Gesellschaftstheorie und empirische Forschung
Seit 1957 hat sich mit zunehmender Intensität in der deutschen Soziologie eine Kontroverse entwickelt, die einstweilen auf dem 16. Deutschen Soziologentag in Frankfurt kulminierte. Dokumente dazu sind in dem Band »Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«1 erschienen. Die beiden Richtungen, die miteinander diskutieren, mögen schlagworthaft als »kritische Gesellschaftstheorie« und »Positivismus« bezeichnet werden, obwohl das nicht ganz exakt ist. Von den summarisch als Positivisten bezeichneten Soziologen wollen einige der Aktivsten sich selbst nicht als Positivisten verstanden wissen. Ich möchte heute nicht auf die Grundsatzdebatte eingehen, wohl aber auf ihre wissenschaftspraktische Konsequenz. Verbreitet ist nämlich die Ansicht, die Vertreter der kritischen Richtung, für die der Name »Frankfurter Schule« sich eingebürgert hat, stünden der empirischen Sozialforschung fremd, wenn nicht ablehnend gegenüber, obwohl diese Schule seit mehr als 30 Jahren durch empirische Untersuchungen sich qualifiziert hat. René König, der zwar unmittelbar in die Kontroverse noch nicht eingegriffen hat, aber fraglos zur positivistischen Seite gezählt werden darf, schlug eine Terminologie vor, derzufolge man, was er »Sozialphilosophie« nennt und was sich weithin mit »kritischer Gesellschaftstheorie« deckt, überhaupt von Soziologie trennen müßte. Das mag dem unbefangenen Leser wie eine bloße Nomenklaturangelegenheit vorkommen; aber es stehen sehr reale Interessen dahinter. Wird die »kritische Gesellschaftstheorie« aus der Soziologie herausgegliedert, so erlangt in dieser die empirische Richtung ein Monopol; da umfangreichere soziologische Untersuchungen, soweit sie auf Meinungen, Verhaltensweisen, Motivationen breiter Bevölkerungskreise abzielen, meist auf Teamwork angewiesen sind, werden die Kosten solcher Untersuchungen, im Gegensatz zur Arbeit des Gelehrten alten Stils am Schreibtisch, erheblich. Die Vertreter einer kritischen Soziologie jedoch möchten keineswegs, wie ihnen gern unterstellt wird, bei der Schreibtischarbeit sich bescheiden; auch sie bedürfen der sogenannten »Feldforschung«. Zöge man aus jener Trennung organisatorisch-finanzielle Folgerungen, so drohte der kritischen Richtung schwerster Nachteil. Empirische Untersuchungen würden zum Vorrecht der Empiristen. Demgegenüber kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, daß es bei dem Streit nicht um empirische Forschung oder deren Unterbleiben geht, sondern um ihre Interpretation, um die Stellung, die ihr innerhalb der Soziologie zugewiesen wird. Kein besonnener Sozialwissenschaftler kann der empirischen Forschung entraten; nicht nur, weil in Deutschland die losgelassene Spekulation – jene geistige Verhaltensweise, von der eine große Repräsentantin kritischer Theorie sagte: »was bringt ein starker Denker nicht alles fertig«, – durch Lehren wie die von der Rasse als dem entscheidenden Faktor des gesellschaftlichen Lebensprozesses aufs schwerste kompromittiert wurde. Darüber hinaus hat sich seit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus und seiner mehr oder minder verkappten Nachfolgerichtungen das Verhältnis zu den Fakten von grundauf verändert. Sagte Walter Benjamin, gewiß kein Positivist, einmal, daß die Gewalt des Daseins heute mehr bei Fakten als bei Überzeugungen liege, so hat er dem Bewußtsein jener heute allgegenwärtigen Übermacht des Seienden Ausdruck verliehen, der der Geist nicht anders sich gewachsen zeigt, als indem er mit Seiendem, mit Fakten sich sättigt. Galten diese einmal als blind und geistfremd, so kann heute der Geist, der einmal sich souverän dünkte, einzig daran sich bewähren, daß er die Fakten zum Sprechen bringt. Ist er aber auf Empirie verwiesen, so kann er nicht den Methoden kontrollierter empirischer Forschung sich verschließen, die sich herauskristallisiert haben, wie wenig er auch diese Methoden, die quantitativen, als letztes Ziel ansehen wird; denn Methoden sind es, Wege, nicht Selbstzweck. Fruchtbare Erkenntnis, die aus quantitativen Untersuchungen herausspringt, muß notwendig ihrerseits ein Qualitatives sein, sonst erschöpft tatsächlich Soziologie sich in jener stumpfen Präsentation von Zahlen, die so viele Publikationen über Erhebungen, wie man heute in der ganzen Welt weiß, zur Sterilität verurteilen. Nie jedoch haben bedeutende Theoretiker der Gesellschaft empirische Untersuchungen verschmäht. In der Antike führte Aristoteles eine Studie über die Verfassungen griechischer Städte durch, die eigentlich schon dem gegenwärtigen Begriff des survey entspricht. Marx, der für den soziologischen Positivismus Auguste Comtes nichts als Verachtung hegte, wandte viel Energie an eine empirische Arbeiteruntersuchung, die »Enquête ouvrier«. »Das Kapital«, nicht weniger als »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« von Engels, sind angefüllt mit empirischem Material, das allerdings durchweg dem Beleg der theoretischen Konstruktion dient. Aber auch der auf Wertfreiheit dringende und solcher Konstruktion abgeneigte, gleichwohl ums Verständnis der großen, gesellschaftlichen Tendenzen bemühte Max Weber hat weitschichtige empirisch-soziologische Forschungen angestellt und sich nicht mit sozialhistorischem Material begnügt.
Ich erwähnte, daß die Frankfurter Schule von Anbeginn mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung arbeitete. Sie wurden in dem Band »Autorität und Familie« ebenso benutzt, wie in den amerikanischen Untersuchungen der »Authoritarian Personality«, den späteren Gruppenuntersuchungen über das politische Bewußtsein der deutschen Bevölkerung, dem Werk »Student und Politik« und jüngst den Studien über eine Skala zur Ermittlung des autoritären Potentials im nachhitlerschen Deutschland. Das Frankfurter Institut sieht eine wesentliche Aufgabe darin, seine theoretischen Konzeptionen in empirische Untersuchungen umzusetzen, um die Konzeptionen zu kontrollieren, aber auch um der empirischen Forschung Impulse zu erteilen, ihr sinnvollere Forschungsaufgaben zu stellen als das sonst häufig der Fall ist. Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, daß von jenen theoretischen Impulsen bis heute nur ein Bruchteil tatsächlich in empirische Forschungsprobleme transformiert worden ist. Teilweise liegt das gewiß am Widerstand vieler Empiriker gegen theoretische Ansätze überhaupt. Man konnte vor noch nicht langer Zeit die ernstgemeinte Äußerung hören, daß, pumpe man in eine Untersuchung gar zu viel Gedanken hinein, diese zum Vorurteil würden, welches die Objektivität der Untersuchung hemmte. Mittlerweile dürfte allerdings offenbar geworden sein, daß bei Untersuchungen, die nicht von Ideen geleitet werden, auch nichts herauskommt. Recht verstanden kann keine Untersuchung mehr an Resultaten abwerfen, als geistig in sie investiert war; nur will das nicht etwa sagen, daß die investierten Ideen auch als Resultate herauskommen müßten. Das wäre Dogmatismus. Das Forschungsinstrument mag zum Beispiel versagen, die Theoreme mögen mit den allgemein gebräuchlichen Methoden überhaupt unverifizierbar sein und vor allem, sie mögen sich als falsch erweisen. Aber wo es die Theoreme nicht gibt, wo sie fehlen, geschieht überhaupt nichts. Allenfalls werden technisch für irgendwelche Stellen verwertbare Informationen beigebracht. Daß die Soziologie darauf, auf den von Paul Lazarsfeld sogenannten administry research, sich beschränken muß, wird kaum der fanatischste Positivist mehr verlangen.
Damit indessen ist der Grund für das fortwährende Mißverhältnis von Theorie und Empirie nicht zureichend charakterisiert. Man darf es nicht verharmlosen. Soziologie tut sich, obwohl sie in ihrer neueren Gestalt, läßt man sie mit Saint-Simon beginnen, bald 200 Jahre alt ist, etwas zugute auf ihre Jugend und benutzt diese dazu, den Riß zwischen einer angeblich allwissend sich dünkenden Theorie und einem empirischen Betrieb, der unverhältnismäßig wenig an die Theorie heranreicht, als Ausdruck der im Vergleich zu den Naturwissenschaften noch nicht erlangten Reife zu erklären. In Wahrheit ist der Riß wohl davon bedingt, daß unter dem Namen Soziologie höchst Ungleichnamiges zusammengefaßt wird. Ihre Verfahrungsweisen, schrieb ich im Jahre 1957, sind miteinander verbunden nur in einem höchst abstrakten Sinn dadurch, daß sie allesamt in irgendeiner Weise Gesellschaftliches behandeln. Manche gelten der gesellschaftlichen Totalität und ihren Bewegungsgesetzen, andere im pointierten Gegensatz dazu einzelnen sozialen Phänomenen, welche auf einen Begriff der Gesellschaft zu beziehen dann als Metaphysik verfemt wird. Offensichtlich lassen derart verschiedene Interessenrichtungen und Modelle sich nicht auf den gleichen Nenner bringen. Je nachdem, ob empirische Forschung im Dienst dieser oder jener Konzeption steht, muß sie auch in sich anders geartet sein. Damit will ich keinen starren und anachronistischen Gegensatz von Gesellschaftstheorie und empirischer Forschung behaupten, allenfalls den Blick darauf lenken, was einer empirischen Forschung eigentümlich ist, die an Theorie sich orientiert und sich in theoretischem Kontext versteht. Eben daß sie das tut, entscheidet und wirkt bis in die technische Anlage theoretisch inspirierter und gesteuerter Untersuchungen hinein, auch in solche, die an die etablierten, teils statistischen, teils anderweitigen Spielregeln der empirischen Sozialforschung sich halten. Vielleicht darf ich das an Untersuchungen erläutern, an denen ich selbst wesentlich beteiligt war, einfach deshalb, weil ich ihren inneren Mechanismus am genauesten kenne. Die 1950 veröffentlichte »Authoritarian Personality« hat auf die empirische Sozialforschung in Amerika und auch in Deutschland nachhaltigen, vielfach bestätigten Einfluß ausgeübt. Eine mir längst unabsehbar gewordene Literatur hat sich an das Werk angeschlossen. Andererseits hat es, nach den üblichen Maßstäben empirischer Sozialforschung, fraglos seine schweren Mängel. Die Stichprobe, die, wie häufig in Studien, die an Universitäten ihr Zentrum haben, primär auf Studenten angewiesen war, ist alles andere als repräsentativ. Wir haben das auch nie behauptet. Die verwendeten Skalen, die sich um ein höchstes Maß qualitativer Ergiebigkeit bemühen, entsprechen nicht den äußerst strengen Kriterien der Skalierung, wie sie unterdessen seit Goodman sich herausgebildet haben. Sogar das Prinzip der indirekten Feststellung und Messung autoritärer Tendenzen hat sich der Kritik ausgesetzt; es sei zirkelschlüssig, weil man bereits wissen müßte, ob die indirekten Fragen über die Sachverhalte, auf die sie sich richten, etwas ausmachen, und weil man das nur durch direkte Fragen wissen könne, welche die indirekte Methode gerade zu vermeiden sucht. Daß trotzdem das Buch nicht nur anregte, sondern die Richtungstendenz der empirischen Sozialforschung einigermaßen änderte, liegt daran, daß es zwischen dem theoretischen Komplex einer an Freud orientierten Sozialpsychologie und den empirischen Forschungsmethoden eine konkrete Beziehung herstellte. Nicht daß es sich angemaßt hätte, Freud empirisch zu beweisen oder zu widerlegen. Angesichts des introspektiven Charakters der Psychoanalyse ist das quantitativ kaum möglich, obwohl es unterdessen auch an Versuchen dazu nicht fehlt. Wohl aber stecken die Fragen der sogenannten F-Skala, von der seinerzeit die Forschung am meisten hatte, ein Licht auf. Es werden nicht einfach Meinungen ermittelt und statistisch aufbereitet, sondern jede Frage, die auf Meinungen zielt, schließt zugleich Folgerungen für Charakterstruktur und latente Neigungen ein, die sich politisch auswirken mögen. Da in der »Authoritarian Personality« nicht nur Fragebogen nach der sogenannten Klassenzimmermethode verwendet wurden, sondern eine ganze Reihe anderer Tests sowie klinische Interviews, die in denselben Zusammenhängen ihr Zentrum hatten, und da die Resultate zusammenstimmten, so hat sich die Produktivität des Ansatzes trotz der technischen Mängel erwiesen, die man der Studie vorwerfen kann. Derlei Mängel sind übrigens gerade bei soziologischen Untersuchungen, denen Einsicht in wesentliche Sachverhalte wichtiger ist als die bloße Korrektheit des Verfahrens, schwerlich ganz zu vermeiden. Wer im Bereich der empirischen Sozialforschung intensiv gearbeitet hat, wird bestätigen, daß man unablässig vor der Wahl steht zwischen absolut hieb- und stichfesten Befunden, die sich verallgemeinern lassen, aber vielfach trivial sind, und solchen, bei denen im Ernst etwas herausschaut, die aber nicht ebenso rigoros den Spielregeln folgen. Erwähnt werden mag, daß die Übersetzungen von Theoremen in empirische Fragestellungen, die auch ich anstrebe, für die Theorie ebenfalls schwere Probleme mit sich bringen. Theoreme als solche sind nicht, wozu sie in empirischen Untersuchungen werden, Hypothesen, nicht Voraussagen über faktisch Eintretendes. Sie schießen ihrem Gehalt nach über das Faktische hinaus, halten fest an dem Unterschied von Wesen und Erscheinung, den gerade der Empirismus nicht Wort haben möchte. Einem strengen Psychoanalytiker würde es so wenig schwer fallen, quantitative Untersuchungen anzugreifen, die selbst naturgemäß keine ausgeführten Psychoanalysen sein können, wie der orthodoxe Sozialforscher an ihnen eben die Momente beanstandenswert finden mag, die – vielleicht – sich produktiv zeigten. Wir haben trotzdem jene Verbindung gesucht und suchen sie weiter. Sehr grundsätzliche gesellschaftstheoretische Erwägungen veranlassen uns dazu, an jenem Unterschied von Wesen und Erscheinung festzuhalten, der für den offiziellen Empirismus tabu ist. Wir vermuten ihn in der Differenz der einfachen, geäußerten Meinung von dem, was darunterliegt. Wesen und Erscheinung sind kein Märchen aus alten Zeiten, sondern bedingt von der Grundstruktur einer Gesellschaft, die notwendig ihren eigenen Schleier zeitigt.
Ich habe damit den Begriff einer objektiven Gesellschaftsstruktur ins Spiel gebracht. Wenigstens andeuten möchte ich, wie jener Begriff in der Konzeption empirischer Forschung sich geltend macht, um die es uns geht. Der orthodoxe social research, der zwar zuweilen Lippenbekenntnisse für die Theorie ablegt, diese aber doch eigentlich als notwendiges Übel betrachtet, geht, wie der Erzvater des Empirismus, John Locke, von der Vorstellung einer tabula rasa, einer leeren Tafel aus. Der Sozialforscher habe sich an die Äußerungen der Befragten nach dem Modell des Plebiszits oder der Marktforschung zu halten, ohne daß er dabei um das sich kümmere, worauf die Meinungen sich beziehen. Diese sind ihm die letzte Rechtsquelle der Erkenntnis. Daß sie ihrerseits gesellschaftlich vermittelt sind, wird er zwar selten schlankweg leugnen, aber im allgemeinen damit zufrieden sein, dieser Vermittlung durch sogenannte Motivationsuntersuchungen nachzugehen, also festzustellen, auf welche Weise Probanden zu ihrer Meinung gekommen sind. Damit bleibt selbstverständlich der Schwerpunkt der Untersuchung die bloße Subjektivität der Probanden. Die Konzeption nun, durch welche wir Theorie und empirische Forschung einander durchdringen lassen möchten, bescheidet sich nicht bei den Subjekten, ebensowenig aber auch bei allgemeinen Aussagen über die Gesellschaft. Diese freilich, der allesdurchdringende Äther dessen, was die übliche Soziologie »zwischenmenschliche Beziehungen« nennt, ist ihrerseits ein Abstraktes, nicht in einzelnen Fakten dingfest zu Machendes. Am vernünftigsten scheint es uns, quantitativ empirische Untersuchungen zu beziehen auf Analysen der objektiven gesellschaftlichen Institutionen, mit denen die zu ermittelnden Meinungen und Verhaltensweisen etwas zu tun haben. Im Bereich der Soziologie der Verbände etwa studieren wir nicht nur deren Ideologie, wie sie in Äußerungen der Verbandsangehörigen sich spiegelt, sondern, soweit es uns möglich ist, die Organisation selber. Wir analysieren die Publikationen, mit denen sie auf ihre Mitglieder einwirkt, vor allem jedoch ihre eigene Struktur, zumal die Frage, ob die Organisation tatsächlich eine Funktion hat und den Komplex, der seit Max Weber und Robert Michels als der der Bürokratisierung, Verfestigung und Verselbständigung wichtig wurde. Die Gegenüberstellung der subjektiven Meinungen mit jenen objektiven Momenten, ergibt wesentlicheres als die tabula-rasa-Methode, für die die Meinung König ist, wie angeblich der Käufer auf dem Markt. Halten Verbandsangehörige an ihrem Verband fest, obwohl er, wie man im soziologischen Jargon sagt, dysfunktional, also nicht mehr notwendig, überflüssig geworden ist, so hat man daran einen objektiven Maßstab für die Kritik falschen Bewußtseins, die Kritik von Ideologie. Selbstverständlich sind auch der orthodoxen Sozialforschung solche Momente nicht fremd. Sie werden aber als background information, als zusätzliche Auskünfte über den Hintergrund der subjektiv gerichteten Erhebung präsentiert, in der unbestimmten Hoffnung, man lerne dadurch die subjektiven Reaktionsweisen besser verstehen, ohne daß der entscheidende Schritt, die Konfrontation der subjektiven und objektiven Momente, im Ernst vollzogen wäre. Unter diesem Aspekt mag die so gern spekulativ gescholtene Frankfurter Schule realistischer sein als ihre Kontrahenten. Denn das an Subjekten Ermittelte ist zu einem Grad, der seinerseits der wissenschaftlichen Feststellung nicht sich entzieht, Funktion der objektiven Gegebenheiten.
Ich habe nicht systematisch das Programm dessen entwickelt, was man vielleicht einmal kritische oder dialektische Sozialforschung nennen wird, sondern lieber ein paar Nervenpunkte berührt, Modelle gegeben, an denen flagrant wird, worauf die vielberedeten Differenzen eigentlich hinauslaufen. Die kritische Sozialforschung möchte die Empirie durch ihre theoretische Entschlüsselung erst ganz produktiv machen. Zum Schluß darf ich auf ein Paradoxon aufmerksam machen. Der Empirismus ist, seinem Begriff nach, eine Philosophie, welche der Erfahrung in Erkenntnis den Vorrang zuerkannt hat; in Wahrheit aber wurde, wie ich meine, wegen eines Mangels an Selbstreflexion des Empirismus, Erfahrung im empiristisch kontrollierten Wissenschaftsdenken nicht sowohl befreit und entbunden, als gegängelt und gefesselt. Uns lockt es, die Erfahrung gegen den Empirismus zu verteidigen, einen minder eingeschränkten, minder engen und verdinglichten Begriff von Erfahrung der Wissenschaft zuzubringen. Ziel der Kontroverse ist nicht ein Ja oder Nein zur Empirie, sondern die Interpretation von Empirie selber, zumal der sogenannten empirischen Methoden. Solche Interpretation ist philosophisch bei uns nicht weniger als bei den Empiristen. Der Empirismus ebenso wie die Dialektik ist einmal Philosophie gewesen. Gesteht man das jedoch zu, so verliert das Wort »Philosophie«, das man uns entgegenhält, als wäre es eine Schande, seinen Schrecken und enthüllt sich als Bedingung ebenso wie als Ziel einer Wissenschaft, die mehr sein will denn bloß Technik und die technokratischer Herrschaft nicht sich beugt.
Fußnoten
1 Vgl. Theodor W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied, Berlin 1969.