aura.
Valéry ist nicht blind gegen die Untaten der Kulturindustrie und ihren gesellschaftlichen Grund: »Von der Herstellung der Wunderwelt-Fabriken leben Tausende und Abertausende von Menschen. Der Künstler jedoch hat an dieser Herstellung von Wunderdingen keinerlei Anteil genommen. Sie ist Tochter der Wissenschaft und des Kapitals. Der Bürger hat sein Geld in Traumfabriken angelegt und spekuliert auf den Untergang des gesunden Menschenverstandes.« (K 121) Aber die Kritik bleibt zweideutig. Sie wappnet Valéry nicht gegen eine Banalität, wie sie ihm sonst als Index des Unwahren gilt: »Schließlich sind dann fast alle Träume, die die Menschheit geträumt hatte und die in unseren Märchen verschiedenster Ordnung ihren Niederschlag gefunden haben, nunmehr aus dem Gehege des Unmöglichen und des Gedachten herausgetreten.« (a.a.O.) Er vergißt hinzuzufügen, daß, wie in den Märchen selbst, bis heute die Erfüllung der Wünsche einer Menschheit nicht zum Segen geriet, die inmitten aller utopischen Abschlagszahlungen im Bann von Versagung verharrt. Valéry meint: »Ludwig XIV. hat auf dem Gipfel seiner Macht nicht den hundertsten Teil der Macht über die Natur und die Mittel besessen, sich ein Vergnügen zu verschaffen, seinen Geist zu bilden oder ihm Erlebnisse zu bieten, die heutzutage so vielen Menschen recht mittelmäßigen Herkommens zu Gebote stehen.« (a.a.O.) Derlei Vergleiche sind prekär. Was in verschiedenen Zeiten Glück war, läßt kaum sich vergleichen. Aber man möchte doch glauben, daß die Lust des Roi Soleil die vor dem Fernsehschirm einigermaßen übertraf. 1928, als Valéry jene Gedanken niederschrieb, mochte in Europa noch nicht abzusehen gewesen sein, wohin es mit der Konsumentenkultur hinauswollte. Sicherlich hat seitdem der Weltlauf Valéry widerlegt, wenn er den »Menschen unserer Zeit« verherrlicht, der hinfliegen kann, wohin er will, sich »jeden Abend in einem Palaste zum Schlafe« (K 122) niederlegt, sich hundert Lebensformen zu eigen machen könne und in einem jeden Augenblick in einen glücklichen Menschen sich verwandeln. Denn die hundert Lebensformen verstecken nicht länger das Skelett ihrer standardisierten Einheit. Sie sind auch gar nicht das einheimische Reich dessen, dem sie aufgezwungen werden; sein Glück ist bloß dessen subjektives Zerrbild und vielfach nicht einmal das. So preiswert war die Einheit von Kunst und Wissenschaft nicht zu haben, wie Valéry sardonisch es ausmalt. Freilich betrachtete er als Modelle rationaler Kunst wohl eher die technischen Utopien von Futuristen und Konstruktivisten als das juste milieu von Radio und Kino. »Ein schönes Buch ist vor allem eine vollkommene Lesemaschine, deren Bedingtheiten recht genau durch die Gesetze und Methoden der physiologischen Optik bestimmt werden können; gleichzeitig ist es ein Kunstgegenstand, ein Ding.« (K 21) Klee taufte ein berühmtes Bild ›Zwitschermaschine‹.
Um so unbestechlicher hat Valéry visiert, was die jüngsten Entwicklungen für die traditionellen Kulturgüter bedeuten: »Geben wir doch zu, daß wir nur noch aus Pflichtgefühl bewundern, was uns zwingt, der Vielschichtigkeit des Vorwurfs, den scharfen Bedingungen, denen ein Künstler sich unterworfen hat, unsere Achtung zu zollen.« (K 98) Denn »alle Werke vergehen« (W 92). Anstatt den Verfall der traditionellen Werke larmoyant zu beklagen, läßt er von der eigenen Erfahrung dessen Unausweichlichkeit sich mitteilen. Genug vom fin de siécle dauerte in ihm fort, um ihn vor Krokodilstränen über den Verlust der Mitte durch die Moderne zu behüten: »All das – ich habe es gesagt – ist nur durch das Vorangehen einiger Männer vom ersten Range möglich geworden. Nur solche sind es, die je und je die Wege bahnen: um einen Verfall einzuleiten, bedarf es nicht geringeren Könnens als erforderlich ist, um etwas seinen möglichen Höhepunkten zuzuführen.« (K 103) Jener Verfall, der der Werke selbst wie ihrer Rezeption, ist objektiv diktiert durchs Schrumpfen historischen Bewußtseins, des Sinnes für Kontinuität überhaupt. Valéry gibt davon wohl als der erste, vor Huxleys Brave New World, Rechenschaft: »Angenommen, die maßlose Umwandlung, deren Zeugen wir sind, die wir erleben und die uns umtreibt, entwickle sich weiter, richte vollends zugrunde, was noch an Bräuchen übriggeblieben ist, bringe Bedürfnisse und Mittel des Lebens in völlig anderen Fug – dann wird das zu etwas ganz Neuem gewordene Zeitalter bald Menschen in seinem Schoße austragen, die durch keinerlei Gewöhnung des Geistes mehr mit der Vergangenheit verbunden sein werden. Die Geschichtsbücher werden ihnen Berichte zur Verfügung stellen, die ihnen fremd, ja unverständlich vorkommen werden, denn für kein Ding ihrer Zeit wird die Vergangenheit ein Musterbild gestellt haben, und nichts aus der Vergangenheit wird in ihre Gegenwart hinein überleben.« (K 123) Zugestanden wird, daß Kultur die heraufziehende Barbarei verdiente. Als schuldhaft entblößt sie sich durch ihre beginnende Komik: »So ist es eine der sichersten und grausamsten Wirkungen des Fortschritts, daß er dem Tod eine Nebenstrafe beigibt, die sich in dem Maße, in dem der Umsturz der Bräuche und der Denkbilder deutlichere Formen annimmt und sich überstürzt, ganz von selber immer weiter verschärft. Es war nicht genug zu vergehen: man muß darüber hinaus unverständlich, ja lächerlich werden, und – möge man Racine oder Bossuet gewesen sein – seinen Platz bei den wunderlichen, buntscheckigen, tätowierten, dem Grinsen preisgegebenen und ein wenig grauslichen Gestalten einnehmen, die in den Galerien umherstehen und übergangslos an die zu Menschen erklärten Endprodukte der Stammesgeschichte des Tierreichs anschließen ...« (K 124) Was die Kultur ereilt, enthüllt sie als das, worüber sie noch nicht hinauskam, bloße Naturgeschichte. Valéry verifiziert den Satz Kafkas, ein Fortschritt habe noch gar nicht angefangen.
Das wirft Licht auf seine Lehre von der Zeit. Sie weist unmittelbar auf Baudelaire zurück, den Kultus des Todes als le Nouveau, als des schlechthin Unbekannten, der einzigen Zuflucht des spleen, der die Vergangenheit verlor und dem der Fortschritt den Makel der Immergleichheit trägt. Mit Kierkegaardscher Paradoxie vermummt die Utopie sich in das X: »Man rettet sich in das Unbekannte. Man verbirgt sich in ihm vor dem Bekannten. Das Unbekannte ist die Hoffnung der Hoffnung. Im Unbestimmten hätte das Denken ein Ende. Die Hoffnung ist jener innerste Akt, der Unwissenheit schafft, die Mauer zur Wolke wandelt, – und kein Skeptiker, kein Zweifler zerstört Urteil und Vernunft, Evidenz und Wahrscheinlichkeit, wie dieser rasende Dämon Hoffnung.« (W 27) Aber noch diese wolkige Stelle wird von Valéry zerdacht. Er bestimmt sie als Augenblick, als einzig Erfülltes; als das Differential, das die verlorene Vergangenheit und die hoffnungslose Zukunft um ein Geringes überragt. Valérys Passion für den Impressionismus gilt der Verewigung des Augenblicks in künstlerischen Verfahrungsweisen, die zur obersten Tugend des Geistes Geistesgegenwart erheben: »Das Genie hängt an einem Augenblick. Liebe entsteht auf einen Blick; und ein Blick genügt, ewigen Haß zu erzeugen. Und wir sind nichts, wenn wir nicht imstande waren und imstande wären, einen Augenblick außer uns zu sein.« (W 28) Das äußerste Gegenbild dieser Idee ist der bürgerliche Begriff der abstrakten Arbeitszeit, nach der die Waren sich tauschen lassen. Idiosynkratisch sträubt Valéry sich gegen das Heraufdämmern eines Zeitalters ohne Zeit: »Die Meinung ›Zeit ist Geld‹ ist der Gipfel der Gemeinheit. Zeit ist Reifung, Einteilung, Ordnung, Vollendung. Die Zeit schafft den Wein und die Güte des Weins, solcher Weine, die sich langsam verändern und die man trinken soll, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, wie eine Frau eines bestimmten Typus ihr Alter hat, das man abwarten muß, oder nicht verpassen darf, um sie zu lieben. Dieselben großen Nationen, denen der verfeinerte Sinn fehlt für die reiche Zusammensetzung der Weine, für das verborgene Gleichgewicht ihrer Qualitäten, für die Jahre, die sie brauchen und für die, die für sie ausreichen, haben auch jene unmenschliche ›Zeitgleichung‹ eingeführt und der Welt aufgenötigt. Ihnen fehlt auch der Sinn für Frauen und für die Nuancen der Frauen.« (W 28f.) Eindringlicheres ist selten zur Verteidigung des verurteilten Europa gesagt worden. Zeitbewußtsein konstituiert sich zwischen den Polen der Dauer und des hic et nunc; was droht, kennt beides nicht mehr, die Dauer wird kassiert, das Jetzt vertauschbar, fungibel. Dem wirft Valéry, Enkel von Baudelaires vieux capitaine, als heroisch Scheiternder sich entgegen: »Der Geist verabscheut die unendliche Wiederkehr, und nun grüßen ihn die Wellen, die untergehen werden, den ganzen Tag ...« (W 81) Solchem Geist wird Sonnenuntergang zur Baudelaireschen Allegorie seines eigenen: »Das Gefühl einer Enthauptung liegt in der Tiefe, die dieser Dauer innewohnt. Langsam fällt das Haupt dieses Tages. Die Scheibe ertrinkt.« (a.a.O.)
Todverfallener Geist sympathisiert mit dem Stofflichen, nicht selber Geistigen mitten im Geist. In einem Materialismus zweiten Grades trifft Valéry sich mit Walter Benjamin, dessen Ästhetik mehr wohl von ihm lernte als von irgendeinem anderen. Ihm sind die Stoffe Gegengift gegen den sich selbst zerstörenden Geist, den er ohnehin, wie Nietzsche, als »Schallverstärker« beargwöhnt, der Erfahrung durch Steigerung fälsche. Einer verwegenen Meditation sind Stoffe, Brot und Wein, Bedingungen der Logosreligion, des Christentums: »Wo Brot und Wein selten sind oder gar fehlen, wirkt die Religion, die sie heiligt, entwurzelt, wie eine Fremde, die nur von ungewohnten, fernher kommenden Speisen leben kann. Im Lande des Reises, der Bataten, der Bananen, des Biers, der sauren Milch und des klaren Wassers sind Brot und Wein exotische Produkte, und die heilige Handlung, die auf dem Eßtisch das Einfachste ergreift, um es zum Erhabensten zu machen, ist dem Leben entfremdet, dessen Hunger nach Übersinnlichem sie in Gestalt dessen stillen wollte, was das Leben physisch erneuert und verlängert.« (W 30) Er rührt damit an ein Moment der unwiderstehlichen Auflösung von innen her, das der Enthusiasmus für Bindungen eifrig übertäubt: daß der Gehalt des Christentums so wenig wie der der anderen großen Religionen isoliert werden kann von Sachgehalten des Lebens, die geschichtlich dahin sind. Sagt es von allem Stofflichen, in Raum und Zeit Bestimmten sich los, wird es reiner Geist, überantwortet es sich wahrhaft der Entmythologisierung: dann zieht es sich nicht nur die Autorität unter den eigenen Füßen weg, sondern verflüchtigt sich, durch bloße Symbolik hindurch, schließlich in Menschliches und büßt jene Substantialität ein, vor deren Schrumpfen durch die liberale Theologie die dialektische warnte, ohne doch den Prozeß aufhalten zu können. Daß Valéry, der Ästhetiker, all das verschweigt, steigert bloß die Spannkraft von Denkmodellen wie dem von Brot und Wein. Das Stoffliche ehrt er als die Schicht, in der allein der künstlerische Geist seiner selbst mächtig wird. Je tiefer dieser produzierend in das sich versenkt, woran er sich abarbeitet, je mehr seine eigene Form dem sich anbildet, was ihm widerstrebt, um so höher erhebt er sich selber: »Dichter ist, wer durch die eigentümliche Schwierigkeit seiner Kunst auf Einfälle kommt – und der ist es nicht, bei dem sie ihretwegen ausbleiben.« (W 46) Gerade der spirituelle Artist hat die Naivetät verloren, in der Kunst irgend etwas zu tolerieren, was nicht auswendig geworden wäre; Pathos der Objektivation und Sympathie mit dem Stoff werden eines. Mit dem Gestus des Justament nimmt er im Gedicht lieber fürs Schriftbild Partei als für den Sinnzusammenhang: »Der Geist des Schriftstellers blickt sich im Spiegel an, den ihm die Druckerpresse liefert.« (K 21; vgl. K 17) Dabei glorifiziert Valéry, der Anti-Idealist, keineswegs die Stoffe Fichteanisch als Vehikel des Geistes, um sie damit wiederum zu erniedrigen. Trauernd vielmehr spricht er ihnen den Sieg zu, den Geist bloß usurpiert. So ephemer ist er, daß alle Artefakte Opfer der zerstörenden Gewalt der Stoffe ebenso wie der eigenen Insuffizienz werden: »Bücher haben dieselben Feinde wie der Mensch: das Feuer, die Feuchtigkeit, Tiere, die Zeit – und den eigenen Inhalt.« (W 161) Solche Trauer macht jedoch insgeheim gemeinsame Sache mit der Hinfälligkeit. Geist wird zum Geist erst, wo er der eigenen Naturwüchsigkeit innewird: »Die einen Denker haben das Verdienst klar zu sehen, was alle übrigen undeutlich sehen; die andern, undeutlich zu sehen, was noch keiner sieht. Sehr selten findet man diese Verdienste vereint. Die einen werden schließlich von jedermann eingeholt. Die andern gehen in diesen auf oder werden völlig vernichtet, spurlos und für immer. Die einen verschwinden in der Menge, in der sie sich auflösen; die andern in diesen oder einfach in der Zeit. Das ist das Los der Denker.« (W 65) Es zu denken, anstatt mitleidlos von Essen und Trinken sich loszureißen, wäre ihre humane Freiheit. Dies Äußerste spricht Valéry epigrammatisch, als Witz aus in Betrachtungen über die Töpferkunst: »Eine bestimmte Gattung der Dichtkunst könnte es darauf anlegen, vom Grunde unserer Teller abgelesen zu werden.« (K 162)
Für Valérys ästhetische Erfahrung bewähren Kraft und Spontaneität des Subjekts sich nicht in seiner Bekundung sondern, Hegelisch, in seiner Entäußerung: je gründlicher das Gebilde vom Subjekt sich ablöst, desto mehr hat das Subjekt darin vollbracht. »Ein Werk dauert gerade insofern es ganz anders zu erscheinen vermag, als es sein Verfasser geplant hat.« (W 175) Schneidend kritisiert Valéry, was zu schwach ist, sich zu objektivieren, die bloßen Intentionen; was immer Dichter sich bei Werken denken oder in Werke legen, ohne daß es von ihnen sich emanzipierte und zu einem an sich Beredten und Verbindlichen würde. »Wenn ein Werk erschienen ist, hat die Deutung, die ihm sein Verfasser gibt, nicht mehr Gewicht als die eines andern ... Meine Absicht ist nur meine Absicht, und das Werk ist das Werk.« (W 171) Er, in dem das dichterische Vermögen und das philosophische sich wie kaum bei einem anderen wechselseitig produzierten, haßte die »philosophischen Dichter«, die »einen Maler von Seestücken mit einem Schiffskapitän verwechseln« (W 61); »in Versen philosophieren hieß und heißt immer noch, nach den Regeln des Damespiels Schach spielen zu wollen« (W 92). Seine Selbstreflexion der Kunstwerke wird kontrapunktiert von dem, was am schwersten begreift, der jene von außen betritt: daß sie nicht ihrem Autor gehören, nicht wesentlich dessen Abbild sind, sondern daß er mit dem ersten Zug der Konzeption an diese und sein Material gebunden ist, zum Vollzugsorgan dessen wird, was das Gebilde will: »Ganz andere Kräfte als ein ›Verfasser‹ arbeiten an einem Werk.« (W 48) Künstlerische Produktivkraft ist die der Selbstauslöschung. »Wir schreiben immer, selbst in der Prosa, notwendig solches, was wir nicht schreiben wollten. Was wir wollten, will es.« (W 167) Schließlich wird das Convenu vom schöpferischen Künstler antithetisch berichtigt: »Das Werk verändert den Autor. Bei jeder Bewegung, die es aus ihm herausholt, erfährt er eine Veränderung. Ist es vollendet, wirkt es nochmals auf ihn. Er wird dann, zum Beispiel, derjenige, der fähig war, es zu erzeugen. Hinterher wird er irgendwie zum Erbauer des verwirklichten Ganzen – das ein Mythus ist.« (W 90) Verschlüsselt ist damit erreicht, daß das ästhetische Subjekt nicht das produzierende Individuum in seiner Zufälligkeit ist sondern ein latentes gesellschaftliches, als dessen Stellvertreter der einzelne Künstler agiert. Daher Valérys Verachtung für die Lehren von der Inspiration: ihm ist das Werk kein dem Subjekt als Privateigentum Geschenktes sondern ein Forderndes, das ihm Glück verweigert und es zu unbegrenzter Anstrengung anspornt. Einen großen Künstler läßt er von seinem Werk sagen: »... die unmittelbare Gesamtwirkung, die plötzliche Erschütterung, die Entdeckung und am Ende die Geburt des Ganzen, die vielfältige Stimmung, all dies ist mir verwehrt, all dies ist nur für die Menschen, die dieses Werk nicht kennen, die nicht mit ihm zusammengelebt haben, die nichts ahnen von langsamen Tastversuchen, von Widerwillen und Zerfall ... die nur einen großartigen Plan auf einmal erfüllt sehen.« (W 90f.) Als Geburtshelfer solcher Objektivität ist der Künstler das Gegenteil dessen, wozu die bürgerliche Kunstreligion ihn stilisiert: »Jeder Dichter wird schließlich soviel taugen, wie er als Kritiker (seiner selbst) getaugt hat.« (W 126) Implizit erteilt das dem ästhetischen Relativismus Bescheid. Die Objektivität der Kunst, die von der Gestalt des Problems vorgezeichnet ist und nicht von der Intention des Autors, zeitigt jeweils verbindliche Maßstäbe, ohne daß diese doch auf abstrakte Regeln, auf apriorische Kategorien zu bringen wären: »Das Ziel der Malerei ist unbestimmt.« (W 117) Der Valérysche Künstler ist ein Bergmann ohne Licht, aber die Schächte und Stollen seines Baus schreiben ihm im Dunkeln seine Bewegung vor: der Künstler als Kritiker seiner selbst ist bei Valéry der, welcher »ohne Maßstäbe« urteilt (K 36). Indem der Produktionsprozeß zu dem der Reflexion auf das wird, was das sich entäußernde Werk von seinem Urheber ebenso wie vom Rezipierenden will, legitimiert sich das Denken über Kunst, dessen Fusion mit dem künstlerischen Prozeß bei Valéry das Normalbewußtsein permanent herausfordert. Das Werk entfaltet sich in Wort und Gedanken; Kommentar und Kritik sind ihm notwendig: »Alle Künste leben von Worten. Jedes Kunstwerk verlangt, daß man ihm antworte; und zu dem, was den Menschen treibt, Werke zu schaffen, gehört ebenso wie zu den Geschöpfen dieses absonderlichen Instinkts untrennbar eine ›Literatur‹, sei diese nun zu Papier gebracht oder nicht, entspringe sie der Unmittelbarkeit des Erlebens oder denkerisch bewältigter Verinnerlichung.« (K 72) Was für divergent gilt, ästhetische Irrationalität und ästhetische Theorie, erkennt Valéry, geschichtsphilosophisch, in seiner Einheit: »Dies veranlaßt mich, darauf aufmerksam zu machen, daß die Künstler, die versucht haben, aus den Mitteln, die ihnen eigneten, die kräftigste Wirkung auf die Sinne herauszuholen; die von der Eindringlichkeit, den Kontrasten, dem Mitschwingenlassen, den Klangwirkungen einen Gebrauch gemacht haben, der an Mißbrauch grenzt; die die schärfsten Reize mischten, die auf die Tiefenschichten des Empfindungsvermögens und ihre Allgewalt, die auf die irrationalen Entsprechungen der oberen Nervenzentren mit dem Vagus und dem Sympathikus setzten – unsere unbeschränkten Herren –, daß diese Künstler zugleich die ›intellektuellsten‹, am meisten theoretisierenden, am eifrigsten auf Gesetze der Ästhetik versessen gewesen sind. Delacroix, Wagner, Baudelaire – insgesamt sind sie große Theoretiker, insgesamt sind sie darauf aus, die Seelen auf dem Wege über die Sinne in ihre Gewalt zu bekommen.« (K 75) Organon dieser Einheit ist die künstlerische Technik, die über die unwillkürliche Regung und das heteronome Material gleichermaßen verfügt. »Der Künstler hat ... durch sein ›Handwerk‹ und seiner Art gemäß darzutun, was er will und was er denkt.« (K 180) Der schwere Akzent, den bei Valéry das Werk trägt, die Absage an die Dichtung als Erlebnis, richtet schließlich auch das ideologische Bedürfnis von Kunden, Kunst müsse ihnen etwas geben. Valérys Humanismus denunziert den vulgären Anspruch, Kunst solle menschlich sein: »Gewisse Leute glauben, die Lebensdauer eines Werks hänge von seiner ›Menschlichkeit‹ ab. Sie bemühen sich, wahr zu sein. Doch welche Werke sind älter als Wundergeschichten? Das Falsche und das Wunderbare ist menschlicher als der wahre Mensch.« (W 124) Der Abhebung des objektivierten Kunstwerks von der menschlichen Unmittelbarkeit verdankt Valéry eine bedeutende Einsicht, die er mit Benjamin abermals teilt, bei dem sie in der Kritik der Goetheschen Wahlverwandtschaften in metaphysischem Zusammenhang auftritt: daß die Kunst zur Darstellung des Moralischen überhaupt nicht und kaum zur Psychologie fähig ist; von all dem zu reden, wäre Valéry zufolge so sinnvoll, wie wenn man Betrachtungen über die Leber der Venus von Milo anstellen wollte (W 61). Die Objektivation des Kunstwerks geht auf Kosten der Abbildung von Lebendigem. Leben gewinnen die Kunstwerke erst, wo sie auf Menschenähnlichkeit verzichten. »Der Ausdruck eines unverfälschten Gefühls ist immer banal. Je unverfälschter um so banaler. Um es nicht zu sein, muß man sich anstrengen.« (W 127) »Literarischen Aberglauben« nennt er »jede Überzeugung, die nicht von der Einsicht in die sprachliche Bedingtheit der Literatur ausgeht. Das gilt etwa für die Eigenexistenz und Psychologie von Figuren, Geschöpfen ohne Eingeweide.« (W 180) Aber die imaginären Geschöpfe haben dafür ein Leben eigener Struktur mit Entfaltung, Blüte und Absterben: »Erst sind sie zur Freude da, dann zur Unterweisung, zuletzt als Dokument.« (W 93) Die Morphologie solchen Lebens terminiert in einer geschichtsphilosophischen Bestimmung des Klassischen, die leicht alles aufwiegen dürfte, was über den verbrauchtesten Begriff der Ästhetik je gedacht wurde: »Die klassischen Werke sind vielleicht jene, die erkalten können, ohne zu vergehen, ohne sich zu zersetzen, und es lohnte, einmal den Willen zur Bewahrung, den die Begriffe ›Vollendung‹ und ›geschlossene Form‹ enthalten, in den Prinzipien, Regeln, im Kanon und in den Gesetzen der Kunst jener Epochen aufzudecken, welche man die klassischen nennt.« (W 121) Das aber sprengt Valérys Klassizismus. Denn klassische Werke überleben durch ihre Autorität, durch Ruhm, und der ist überschattet vom blinden Zufall: »Der Ruhm von heute geht bei der Vergoldung älterer Werke nicht planvoller vor als ein Brand oder ein Holzwurm bei ihrem Zerstörungswerk in einer Bibliothek.« (W 52) Der tödliche Autoritätsverlust so vieler traditioneller Kunst heute hat Valérys Verdacht gründlich bestätigt. Dafür hat alle Kunst, auch die avancierte, an sich bereits etwas Konservatives angenommen, den Gestus des Überwinterns. Noch wer zum Äußersten geht, und vielleicht er am ehesten, arbeitet, unter höchst ungewissen Auspizien, an einem Vorrat, über den erst eine versöhnte Menschheit verfügte; was er tut, ist nicht so aktuell, wie er vermeint, sondern möchte an besseren Tagen einmal erwachen. Auch das ist Valéry nicht entgangen: »Dichtung ist Fortleben. In einer Epoche, da sich die Sprache vereinfacht, da die Formen vernachlässigt und entstellt werden, in einer Zeit der Spezialisierung ist Dichtung ein Bewahrtes. Heute, heißt das, würde man den Vers nicht erfinden.« (W 163)
Trotz alledem jedoch verstockt Valérys objektivistische Ästhetik sich nicht dogmatisch. Seine Reflexion ereilt die fetischhaften Züge ihrer Baudelaireschen Ursprünge: noch die Entmenschlichung des Kunstwerks wird aufs Subjekt reduziert, auf seine Naturwüchsigkeit und Sterblichkeit. Das objektivierte Kunstwerk will Dauer, die wie immer auch ohnmächtige, selber sterbliche Utopie des Überlebens; insofern führt Valéry Nietzsches Programm einer zugleich antimetaphysischen und ästhetischen Philosophie aus. Ihr zuliebe stellt er anthropologische Spekulationen an: »Es gibt jedoch andere Auswirkungen unserer Wahrnehmungen, die jenen ganz und gar entgegengesetzt sind: sie erregen in uns das Verlangen, das Bedürfnis, die Zustandsänderungen, denen eigen ist, die auslösenden Wahrnehmungen bewahren oder neu finden oder auch nachvollziehen zu wollen. Wenn ein Mensch Hunger hat, wird dieser Hunger ihn tun lassen, was es braucht, um ihn so rasch wie möglich zu beseitigen; wenn aber die Speise ihm köstlich dünkt, wird dieses Köstlichsein in ihm weiterdauern, sich fortsetzen und neu erstehen wollen. Der Hunger drängt uns, eine Empfindung abzukürzen; das Köstlichsein, eine zweite sich entfalten zu lassen; und diese zwei Strebungen werden sich bald selbständig genug gemacht haben, um den Menschen lernen zu lassen, auf die Verfeinerung seiner Nahrung Bedacht zu nehmen und zu essen, ohne Hunger zu haben. Was ich vom Hunger sagte, läßt sich leicht auf das Liebesbedürfnis erstrecken – und im übrigen auf alle Arten von Empfindungen, auf alle Erscheinungsformen des Empfindungsvermögens, in die bewußtes Handeln einzugreifen vermag, um das wiederherzustellen, zu verlängern oder auch zu steigern, zu dessen Beseitigung das Handeln aus dem Reflex allein ausdrücklich geschaffen zu sein scheint. Sehen, Tasten, Riechen, Hören, Bewegen, Sprechen führen uns insgesamt ein Mal ums andere in die Versuchung, uns in den Eindrücken häuslich einzurichten, die sie uns bescheren, sie am Leben zu erhalten oder sie neu entstehen zu lassen.« (K 142f.) Daraus springt die Theodizee der Kunst hervor: »Der Inbegriff dieser von mir eben herausgeschälten Auswirkungen, deren Wesen darin besteht, auf Un-endlichsein auszugehen, könnte die Ordnung der Dinge bestimmen, die dem Bereich des Ästhetischen zugehören. Um diesem Wort ›Un-endlichsein‹ sein Recht und seine scharf umrissene Bedeutung zu geben, braucht man nur daran zu erinnern, daß innerhalb dieser Ordnung die Befriedigung das Bedürfnis wiedererstehen läßt, die Antwort die Frage zu neuem Leben ruft, das Dasein in seinem Schoße das Nichtdasein austrägt und das Besitzen das Verlangen.« (K 143) »Denn alle Lust will Ewigkeit.« Kein anderes Motiv hat Proust zur Konstruktion des Lebens aus der gewaltlosen, unwillkürlichen Erinnerung bewogen. Ein Moment des Desperaten, Jugendstilhaften; der Gestus des sich selbst aus dem Sinnverlassenen herausprojizierenden Sinnes ist dabei unverkennbar. Ästhetisches Bewußtsein, das den Sturz der Religionen – ausdrücklich bei Baudelaire, implizit auch bei Valéry – voraussetzt, kann nicht Kategorien aus dem theologischen Bereich wie die der Ewigkeit umstandslos zur Kunst säkularisieren, als ob solche Transposition deren Anspruch und Wahrheitsgehalt nicht selber berührte. Die Kritik, die Valéry an der Gottähnlichkeit des künstlerischen Selbst übte, dürfte auch vor der Idee der Dauer der Werke nicht verstummen, an deren Realität er ohnehin zweifelte. Seitdem hat die moderne Kunst Grenzen überschritten, die Valérys Generation respektierte und in denen seine Ästhetik veraltete.
Unter den Idealen seines in sich reflektierten, gebrochenen Klassizismus fehlen auch die etwas gipsernen Attribute der Reife und Vollkommenheit nicht (vgl. W 57), während doch die exemplarischen Werke keineswegs die runden und vollkommenen sind sondern jene, in denen der Konflikt zwischen der Intention auf Vollkommenheit und ihrer Unerreichbarkeit die tiefsten Spuren hinterließ. An archaischen Gebilden sieht Valéry wohl Ähnliches: »Wenn große Epen schön sind, so sind sie es trotz ihrer Größe und nur bruchstückweise ... Zu Beginn einer Literatur gibt es keine reinen Dichter, wie ja auch die ersten Handwerker keine reinen Metalle kannten.« (W 59) Ihm ist gleich Nietzsche gegenwärtig, wie sehr Ordnung, der Kanon von Klassizität, dem Chaotischen abgezwungen ist; den Alten kam, Valéry zufolge, »die irdische Welt ... sehr wenig geordnet vor« (W 176). »Unrein«, heißt es darum, »ist kein Tadel.« (W 60) »Ein Gedicht zu fügen, das nur Dichtung enthielte, ist unmöglich. Wenn es nur Dichtung enthält, ist es nicht gefügt, ist es kein Gedicht.« (W 167) Das kommt auch der Moderne zugute. »An den Exzessen der Neuerer von gestern verwundert uns immer ihre Ängstlichkeit.« (W 46) Tatsächlich erweisen sich heute die Werke der Generation von Schönberg und Picasso als durchsetzt von Elementen, die ihrer reinen Konsequenz und Durchbildung sich widersetzen; von Rudimenten dessen, wovon sie abstießen. Aber das beeinträchtigt nicht die Qualität. Die Authentizität solcher Produkte könnte gerade in dem Prozeß zwischen dem noch nicht Gewesenen und dem Gewesenen ihre Substanz haben, an dem das Neue sich reibt und seine Gewalt vermehrt. Diese Spannung haben die Gebilde etwa aus dem Dezennium vor dem Ersten Weltkrieg vor den stimmigeren nach dem Zweiten voraus, und sie erlaubt ihnen zu überleben; der Spannungsverlust in so vielem Späteren könnte eine Funktion sein von dessen eigener Konsequenz. Trotz dieser Verteidigung des Stilbrüchigen aber war für Valéry Dauer, das bürgerliche Rudiment in seinem Denken, eine nach dem Modell des Besitzes vorgestellte Wahrheit, eins mit Ordnung. Als einzige Macht, die den Menschen »über die Geschehnisse« gegeben sei, »denen gegenüber sein direktes Handeln nichts ausrichtet«, ist ihm, wie allen Klassizisten, »Ordnen göttlich« (W 177). Seinen Klassizismus stützt er mit dem kräftigen Argument, daß ans gelungene Kunstwerk der herkömmliche Stilunterschied von klassisch und romantisch nicht heranreiche3. »Der Unterschied zwischen klassisch und romantisch ist ganz einfach der zwischen einem, der sein Handwerk versteht, und einem, der es nicht versteht. Ein Romantiker, der seine Kunst gelernt hat, wird zum Klassiker. Deshalb führte die Romantik schließlich zur Schule der Parnassiens.« (W 179) Die Dauer verleihende Ordnung heißt ihm Form. Sie rückt, durch Valérys Kritik alles Inhaltlichen, und wäre es auch selber geistig, nämlich die vom Werk vermeinte Philosophie, ins Zentrum seiner Ästhetik. Aber ihr eigener Begriff bleibt schwächlich. »Man gelangt zur Form, wenn man danach strebt, dem Leser sowenig Mitarbeit wie nur möglich einzuräumen und auch sich selber möglichst wenig Unsicherheit und Willkür.« (W 169) So wahr es ist, daß jede bewältigte künstlerische Form Zwang auf den Rezipierenden ausübt, der als das Authentische des Gebildes erfahren wird, so wenig verbürgt er allein dessen Rang. Gerade Valéry hat darauf bestanden, daß im ästhetischen Formbegriff keine wie immer geartete Rücksicht auf den Empfangenden oder den Produzierenden enthalten sei. Aber er gleitet darüber hinweg; vielleicht weil sonst die Kunstmetaphysik selbst gefährdet würde. »Form«, sagt er im Einverständnis mit dem abgestandenen Formalismus, »ist wesentlich an Wiederholung gebunden« (a.a.O.); als hätten nicht schon zu seiner Zeit die authentischesten Kunstwerke ihr Formgesetz am Ausschluß des äußerlichen und regressiven Formmittels der Wiederholung gesucht; als schriebe er nicht ein paar Seiten später: »Der Geist aber erträgt keine Wiederholung.« (W 172) Nur einen akademischen Formbegriff kann er wirksam vorgeblicher Neuerungssucht kontrastieren: »Die Anbetung des Neuen ist demnach dem Bemühen um die Form entgegengesetzt.« (W 169) Form, die über ihre Parodie, das Schulstück, sich erhebt, wäre schwerlich noch von der Obsession mit dem Neuen zu trennen. Aber Valéry zeigt sich darin mit dem Neoklassizismus verschworen, daß er von außen gesetzte Formen rechtfertigt, unabhängig von der Immanenz der Form in der Gesetzmäßigkeit des je einzelnen Gebildes. Der nichts einem anderen als dem Ingenium verdanken möchte, läßt von masochistischer Freude an Typen sich verlocken, die heteronome und unbestätigte Autorität ausüben; vergafft in den Reiz zweideutiger, als Gesetz maskierter Zufälligkeit, der so schnell sich verbrannte zur Asche der Langeweile. Manches aus den Windstrichen könnte in Strawinskys musikalischer Poetik stehen: »Ein großer Erfolg des Reims ist es, die einfältigen Leute zu ärgern, die naiv genug sind zu meinen, es gebe auf der Welt Wichtigeres als eine Übereinkunft. Sie haben den arglosen Glauben, irgendein Gedanke könne tiefer und dauerhafter sein – als jede beliebige Konvention ...« (W 167) Den ästhetischen Objektivismus Valérys trägt, genetisch-literarisch und auch sachlich, ein Subjekt, das der Substantialität der Formen sich unwiderruflich entfremdet weiß und gleichwohl das Bedürfnis danach bewahrt. Es zitiert sie als disziplinierendes Mittel, als Schwierigkeit herbei, welche die Kunst sich selber bereiten müsse, um vollkommen zu werden; als wäre nicht die künstlerische Praxis durch jene Mittel allzu bequem geworden. Ihn verleitet die Willkür einer Subjektivität, die weder an jene Formen noch wesentlich gebunden ist, noch kraft der eigenen Arbeit und Anstrengung, die Valéry sonst zu fordern nicht müde wird, Form aus sich selbst, ihrer Selbstversenkung, unbekümmert um Muster und vergangene gesellschaftliche Übereinkunft, konstituierte. In solcher Gesinnung preist Valéry, nicht ohne die Ironie des Provokativen, eine dichterische Form, die vor andern den Verdacht des mechanisch Klappernden erregt: »Zuweilen bin ich einer, der, falls er in der Unterwelt dem Erfinder des Sonetts begegnete, ihm mit viel Hochachtung sagen würde (gesetzt den Fall, daß davon in der anderen Welt etwas übrigbleiben sollte): ›Lieber Herr Kollege, ich begrüße Sie in aller Demut. Ich weiß nicht, was Ihre Verse, die ich nie gelesen habe, taugen, und ich wette, daß sie nichts taugen, weil schon immer viel dafür gesprochen hat, darauf zu wetten, daß Verse schlecht sind. Doch so schlecht, so flach, so blöd, so durchsichtig, so einfältig, so kindlich sie auch gefügt sein mögen – ich stelle Sie unter allen Umständen in meinem Herzen über alle Dichter der Erde und der Unterwelt! Sie haben eine Form erfunden, und im Gesetz dieser Form fanden die Größten ihr Maß.‹« (K 24f.) Wohl möchte man fragen, wie der Gedanke an die Erfindung einer Form mit ihrer Würde sich verträgt, welche doch diesen Gedanken erweckte. Das ist die Schwelle, die Valéry von deutschen Erfahrungen trennt, mit denen sonst seine Spekulation konvergiert. Damit Kunst ihm das Oberste bleibe, muß er krampfhaft die Augen verschließen. Sie ist ihm am Ende doch nicht, wie für Hegel, eine Entfaltung der Wahrheit, sondern, mit jenem zu reden, ein angenehmes Spielwerk. Das Moment des weltläufig Zivilisatorischen darin ist unverächtlich genug gegenüber der Befangenheit in einem Reich des Geistes, das der Befangene buchstäblich nimmt und verabsolutiert. Gleichwohl verhindert es Valéry daran, den vollen Begriff des Kunstwerks als eines Kraftfeldes von Subjekt und Objekt zu erreichen. Noch das hat er empfunden. Er versichert sich, im Gegensatz zur Toleranz fürs nicht ganz Ernste, der Unvereinbarkeit der geistigen Gebilde miteinander, die doch widerstrebend aufeinander verwiesen sind: »Keinen von ihnen« – den bedeutenden Künstlern – »kann ich mir einzeln vorstellen; und dabei hat sich doch jeder verzehrt, damit keiner neben ihm bestehe.« (W 95) Darum demontiert er ein Cliché, das, heruntergekommen aus der großen Philosophie, nur noch zum Vorwand jener bürgerlichen Kultur taugt, die, wo Notwendigkeit sein sollte, Freiheit verhimmelt, weil Notwendigkeit herrscht, wo Freiheit sein sollte: »Über Geschmack und Farben soll man streiten.« (W 34) Keineswegs verläßt er sich auf die in Frankreich sakrosankte Kategorie des Geschmacks: »Wer nie den guten Geschmack verletzt, hat sich nie sehr weit in sich vorgewagt. Wer gar keinen Geschmack hat, hat es getan, ohne daraus Nutzen zu ziehen.« (W 169) Er hätte schwerlich, wie der Musicien Français Debussy, die Pariser Erstaufführung von Mahlers Zweiter Symphonie protestierend verlassen. Dennoch behält bei ihm das Kunstwerk etwas Unverbindliches. Seine oberste ästhetische Kategorie, das Formgesetz, gründet sich auf Wahl, Entschluß und Reminiszenz. Er sperrte sich dagegen, daß eben durch den Überschuß einer im Subjekt nicht eingeschmolzenen Objektivität, an dem sein Objektivismus sich orientiert, Objektivität selber herabgesetzt wird zum Trug, zur bloßen subjektiven Veranstaltung. Und damit zu einem ideologisch Schmückenden. Trotz aller Polemik gegen Kommunikation und Wirkungszusammenhänge fügt sich das Valérysche Kunstwerk zustimmend in den Bannkreis der Gesellschaft, den romanisches Denken zögert zu überschreiten, nach Cocteaus Wort stets dessen eingedenk, wie weit man zu weit gehen darf. »Ein Gedicht muß ein Fest des Intellekts sein. Es kann nichts anderes sein. Ein Fest: das heißt ein Spiel, aber ein hohes, geregeltes, voller Bedeutung; ein Bild dessen, was man gewöhnlich nicht ist, eines Zustandes, in dem die Anstrengung im Rhythmus erlöst ist. Man feiert etwas, indem man es in seiner reinsten und schönsten Form vollendet darstellt.« (W 162) Man darf durch die Spiritualisierung der Idee vom Fest nicht darüber sich täuschen lassen, daß das festliche Kunstwerk eingeschworen bleibt auf die Bejahung dessen, was ist. Der ästhetische Konformismus der Valéryschen Lehre von der Form ist gesellschaftlich zugleich.
Selbst sein Neoklassizismus jedoch enträt nicht des Gärstoffs. Die neoklassizistische Bewegung in Frankreich war insgesamt, wie man weiß, kunststrategisch ein Gegenschlag gegen Wagner. Die stipulierte Ordnung sollte dem rauschhaften Wesen, der trüben Vermischung der Künste, dem deutschen Hang zum Superlativ (W 49) widerstehen. Diesem Programm hat Valéry auch als Dichter sich verschrieben in dem Plan des musikalischen Dramas Amphion, das, nachdem Debussy spröde sich gezeigt hatte, schließlich von Honegger vertont wurde. Neoklassizistisch ist nicht nur der griechische Stoff sondern die Idee. Sie beruht auf jener scharfen Distinktion der Künste durch Valéry, die das Wagnerische Musikdrama vorweg negiert. Er hat sie an der eigenen Entwicklung erfahren als die der Architektur, der seine erste Liebe gehörte, und der Musik; hat es aber nicht bei der Distinktion sein Bewenden haben lassen und damit auch nicht bei Stilkopien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. In seinem Medium, der Sprache, das ihm musikalisch war und keines der begrifflichen Signifikation, hielt er der Architektur die Treue. Dazu inspirierte ihn, daß beide Kunstgattungen insofern verwandt sind, als sie nichts Gegenständliches nachahmen oder bezeichnen. Er spricht an auf die coincidentia oppositorum: »Die Komposition – das heißt die Verknüpfung des Ganzen mit dem Einzelnen – ist in den Werken der Musik und der Architektur viel spürbarer und gebotener als bei den Künsten, deren Gegenstand die Wiedergabe sichtbarer Dinge ist: da diese ihre Elemente und ihre Musterbilder der Welt außer uns entnehmen – der Welt der ganz und gar schon zu Ende geschaffenen Dinge und der schon festgelegten Schicksale – entspringt daraus ein gewisser Mangel an Reinheit der Form, einige Anspielung auf jene andersartige Welt, manch ein Eindruck, der mehrdeutig bleibt und zufällig ist.« (K 38) Das erst spezifiziert seine Idee von Form: die Wiederkunft des Architektonischen im Musikhaften. »Noch bei den ungewichtigsten Stücken muß man an das denken, was Dauer verleiht, und das heißt an das, was in der Erinnerung zu bleiben vermag, an die Form also, so wie die Erbauer der mit ihrem Filigran schwerelos in den Himmel ragenden Turmspitzen an die Gesetze denken, die den Halt des Baues verbürgen.« (K 37) Der Künstler, dem die Reflexion auf Kunst und diese eins sind, zieht daraus den Impuls seines Musikdramas. Sein Vorwurf ist die Urgeschichte der Musik in ihrem Gegensatz zur Architektur, die zugleich in der dramatischen Einheit durcheinander vermittelt sind. Gleichgültig jedoch, ob das Projekt gelang oder nicht: nachdem einmal Valéry auf das Abenteuer solcher Vermittlung sich einließ, geht es Kategorien wie der säuberlichen Trennung der Künste, dem an der Optik orientierten Primat von Ordnung, schließlich dem Neoklassizismus ans Leben. Enthusiastisch grüßt er die Beschreibung eines von Musik Besessenen durch E.T.A. Hoffmann, der »glaubt, einen Ton von außerordentlicher Eindringlichkeit und Reinheit zu vernehmen, den er den Euphon nennt und der ihm das unendliche und eigene Weltbild des Gehörsinns aufschließt ... So erlebt sich innerhalb der Ordnungen der Bildenden Kunst der Mensch, der sieht, unversehens als Seele, die singt, und dieser Zustand – ›Ich singe ja!‹ – läßt in ihm einen Durst nach Schöpfung entstehen, der das Geschenk des Augenblicks festhalten und verewigen möchte.« (K 94) Er verfällt darauf, »daß einer den Plan fassen könnte, die Notenschrift zu diesem Tanze aufzuzeichnen. So könnte man einer gegebenen Plastik ein bestimmtes Musikstück zuordnen, das ganz auf dem Rhythmus der Hantierung des Künstlers aufgebaut wäre.« (K 174)
Das Baudelairisch-neuromantische Motiv der Synästhesie wird sublimiert: nicht länger verschwimmen Töne und Düfte in der Luft des Abends, sondern das Getrennte wird synthesiert kraft seiner harten Getrenntheit. Auch das wäre mit einem dogmatischen Begriff von Form unvereinbar. Ihn sprengt Valérys verzehrendes Bewußtsein, das bei keiner festen Bestimmung sich ausruht, durch die Interpretation der Kunst als einer Sprache eigenen Wesens. Sie ist Nachahmung; nicht eines Gegenständlichen, sondern mimetisches Verhalten. Noch die ästhetische Kategorie, welche als die subjektive schlechthin erscheint, die des Ausdrucks, wird im Namen solcher Nachahmung zu einem Objektiven: zur Nachahmung der Sprache der Dinge selber. Sie ist daran gebunden, daß das Gebilde der Ähnlichkeit mit jenen sich entschlägt. »Dichtung ist der Versuch, mit den Mitteln der artikulierten Sprache das darzustellen oder wiederherzustellen, was Schreie, Tränen, Liebkosungen, Küsse, Seufzer usw. dunkel auszudrücken versuchen, und was die Dinge scheinbar ausdrücken wollen in dem, was wir für ihr Leben und ihre Absicht nehmen.« (W 163) Der musikalische Sprachgebrauch kennt in der Vortragsbezeichnung espressivo, die gleichgültig ist gegen das Ausgedrückte wie gegen das ausdrückende Subjekt, etwas nah Verwandtes. Als Metaphysik der Nachahmung tastet Valérys Ästhetik am Ende des Essays über die Würde der Künste, an denen das Feuer teilhat, nach dem Äußersten: »Die Künste, die das Feuer wirkt, wären damit die verehrungswürdigsten von allen, ahmen sie doch so genau das überirdische Wirken eines Weltenschöpfers nach.« (K 14) Kunst ist Nachahmung nicht von Geschaffenem sondern des Aktes der Schöpfung selber. Diese Spekulation steht hinter Valérys provokatorischer, entschlossen alexandrinischer Ansicht, der künstlerische Produktionsprozeß sei zugleich der wahre Gegenstand der Kunst: »Warum sollte man denn die Ausführung eines Kunstwerkes nicht auch als Kunstwerk ansehen dürfen?« (K 174) Das zerstört wie kaum eine andere Theorie die Illusion vom Kunstwerk als einem Sein. Gerade als objektives verwandelt es sich ins Werden, während die vulgäre These es statisch vorstellt und sein dynamisches Moment dem vermeintlichen Schöpfungsakt des Künstlers zumißt, der bei Valéry in jener höchsten Nachahmung erlischt. Die Paradoxie erhellt sich damit, daß die objektiv gerichtete Ästhetik Valérys, die das Werk so wenig als Nachahmung eines Äußeren wie als die eines Inneren, der Seele des Autors, dulden möchte, gleichwohl nicht so sehr von dem »unmittelbaren Vergnügen«, das die Werke der Kunst ihm geben, berührt wird, »als durch die Vorstellung, die sie mir vom Tun dessen, der sie schuf, eingeben« (K 170). Nach der abgründigen Passage von jenem Menschen der Vorwelt, der, »gedankenabwesend ein beliebiges grobes Gefäß liebkosend, in sich den Gedanken keimen fühlte, ein anderes Gefäß auszuformen, nur um es liebkosen zu können« (K 13), wäre Kunst vielleicht Nachahmung der schöpferischen Liebe selber. Als Nachahmung eines Schöpfungsaktes anstatt der geronnenen Gegenstände gerät Kunst in Gegensatz zur Natur: »Wir spüren in uns gewisse Sehnsüchte, denen die Natur nicht zu genügen vermag, und uns sind Vermögen eigen, die ihr abgehen.« (K 67) So kommen Baudelaires paradis artificiels nach Hause, Mimesis dessen, was aller Dinglichkeit vorausgeht, durch die künstlerische Freiheit, die dem Bann der Dinge entrückt ist. Diese Theorie der Nachahmung verbindet vollends mit dem Ideal des l'art pour l'art, daß die Ähnlichkeit des Kunstwerks – nicht länger eine mit etwas – zur Funktion seiner immanenten Form gemacht wird. »Man darf nicht vor jeglichem Dinge die Ähnlichkeit wollen; diese muß vielmehr aus der Übereinstimmung einander zugewandter Beobachtungen und Verrichtungen hervorgehen, die in die Form des Ganzen eine ständig sich mehrende Vielheit von Bezogenheiten der einzelnen Teile speichern, die der Künstler wahrgenommen hat. Es kennzeichnet die Güte einer Arbeit, daß man sie immer weiter der Genauigkeit zu vorantreiben kann, ohne daß man ihre Anlage oder die Bezugspunkte zu ändern brauchte.« (K 176) Kunstwerke wären um so ähnlicher, je vollkommener sie durchgebildet sind bei sich selber: »Für sie gab es eben richtigerweise die Ähnlichkeit nur in ihrer Bezogenheit auf das allgemeine Prinzip der Kunst und deren eigentlichen Gegenstand.« (K 177) Es wird nicht genannt und ist zugehängt, aber sein Gleichnis ist der Schöpfungsakt, und das Kunstwerk rangiert um so höher, je mehr es diesem gleicht; je ähnlicher, ließe pleonastisch sich sagen, es sich selber ist. Denn in der Ähnlichkeit mit sich selbst wird es zum Gleichnis des Absoluten, dem es unmittelbar, in seiner Partikularität, nicht zu ähneln vermag. »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst« – das ist die Utopie in ihrer ästhetischen Gestalt. Auf sie, die reine Möglichkeit, zielt Valérys denkende Bewegung. »In meinen Gedanken suche ich mit all dieser Zaubermacht des Meeres zurechtzukommen, indem ich mir sage, daß es nicht aufhöre, meinen Augen das Mögliche vorzuführen.« (K 130) Nur durch die verblendete Besessenheit mit sich selber, nicht durch die durchsichtige Intention auf das, was mehr wäre, wird das Kunstwerk mehr, als es ist. Seine Ähnlichkeit mit sich selber macht es zur Sprache. Allein in solcher Sprachähnlichkeit hat alle Kunst ihre Einheit. Ihre Idee ist von der meinenden Sprache so geschieden wie ästhetische Ähnlichkeit überhaupt von der mit den Dingen. Die Inkommensurabilität der Sprachen gerade verweist auf diese Schicht: »Es gibt Lehren, die es nicht vertragen, in eine fremde Sprache übersetzt zu werden, die nicht die ihrer ursprünglichen Formulierung ist. Das Vertrauen darauf, daß man ihnen Glauben schenkt, der Zauber, die Scheu gehen dabei verloren, die ihnen eigen waren, seitdem sie sich in Worte kristallisierten; in Worte, die sich verschleiert und nur ihnen geweiht haben.« (W 147) In der Konzeption ungegenständlicher Ähnlichkeit wird der neuromantische Kultus der Nuance theoretisch heimgebracht. »Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist« (W 94), lautet der schönste Satz der Windstriche. Das Unbestimmbare ist das Unnachahmliche, und die ästhetische Mimesis wird zu einer des Absoluten, indem sie im Bedingten solches Unnachahmliche nachahmt. Daran haftet das utopische Versprechen: »Merk auf dieses feine, unaufhörliche Geräusch; es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.« (W 76)
Valérys Utopie geht über in die Prousts: »Die Blumen, die das Blumenmädchen gegenüber, unter dem großen Palasttor, verkauft, bringen allen Menschen Botschaften und Träume der Liebe. Was nie eintreffen, niemals geschehen kann, duftet, riecht gut.« (W 20f.) An sie heftet sich die Sehnsucht des Denkers nach einem Denken, das des eigenen Zwangscharakters ledig wäre: »Am schönsten wäre es, in einer selbsterfundenen Form zu denken.« (W 72) Unbegrenzte Mühsal des Denkens will auf dessen Untergang in der Erfüllung hinaus; die intellektuelle Anstrengung auf die Abschaffung der Gewalt von »selbstgegebenen Gesetzen« (K 74). Wohl ist unstillbar Valérys Drang, seiner selbst mächtig zu werden, und seine Kunsttheorie möchte Autonomie dorthin noch ausdehnen, wo ihr sonst bloß Kontingenz sich entgegensetzt. »Weder das Neue noch das Geniale verlocken mich – sondern die Herrschaft über sich selbst.« (W 69) Aber dies Ideal transzendiert den eigenen Subjektivismus. »Wer arbeitet, sagt sich: Ich will mächtiger, gescheiter, glücklicher sein – als – Ich.« (W 128) Schrankenloses Verfügen des Subjekts über es selber meint dessen Aufhebung in einem Objektiven. Das Werk, das die Sprache der Dinge als Ebenbildlichkeit mit dem Schöpfungsakt nachahmt, bedarf der Herrschaft des Produzierenden, den es wiederum unterjocht. So wird es für Valéry zugleich Strafe: »Und zu deiner Strafe wirst du sehr schöne Dinge herstellen. Dies hat ein Gott, der keineswegs Jehova ist, dem Menschen nach dem Sündenfall in Wahrheit gesagt.« (W 89) Aber mit Strafe will er sich nicht gemein machen. Sie untergrabe, heißt es, abermals in Nietzsches Tonfall, »die Moral, denn sie schafft für das Verbrechen einen deutlich begrenzten Ausgleich. Aus dem Grauen vor dem Verbrechen macht sie ein bloßes Grauen vor der Strafe; – eigentlich spricht sie frei; sie macht das Verbrechen zu etwas Verkäuflichem und Meßbarem: feilschen wird möglich.« (W 151) Valéry, der Denkende, durchschaut die Befleckung von Denken selber als einem Kalkül durch den Tausch: »Das Wertvollste darf nichts kosten. Und den andern (Gedanken): darauf am meisten stolz sein, wofür man am wenigsten kann.« (W 165) So wird im Denken dessen Prinzip, Herrschaft selber, widerrufen. Der alles an seine Macht als Künstler setzt, denunziert die Kunstwerke, insoweit sie Macht ausüben. »Nichts liegt Corot ferner als die Sorge dieser gewaltigen und umgetriebenen Geister, die so angstvoll sich mühten, an diesen gebrechlichen und verborgenen Punkt des Wesens heranzukommen und zu etwas von ihnen Besessenem (im diabolischen Verstand dieses Wortes) zu machen, der es auf dem Umwege über die Tiefenschichten des Organismus und die Eingeweide ganz und gar ausliefert. Sie wollen verknechten. Corot will zu dem von ihm Erfühlten hinverführen. Er denkt nicht daran, sich zum Herren über einen Sklaven zu machen. Doch hofft er, aus uns sich Freunde zu schaffen, Gefährten seines glückhaften Schauens an einem schönen Tage vom silbernen Morgen bis an die Schwelle der Nacht.« (K 76) Die Idee der unversöhnlichen Anstrengung von Kunst ist Versöhnung als ihr Ende.
Fußnoten
1 Im folgenden steht W für Paul Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, Wiesbaden 1959, und K für Paul Valéry, Über Kunst. Essays, Frankfurt a.M. 1959.
2 Vgl. Th. W. Adorno, Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren, in: Jahresring 56/57. Ein Querschnitt durch die deutsche Literatur und Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1956, S. 99 [GS 16, s. S. 653f.].
3 Vgl. Th. W. Adorno, Klangfiguren, Berlin, Frankfurt a. M. 1959, S. 182ff. [GS 16, s. S. 126ff.]
Kleine Proust-Kommentare
Gegen kleine Kommentare zu einigen Abschnitten aus der ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ ließe sich sagen, daß bei dem verwirrend reichen und krausen Gebilde der Leser mehr der orientierenden Überschau bedürfe, als daß er noch tiefer ins Einzelne verstrickt werden möchte, aus dem ohnehin nur schwer und mühsam der Weg zum Ganzen sich bahnen ließe. Der Einwand scheint mir der Sache nicht gerecht zu werden. An großen Übersichten fehlt es nicht länger. Das Verhältnis des Ganzen zum Detail jedoch bei Proust ist nicht das eines architektonischen Gesamtplans zu seiner Ausfüllung durchs Spezifische: eben dagegen, gegen das gewalttätig Unwahre einer subsumierenden, von oben her aufgestülpten Form hat Proust revoltiert. Wie die Gesinnung seines Werkes die herkömmlichen Vorstellungen von Allgemeinem und Besonderem herausfordert und ästhetisch ernst macht mit der Lehre aus Hegels Logik, das Besondere sei das Allgemeine und umgekehrt, beides sei durcheinander vermittelt, so kristallisiert sich das Ganze, allem abstrakten Umriß abhold, aus den ineinandergewachsenen Einzeldarstellungen. Eine jede birgt Konstellationen dessen in sich, was am Ende als Idee des Romans hervortritt. Große Musiker der Epoche, Alban Berg etwa, wußten, daß die lebendige Totale gerät nur durchs vegetabilisch wuchernde Gerank hindurch. Die produktive Kraft zur Einheit ist identisch mit dem passiven Vermögen, schrankenlos, ohne Rückhalt ans Detail sich zu verlieren. Der inneren Formzusammensetzung des Proustschen Werkes aber, das den Franzosen seiner Zeit nicht bloß um der langen und dunklen Sätze willen so deutsch dünkte, wohnt trotz seiner vorwiegend optischen Begabung, und ohne alle billige Analogie mit dem Komponieren, ein musikalischer Impuls inne. Er bewährt sich am eindringlichsten in der Paradoxie, daß der große Vorwurf, die Rettung des Vergänglichen, durch die eigene Vergängnis, die Zeit hindurch gerät. Die Dauer, der das Gebilde nachfragt, konzentriert sich in ungezählten, vielfach voneinander isolierten Augenblicken. Einmal verherrlicht Proust mittelalterliche Meister, die in ihren Kathedralen Zierate so verborgen angebracht hätten, daß sie wissen mußten, es werde nie ein Mensch sie erblicken. Die Einheit ist keine fürs menschliche Auge veranstaltete, sondern unsichtbar mitten im Zerstreuten, und erst einem göttlichen Betrachter würde sie offenbar. Im Gedanken an jene Kathedralen ist Proust zu lesen, beharrend vorm Konkreten und ohne vorwitzigen Griff nach dem, was bloß durch die tausend Facetten hindurch, nicht unmittelbar sich gibt. Darum will ich weder bloß auf vorgebliche Glanzstellen hinweisen noch eine Interpretation des Ganzen vorbringen, die noch im glücklichsten Fall bloß wiederholte, was der Autor von sich aus an Intentionen ins Werk hineintat. Sondern ich hoffe, durch Versenkung ins Bruchstück etwas von jenem Gehalt aufleuchten zu lassen, der sein Unverlierbares von nichts anderem empfängt als von der Farbe des hic et nunc. Mit solchem Verfahren glaube ich Prousts eigener Intention besser die Treue zu halten, als wenn ich sie abzudestillieren versuchte.
ZU ›IN SWANNS WELT‹, 115–1231
Henri Bergson, Prousts Verwandter nicht nur im Geist, vergleicht in der ›Einleitung in die Metaphysik‹ die klassifizierenden Begriffe der kausal-mechanischen Wissenschaft Konfektionskleidern, welche um den Leib der Gegenstände schlotterten, während die Intuitionen, die er preist, so genau auf der Sache säßen wie Modelle der haute couture. Könnte ein wissenschaftliches oder metaphysisches Verhältnis ebenso bei Proust in einem Gleichnis aus der Sphäre der mondanité ausgesprochen sein, so hat er umgekehrt nach der Bergsonschen Formel sich gerichtet, mochte er sie kennen oder nicht. Freilich nicht durch bloße Intuition. Deren Kräfte balancieren sich in seinem Werk mit denen französischer Rationalität, einer gehörigen Portion welterfahrenen Menschenverstandes. Erst die Spannung und Zusammensetzung beider Elemente macht das Proustische Klima aus. Wohl aber ist ihm eigentümlich die Bergsonsche Allergie gegen die Konfektion des Gedankens, das vorgegebene und etablierte Cliché: unerträglich ist seinem Takt, was alle sagen; solche Empfindlichkeit ist sein Organ für die Unwahrheit, und damit für die Wahrheit. Während er in den alten Chor über gesellschaftliche Heuchelei und Unwahrhaftigkeit miteinstimmte, aber gleich jenem Chor am gesellschaftlichen Grund nirgends ausdrückliche Kritik übte, ist er dennoch gegen seinen Willen, und darum um so authentischer, zum Kritiker der Gesellschaft geworden. Er respektierte weithin ihre Normen und Inhalte; als Erzähler indessen hat er ihr Kategoriensystem suspendiert, und damit ihren Anspruch auf Selbstverständlichkeit, den Trug, sie wäre Natur, durchbrochen. Nur der wird Proust begreifen, gefeit dagegen, ihn als den verzärtelt in sich selbst Verliebten zu verkennen, der er freilich auch war, wer die ungemessene Energie des Widerstandes gegen die Meinung spürt, der tendenziell jeder Satz des Platonikers Proust abgerungen ist. Dieser Widerstand, die zweite Entfremdung der entfremdeten Welt als Mittel zu ihrer Restitution, verleiht dem Raffinierten seine Frische. Er macht ihn so untauglich zum literarischen Vorbild wie nur Kafka, denn jede Nachahmung seines Verfahrens setzte diesen Widerstand als bereits geleistet voraus, dispensierte sich von ihm und verfehlte damit vorweg, was Proust traf. Die Anekdote von jenem alten Mönch, der in der ersten Nacht nach seinem Tod einem befreundeten Ordensbruder im Traum erscheint und ihm »Alles ganz anders« zuflüstert, könnte Prousts Recherche zur Maxime dienen, als einem corpus von Recherchen darüber, wie es denn nun im Gegensatz zu dem, worin alle einig sind, wirklich gewesen sei: der ganze Roman ist ein einziger Revisionsprozeß des Lebens gegen das Leben. Die Episode von der Entzweiung mit dem bewunderten Onkel Adolf enthüllt am Schluß die völlige Disparatheit von subjektiven Motiven und objektiv Geschehendem. Die Kokotte aber, die ohne Schuld das Unheil auslöst, bleibt trotz jenes Bruchs dem Roman unverloren. Sie wird als Odette Swann eine seiner Hauptfiguren und bringt es zu den größten gesellschaftlichen Ehren, so wie der Sohn des Kammerdieners jenes Onkels, Morel, Tausende von Seiten später den Sturz des hochmögenden Barons Charlus herbeiführt. In Prousts Werk ist eine der sonderbarsten Erfahrungen aufgefangen, eine, die jeglicher Verallgemeinerung sich zu entziehen scheint und darum im Sinne der Recherche das Urbild wahrer Allgemeinheit ist: daß die Menschen, mit denen wir im Leben entscheidend zu tun haben, wie von einem unbekannten Autor designiert und abgezählt auftreten, als hätten wir sie an dieser und keiner anderen Stelle erwartet; und daß sie, auch aufgeteilt zwischen mehrere Personen, uns immer wieder begegnen. Diese Erfahrung aber läuft wohl darauf hinaus, daß gegen ihr Ende die liberale Gesellschaft, die sich noch als offene verkennt, nach Bergsons Begriffen zu einer geschlossenen wird, einem System prästabilierter Disharmonie.
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 37–39; 113–114
Unter den verhärteten Vorstellungen, welche das allgemeine Bewußtsein wie einen Besitz hütet und welche Prousts Eigensinn, der eines Kindes, das es sich nicht ausreden läßt, zerstört, ist die wichtigste vielleicht die von der Einheit und Ganzheit der Person. An kaum einer Stelle speichert sein Werk so heilsames Gegengift gegen falsche Heiltümer von heutzutage auf als an dieser. Die Vormacht der Zeit holt ästhetisch den von Hume abgeleiteten Satz Ernst Machs ein, das Ich sei nicht zu retten; aber haben jene es nur als Einheitsprinzip der Erkenntnis verworfen, so präsentiert er dem vollen empirischen Ich die Rechnung seiner Nichtidentität. Der Geist jedoch, in dem das geschieht, ist dem des Positivismus nicht nur verwandt sondern auch entgegengesetzt. Wohl führt Proust konkret durch, was die Poetik sonst nur als formale Forderung aufstellt, die Entwicklung der Charaktere, und dabei zeigt sich, daß die Charaktere keine sind; eine Hinfälligkeit des Festen, die vom Tod ratifiziert, keineswegs aber erst hervorgebracht wird. Diese Auflösung jedoch ist gar nicht so sehr psychologisch als eine Flucht der Bilder. Mit ihr greift Prousts psychologisches Werk die Psychologie selber an. Was an den Menschen sich ändert, entfremdet wird bis zur Unkenntlichkeit, und wie in musikalischer Reprise wiederkehrt, sind die imagines, in die wir sie versetzen. Proust weiß, daß es ein An sich der Menschen, jenseits dieser Bilderwelt, nicht gibt; daß das Individuum eine Abstraktion ist, daß sein Fürsichsein allein so wenig Wirklichkeit hat wie sein bloßes Fürunssein, wie es dem vulgären Vorurteil für Schein gilt. Das unendlich komplexe Gefüge des Romans ist unter diesem Aspekt der Versuch, durch eine Totalität, welche Psychologie, Beziehungen zwischen Personen, und Psychologie des intelligiblen Charakters, also Verwandlung der Bilder, zusammennimmt, jene Wirklichkeit zu rekonstruieren, die durch jeglichen aufs bloß tatsächlich Psychologische oder Soziologische gerichteten Blick um dessen Vereinzelung willen nicht zu gewinnen wäre. Auch darin ist sein Werk das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, das letzte Panorama. Die oberste Wahrheit aber sieht Proust in den Bildern der Menschen, die über ihnen sind, jenseits ihres Wesens und jenseits ihres zum Wesen selber gehörigen Erscheinens. Der Entwicklungsprozeß des Romans ist die Beschreibung der Bahn dieser Bilder. Sie hat Stationen wie die drei Stellen, die sich auf Oriane Guermantes beziehen; die erste Konfrontation ihres Bildes mit der Empirie in der Kirche von Combray, dann ihre Wiederentdeckung und Modifikation, als die Familie des Erzählers im Pariser Haus der Herzogin, in ihrer unmittelbaren Nähe wohnt, schließlich das Erstarren ihres Bildes in der Photographie, die der Erzähler bei seinem Freund Saint-Loup bemerkt.
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 54–56
Eine von den Formulierungen, die zur Charakteristik Prousts taugen, könnte in seinem wie ein Spiegelsaal in sich reflektierten Werk ganz wohl selber stehen. Es ist die, daß der 1871 Geborene die Welt bereits mit den Augen der dreißig oder fünfzig Jahre Jüngeren sah; daß er also, auf einer neuen Stufe der Romanform, auch die einer neuen Weise von Erfahrung repräsentiere. Das setzt sein mit so vielen Modellen aus der französischen Tradition, etwa den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon und der Comédie humaine Balzacs spielendes Werk in die unmittelbare Nähe einer traditionsfeindlichen Bewegung, deren Anfänge er eben noch miterlebte, des Surrealismus. Diese Affinität beschließt Prousts Moderne in sich. Ihm wird das Zeitgenössische mythisch wie für Joyce. Surrealistische Störungsaktionen, wie die Dalis, der eine Abendgesellschaft im Taucheranzug besuchte, hätten, als Metapher verbrämt, durchaus ihren Ort in einer Beschreibung wie der der großen Soirée der Princesse de Guermantes in ›Sodom und Gomorra‹. Prousts mythologisierender Zug will aber keine Reduktion des Gegenwärtigen aufs Uralte und sich Gleichbleibende; ganz gewiß zeitigt ihn keine Gier nach psychologischen Archetypen. Sondern er ist surrealistisch insofern, als er mythische Bilder der Moderne entlockt, wo sie am modernsten ist; darin verwandt der Philosophie Walter Benjamins, seines ersten großen Übersetzers. Im Guermantes-Teil wird ein Theaterabend beschrieben. Der von einem Publikum in großer Toilette besuchte Zuschauerraum verwandelt sich in eine Art jonischer Seelandschaft, ja ähnelt sich dem Unterwasserreich maritimer Naturgottheiten an. Der Erzähler selbst aber spricht davon, daß »Gestalten der Meeresungeheuer«, mythische Bilder sich fügen einzig nach den Gesetzen der Optik und dem jeweiligen Einfallswinkel – – also einer dem Bewußtsein äußerlichen, naturwissenschaftlichen Notwendigkeit gehorchend. Was wir um uns erblicken, blickt vieldeutig, rätselhaft auf uns zurück, weil wir in nichts das Erblickte mehr als Unseresgleichen wahrnehmen: Proust redet von »den Mineralien und Leuten, zu denen wir keine Beziehung haben«. Die gesellschaftliche Entfremdung der Menschen voneinander in der hochliberalen bürgerlichen Gesellschaft, wie sie im Theater sich zur Schau stellte und genoß; die Entzauberung der Welt, welche den Menschen Dinge und Menschen zu bloßen Dingen werden ließ, verleiht dem Unverständlichen zweite Bedeutung. Daß sie wahnhaft sei, daran erinnert Proust mit der Wendung, wir zweifelten in solchen Augenblicken an unserem Verstande. Dennoch ist sie Wahrheit. Durch die vollendete Entfremdung hindurch enthüllt sich das gesellschaftliche Verhältnis als blind naturwüchsiges, so wie die mythische Landschaft es war, zu deren allegorischem Bild das Unerreichbare und Unansprechbare gerinnt; und die Schönheit, welche die Dinge in solchen Beschreibungen annehmen, ist die hoffnungslose ihres Scheinens. Im geschichtlichen Einstand drücken sie die Naturverfallenheit von Geschichte aus.
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 56–59
Die Beschreibung des Theaters als vorweltlich mediterraner Landschaft leitet einige Seiten über die Prinzessin von Guermantes-Bayern ein, welche, dank jener Beschreibung, als Große Göttin eingeführt werden kann. Was von ihr gesagt wird und von der Wirkung, die sie auf die Anwesenden ausübt, ist ein Exempel jener durchs ganze Werk hindurch verstreuten Passagen, die unsympathische Leute veranlassen, über Prousts Snobismus zu zetern, und die den Schwachsinn des mittleren Fortschritts herausfordern, der fragt, warum man für eine schon zu Prousts Zeiten ihrer realen Funktion enteignete und statistisch keineswegs repräsentative Hocharistokratie sich interessieren solle. Auch André Gide, der von Haus aus in gewissem Sinn gesellschaftlich mehr dazugehörte als Proust, scheint zunächst an den Proustschen Prinzessinen sich geärgert zu haben, und noch André Maurois, dessen Buch in manchen subtilen Details über die Vermittlersphäre hinausweist, aus der es stammt, weiß vom Snobismus als einer Gefahr Prousts zu melden, die er überwunden habe. Statt dessen stünde es an, Proust gegenüber nach dem Satz von Hofmannsthal zu verfahren, der eine ihm vorgeworfene Schwäche lieber gut erklären wollte als verleugnen. Denn daß Proust selber von seinem Swann sich imponieren ließ, weil dieser, wie der Erzähler nicht müde wird zu wiederholen, tatsächlich dem Jockeyklub angehörte und als Sohn eines Börsenmaklers in der großen Gesellschaft reçu war, ist so offenbar, daß Proust es darauf angelegt haben muß, die eigene provokatorische Neigung hervorzukehren. Man wird aber ihrem Sinn am ehesten auf die Spur kommen, wenn man der Provokation folgt. Snobismus, so wie der Begriff Prousts Recherche durchherrscht, ist die erotische Besetzung gesellschaftlicher Tatbestände. Darum verletzt er ein gesellschaftliches Tabu, das an dem gerächt wird, der auf die heikle Sache zu sprechen kommt. Bekennt der Antipode des Snobs, der Zuhälter, durch seinen Beruf die Verflochtenheit des Sexus mit dem Erwerb ein, welche die bürgerliche Gesellschaft zudeckt, so demonstriert umgekehrt der Snob, was nicht minder allgemein gilt, die Ablenkung der Liebe von der Unmittelbarkeit der Person auf die sozialen Verhältnisse. Der Zuhälter vergesellschaftet den Sexus, der Snob sexualisiert die Gesellschaft. Gerade weil diese die Liebe eigentlich nicht duldet, sondern dem Reich ihrer Zwecke unterwirft, wacht sie wütend darüber, daß Liebe mit ihr nichts zu tun habe, daß diese Natur, reine Unmittelbarkeit sei. Der Snob verschmäht die approbierte Neigungseinheirat, aber verliebt sich in die hierarchische Ordnung selbst, die ihm die Liebe austreibt und die solche Gegenliebe schlechterdings nicht ertragen kann. Er läßt die Katze aus dem Sack, der dann das Proustsche oeuvre die Schelle anhängt: nicht umsonst wird ihm, wie vor vierzig Jahren Carl Sternheim, automatisch der Vorwurf gemacht, daß er als Kritiker des Snobismus jenem von ihm übrigens harmlos genannten Laster verfallen gewesen sei, während doch bloß der dem gesellschaftlichen Verhältnis die eigene Melodie vorzuspielen vermag, der ihm idiosynkratisch verfallen war, anstatt mit der Rancune des Ausgeschlossenen es zu verleugnen. Was ihm aber an den vorgeblich überflüssigen Luxusexistenzen aufging, rechtfertigt seine Vernarrtheit. Dem Hingerissenen wird die gesellschaftliche Ordnung ins Märchenbild transfiguriert wie einmal die Geliebte dem wahren Liebenden. Den Proustschen Snobismus entsühnt, was ihm die Instinkte der nivellierten Mittelstandsgesellschaft insgeheim vorwerfen: daß die angebeteten Erzengel und Mächte kein Schwert mehr haben, selbst schutzlose Nachbilder ihrer liquidierten Vergangenheit wurden. Wie jede Liebe möchte der Snobismus aus der Verstrickung bürgerlicher Verhältnisse hinaus in eine Welt, die nicht länger durch universale Nützlichkeit übertüncht, daß sie die Bedürfnisse der Menschen nur akzidentell befriedigt. Prousts Regression ist ein Stück Utopie. Wie die Liebe scheitert er daran, aber im Scheitern denunziert er die Gesellschaft, die befiehlt, daß es nicht sein soll. Jene Unmöglichkeit der Liebe, die er an seinen society-Leuten, allen voran an der eigentlichen Zentralfigur der Recherche, dem Baron Charlus, darstellte, dem am Ende nur noch ein Zuhälter die Freundschaft wahrt, hat sich unterdessen als Kältetod über die gesamte Gesellschaft ausgebreitet, in der die Totalität des Funktionierens selbstvergessene Liebe, wo sie sich noch regt, erstickt. Darin war Proust, was er einmal den Juden zuschreibt, prophetisch. Demütig hat er um die Gunst von Stockreaktionären wie Gaston Calmette und Léon Daudet geworben; aber einer, der an gewissen Tagen das Monokel trug, hieß Karl Marx.
ZU ›IM SCHATTEN JUNGER MÄDCHENBLÜTE‹, 475–478
Baron de Charlus ist der Bruder des Herzogs von Guermantes. Die Szene seines ersten Auftritts bezeugt das Verhältnis Prousts zur französischen Décadence, die er verkörpert zugleich und unter sich läßt, indem sein Werk sie geschichtlich beim Namen ruft. Ein berühmter Roman aus jener Epoche heißt A Rebours, Gegen den Strich: Proust hat die Erfahrung gegen den Strich gekämmt. Aber das »Alles ganz anders« bliebe geschlagen mit der Ohnmacht des Aparten, wäre nicht seine Kraft auch die des »So ist es«. Aufmerksam machen möchte ich auf Prousts Bemerkung, daß manche Leute einen Laut ausstoßen, als wäre es ihnen übermäßig schwül, ohne daß sie doch so empfänden. Ihre Evidenz kommt ihrer Abseitigkeit gleich. Das schlechte Allgemeine zersetzt sich unter Prousts süchtigem Blick, aber was für zufällig gilt, gewinnt dafür eine quere, irrationale Allgemeinheit. Einem jeden, der überhaupt die Voraussetzungen zur Lektüre Prousts mitbringt, wird es vielerorten zumute sein, als wäre es ihm so, eben so ergangen. Mit der Tradition des großen Romans teilt Proust die vom jungen Lukács herausgearbeitete Kategorie des Kontingenten. Er schildert das sinnverlassene, vom Subjekt her nicht als Kosmos zu rundende Leben. Trotzdem aber ist seiner Beharrlichkeit, welche die der Romanciers des neunzehnten Jahrhunderts übertrifft, der Zufall nicht gänzlich sinnverlassen. Er führt einen Schein von Notwendigkeit mit sich: als wäre doch ins Dasein, wirr, äffend, geisternd in seinen dissoziierten Bruchstücken, ein Bezug auf Sinn eingesprengt. Diese Konstellation einer bloß negativ zu spürenden Notwendigkeit in dem ganz Zufälligen – auch sie vorweisend auf Kafka – reißt das besessen individuierte Werk Prousts hoch über die eigene Individuation: in deren Kern legt er das Allgemeine frei, durch das sie vermittelt ist. Solche Allgemeinheit aber ist die des Negativen. Proust hat, wie seine Antipoden, die Naturalisten vor ihm, mit der entlegensten Beobachtung Recht, aber dies Recht ist das der Desillusion und verweigert jeden tröstlichen Zuspruch. Er gibt, wo er nimmt: wo er Recht hat, ist Schmerz. Sein Medium ist der Verfolgungswahn, dem Prousts Triebstruktur nahe verwandt war und der auch in der Physiognomik seines Charlus nicht fehlt. Der hinter sich die Brücken abbrach, besetzt das Sinnlose mit Sinn und Bedeutung, aber gerade sein Wahn reicht an das heran, was die Welt gemacht hat aus sich und aus uns.
Der fünfte Band der Recherche, Die Gefangene, ist, wie schon der zweite Teil des ersten, eine Darstellung der Eifersucht. Der Erzähler hat Albertine zu sich genommen, mißtraut all ihren Worten und Handlungen und hält sie unter einer Kontrolle, der sie sich schließlich durch die Flucht entzieht; danach erleidet sie einen tödlichen Unglücksfall. Nicht müde wird der Autor zu versichern, daß er, während er alle Qualen um Albertine auskostet, sie schon gar nicht mehr liebe. Liebe und Eifersucht sind nicht so miteinander verbunden, wie die gängige Vorstellung es möchte. Eifersucht pocht allemal auf ein Besitzverhältnis, das die Geliebte zum Ding macht, und frevelt so gegen die Spontaneität, an der Liebe ihre Idee hat. Aber Prousts Eifersucht ist nicht bloß der ohnmächtige Versuch, die Flüchtige festzuhalten, die er liebt um ihrer Flüchtigkeit, um des nie ganz zu Haltenden willen. Sondern es möchte diese Eifersucht, wie Proust das Leben, Liebe wiederherstellen. Das gelingt ihr aber nur um den Preis der Individuation der Geliebten. Sie muß, um unbeschädigt zu sein von der eigenen Lüge, in Natur sich zurückverwandeln, ins Gattungswesen. Indem sie ihre psychologische Individualität einbüßt, empfängt sie jene andere und bessere, der Liebe gilt, die des Bildes, das jeder Mensch verkörpert und das ihm selber so fremd ist wie, der Kabbala zufolge, der mystische Name dem, der ihn trägt. Das geschieht im Schlaf. In ihm legt Albertine ab, wodurch sie nach der Ordnung der Welt zum Charakter wird. Sich lösend ins Amorphe, gewinnt sie die Gestalt ihres unsterblichen Teils, an welche Liebe sich heftet: die blickloser, bilderloser Schönheit. Es ist, als wäre die Beschreibung von Albertines Schlaf die Exegese des Baudelaireschen Verses von der, welche die Nacht schön macht. Diese Schönheit gewährt, was das Dasein verweigert, Geborgenheit, aber im Verlorenen. Die arme, hinfällige, verwirrte Liebe findet Unterschlupf, wo die Geliebte dem Tode sich anähnelt. Seit dem zweiten Akt des Tristan ist, im Zeitalter des Verfalls von Liebe, diese nicht inniger verherrlicht worden als in der Beschreibung von Albertines Schlaf, die mit erhabener Ironie den Erzähler Lügen straft, der seine Liebe verleugnet.
Von den letzten Dingen ist nicht unmittelbar mehr zu reden. Das ohnmächtige Wort, das sie selber nennt, schwächt sie selbst; Naivetät sowohl wie trotzige Unbekümmertheit im Ausdruck metaphysischer Ideen verrät deren Mangel an Verbürgtheit. Aber Prousts Geist war metaphysisch ganz und gar inmitten einer Welt, welche die Sprache von Metaphysik verbietet: diese Spannung bewegt sein gesamtes Werk. Einmal nur, in der Gefangenen, öffnet er einen Spalt, so hastig, daß das Auge keine Zeit hat, an solches Licht sich zu gewöhnen. Selbst das Wort, das er findet, läßt nicht beim Wort sich nehmen. Hier, in der Darstellung des Todes Bergottes, findet wirklich sich ein Satz, dessen Ton zumindest in der deutschen Version an Kafka anklingt. Er lautet: »Der Gedanke, Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig unglaubhaft.« Die Reflexion, die darauf führt, ist die, daß die moralische Kraft des Dichters, dem er das Epitaph schreibt, einer anderen Ordnung als der natürlichen angehöre und darum verheiße, diese sei nicht die letzte. Vergleichbar wäre diese Erfahrung der an großen Kunstwerken: daß ihr Gehalt unmöglich nicht wahr sein könne; daß ihr Gelingen und ihre Authentizität selber auf die Realität dessen verwiesen, wofür sie einstehen. Tatsächlich möchte man die Stellung der Kunst im Proustschen Werk, sein Vertrauen in die objektive Macht von dessen Gelingen, mit jenem Gedanken zusammenbringen, dem letzten, blassen, säkularisierten und dennoch unauslöschlichen Schatten des ontologischen Gottesbeweises. Der, an dessen Tod im Werke Prousts einzig die Hoffnung sich knüpft, ist nicht nur der Zeuge von »Güte und Gewissenhaftigkeit«, sondern selber ein großer Schriftsteller. Sein Modell war Anatole France. Erinnerung ans ewige Leben entzündet sich an dem Voltairianischen Skeptiker: Aufklärung, der Prozeß von Entmythologisierung soll umschlagend die ihrer selbst eingedenkende Natur hinausführen über den eigenen Zusammenhang. Authentisch ist das Proustsche Werk, weil seine auf Rettung abzielende Intention frei ist von aller Apologie, allem Versuch, irgendeinem Seienden Recht zu geben, irgend Dauer zu verheißen. Aus non confundar hofft er in der schutzlosen Preisgabe an den Zusammenhang von Natur; der Rest ist ihm noch einmal, mit dem äußersten Hintersinn, Schweigen. Darum wird Zeit, die Macht von Vergängnis selber, die oberste Wesenheit, zu der Prousts Werk, in seinen tausend Brechungen auch ein Roman philosophique wie die Voltaireschen und die Franceschen, aufblickt. Sein Gehalt ist dem theologischen so viel näher als der der Lehre Bergsons, wie er ferner sich hält von jeglicher Positivität. Die Idee von Unsterblichkeit wird nur geduldet an dem, was selber, wie er wohl wußte, vergänglich ist, den Werken als den letzten Gleichnissen von Offenbarung in der wahren Sprache. So träumt an einer späteren Stelle Proust in der Nacht, nachdem sein erstes Feuilleton im Figaro erschien, von Bergotte, als wäre er noch am Leben – als erhöbe das gedruckte Wort Einspruch gegen den Tod, bis der erwachende Dichter der Vergeblichkeit noch dieses Trostes innewird. Jede Interpretation der Stelle bleibt hinter ihr zurück; nicht, wie das Cliché es will, weil ihre künstlerische Würde höher stünde als der Gedanke, sondern weil sie selbst an der Grenze angesiedelt ist, auf die auch der Gedanke stößt.
Fußnoten
1 Die Seitenangaben beziehen sich auf die siebenbändige, 1953 bis 1957 zuerst erschienene Ausgabe der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens (Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., und Rascher Verlag, Zürich).