Drei Studien zu Hegel
Aspekte
Erfahrungsgehalt
Skoteinos oder Wie zu lesen sei
Als eine neue Auflage der ›Aspekte der Hegelschen Philosophie‹ fällig wurde, wollte der Autor die Schrift durch die Abhandlung über den Hegelschen Erfahrungsgehalt ergänzen, die er mittlerweile publiziert hatte. Darüber hinauszugehen bewog ihn die Analogie zum Spruch Tres homines faciunt collegium: drei Abhandlungen machen ein sei's auch kurzes Buch. Er hat also, einem längst gehegten Plan gemäß, Erwägungen über Fragen des Hegelverständnisses niedergelegt. Sie gehen auf die Arbeit im Frankfurter Philosophischen Seminar der Universität zurück. Seit langen Jahren beschäftigen sich dort Max Horkheimer und der Autor vielfach mit Hegel; anzuknüpfen war an das im Unterricht Beobachtete. Angesichts der Einheit des philosophischen Denkens der beiden für die einschlägigen Interpretationen Verantwortlichen konnte auf einzelne Hinweise verzichtet werden.
Um Enttäuschungen vorzubeugen, sei betont, daß ›Skoteinos‹ nicht etwa beansprucht, die ausstehende Aufhellung der Hegelschen Haupttexte selbst zu leisten. Formuliert sind lediglich prinzipielle Überlegungen zu der Aufgabe; allenfalls wird geraten, wie zum Verständnis zu gelangen sei, ohne daß irgendeiner von der Anstrengung dispensiert wäre, jene Überlegungen an den Texten zu konkretisieren. Nicht um Erleichterung der Lektüre geht es, sondern darum, zu verhindern, daß die außerordentliche Mühe vertan werde, die Hegel nach wie vor zumutet. Auf Anweisungen, wie er zu lesen sei, wäre zu übertragen, woran er die Erkenntnistheorie erinnert: sie könnten nur im Vollzug der durchgeführten Einzelinterpretation glücken. Die Grenzen einer Propädeutik, die der Autor sich setzen mußte, wären dadurch überschritten worden. Daß er dort aufhörte, wo erst zu beginnen wäre, mag manche der offenbaren Unzulänglichkeiten entschuldigen, die ihn verdrießen.
Absicht des Ganzen ist die Vorbereitung eines veränderten Begriffs von Dialektik.
Frankfurt, Sommer 1963
Aspekte
Ein chronologischer Anlaß wie der hundertfünfundzwanzigste Todestag Hegels hätte zu dem verführen können, was man Würdigung nennt. Aber deren Begriff, wenn er überhaupt je etwas taugte, ist unerträglich geworden. Er meldet den unverschämten Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und wer von Berufs wegen mit dem befaßt ist, über den er zu reden hat, darum auch souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute – und schon die sogenannte Hegel-Renaissance hob vor einem halben Jahrhundert mit einem Buch Benedetto Croces an, das Lebendiges und Totes in Hegel auseinanderzuklauben sich anheischig machte –, klingt diese Anmaßung mit. Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet; ob nicht etwa die Vernunft, zu der man seit seiner absoluten gekommen zu sein sich einbildet, in Wahrheit längst hinter jene zurückfiel und dem bloß Seienden sich anbequemte, dessen Last die Hegelsche Vernunft vermöge der im Seienden selbst waltenden in Bewegung setzen wollte. Alle Würdigungen fallen unter das Urteil aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, das über jene ergeht, die nur darum über den Sachen sind, weil sie nicht in den Sachen sind. Sie verfehlen vorweg den Ernst und das Verpflichtende von Hegels Philosophie, indem sie ihm gegenüber betreiben, was er mit allem Recht geringschätzig Standpunktphilosophie nannte. Will man nicht mit dem ersten Wort von ihm abprallen, so muß man, wie unzulänglich auch immer, dem Wahrheitsanspruch seiner Philosophie sich stellen, anstatt sie bloß von oben und darum von unten her zu bereden.
Gleich anderen geschlossenen Denksystemen nimmt sie den dubiosen Vorteil wahr, keinerlei Kritik zulassen zu müssen. Eine jede an Details bleibe partiell, verfehle das Ganze, das ohnehin dieser Kritik Rechnung trage. Umgekehrt aber sei das Ganze als Ganzes zu kritisieren abstrakt, »unvermittelt« und sehe am Grundmotiv der Hegelschen Philosophie vorbei: daß sie auf keinen »Spruch«, kein Allgemeinprinzip sich abdestillieren lasse und nur als Totalität, im konkreten Zusammenhang all ihrer Momente sich ausweise. Danach wird Hegel ehren einzig der, welcher sich von der Angst vor jener gleichsam mythologischen Verstricktheit eines kritischen Verfahrens, das es auf jeden Fall falsch zu machen scheint, nicht einschüchtern läßt und, anstatt ihm gnädig oder ungnädig Verdienste zu- oder abzusprechen, dem Ganzen nachgeht, auf das er selber ging.
Kaum ein theoretischer Gedanke von einiger Tragweite heute wird wohl der Erfahrung des Bewußtseins, und wahrhaft nicht des Bewußtseins allein, sondern der leibhaften der Menschen gerecht, der nicht Hegelsche Philosophie in sich aufgespeichert hätte. Das ist aber nicht mit dem armseligen Aperçu zu erklären, der absolute Idealist wäre ein ebenso großer Realist, zumal ein Mann mit scharfem historischem Blick gewesen. Die inhaltlichen Einsichten Hegels, die bis zur Unversöhnlichkeit der Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft sich vorwagten, sind nicht von der Spekulation, deren vulgärer Begriff mit dem Hegelschen nichts zu tun hat, wie von einer lästigen Zutat zu sondern. Vielmehr sind sie von der Spekulation gezeitigt und verlieren ihre Substanz, sobald man sie als bloß empirisch auffaßt. Die bei Fichte programmatische, von Hegel erst durchgeführte Lehre, das Apriori sei auch das Aposteriori, ist keine verwegene Floskel, sondern Hegels Lebensnerv: sie inspiriert die Kritik der sturen Empirie wie die des statischen Apriorismus. Wo Hegel das Material zum Sprechen verhält, ist der Gedanke der ursprünglichen, sich entzweienden und wiedervereinigenden Identität von Subjekt und Objekt im »Geist« am Werk. Sonst bliebe der unerschöpflich reiche Inhalt des Systems entweder bloße Faktenanhäufung und vorphilosophisch, oder bloß dogmatisch und ohne Stringenz. Mit Recht hat Richard Kroner sich dagegen gewandt, die Geschichte des deutschen Idealismus als einen geradlinigen Fortschritt von Schelling zu Hegel zu beschreiben. Vielmehr erwehrte sich Hegel des dogmatischen Moments der Schellingschen Naturphilosophie durch Rückgriff auf den Fichteschen und selbst Kantischen erkenntnistheoretischen Impuls. Die Dynamik der Phänomenologie des Geistes hebt erkenntnistheoretisch an, um dann freilich, wie es bereits die Einleitung skizziert, die Position einer isolierten oder, nach Hegelscher Sprache, abstrakten Erkenntnistheorie zu sprengen. Die Fülle des Gegenständlichen, die bei Hegel vom Gedanken gedeutet wird und ihrerseits ihn nährt, fällt demnach nicht sowohl seiner realistischen Sinnesart zu als seiner Weise von Anamnesis, der Versenkung des Geistes in sich selber, oder, in Hegels Worten, dem in sich Hineingehen, sich Zusammenziehen des Seins. Wollte man, um den materialen Gehalt der Hegelschen Philosophie gegenüber der angeblich veralteten und willkürlichen Spekulation zu retten, ihren Idealismus ausmerzen, man behielte nichts als Positivismus hier, schale Geistesgeschichte dort in der Hand. Was er dachte, ist aber auch von ganz anderem Rang als dem der Einbettung in Zusammenhänge, vor denen die Einzelwissenschaften die Augen verschlossen. Sein System ist so wenig eine wissenschaftliche Dachorganisation wie ein Konglomerat genialer Beobachtungen. Beim Studium seines Werkes will es einen zuweilen bedünken, als wäre der Fortschritt, den der Geist durch klare Methodologie wie durch hieb- und stichfeste Empirie seit Hegels Tod und gegen ihn gemacht zu haben wähnt, eine einzige Regression, während den Philosophen, die glauben, etwas von seinem Erbe festzuhalten, meist jener konkrete Inhalt entgleitet, an dem Hegels Gedanke sich erst erprobt.
Erinnert sei etwa an die vor allem von Köhler zu einer Art Philosophie ausgeweitete Gestalttheorie. Hegel hat den Vorrang des Ganzen vor seinen endlichen, unzulänglichen und in ihrer Konfrontation mit dem Ganzen widerspruchsvollen Teilen erkannt. Aber er hat weder aus dem abstrakten Prinzip der Ganzheit eine Metaphysik abgeleitet noch das Ganze als solches im Namen der »guten Gestalt« glorifiziert. So wenig die Teile von ihm gegen das Ganze als dessen Elemente verselbständigt werden, so sehr weiß der Kritiker der Romantik, daß das Ganze nur durch die Teile hindurch, nur durch den Riß, die Entfremdung, die Reflexion, kurz all das, was der Gestalttheorie anathema ist, sich realisiert. Sein Ganzes ist überhaupt nur als Inbegriff der je über sich hinausweisenden und sich auseinander hervorbringenden Teilmomente; nichts jenseits von ihnen. Darauf zielt seine Kategorie der Totalität. Sie ist unvereinbar mit jeglicher harmonistischen Neigung, mag immer auch der späte Hegel subjektiv solche Neigungen gehegt haben. Die Konstatierung von Unverbundenem wie das Prinzip der Kontinuität werden beide gleichermaßen von seinem kritischen Gedanken ereilt; der Zusammenhang ist keiner des stetigen Übergangs sondern einer des Umschlags, der Prozeß geschieht nicht in der Annäherung der Momente sondern selber durch den Bruch. Begehrt aber in ihrer Deutung durch Max Scheler die moderne Gestalttheorie auf gegen den herkömmlichen erkenntnistheoretischen Subjektivismus; interpretiert sie das für die gesamte Kantische Tradition entqualifizierte, chaotische Sinnesmaterial, die Gegebenheit des Phänomens, als ein bereits Bestimmtes und Strukturiertes, so hat Hegel eben diese Bestimmtheit des Objekts mit allem Nachdruck hervorgehoben, ohne doch darüber die sinnliche Gewißheit, mit deren Kritik die Phänomenologie des Geistes beginnt, oder gar eine intellektuelle Anschauung zu vergötzen. Gerade durch den absoluten Idealismus, der nichts mehr außerhalb des zum Unendlichen erweiterten Subjekts stehen läßt, sondern alles in den Stromkreis der Immanenz hineinreißt, wird der Gegensatz zwischen form- und sinnverleihendem Bewußtsein und bloßem Stoff ausgelöscht. Alle spätere Kritik am sogenannten Formalismus der Erkenntnistheorie wie der Ethik findet sich explizit in Hegel, während er doch darum nicht, wie Schelling vor ihm und heute die Existentialontologie, mit einem Satz ins angeblich Konkrete springt. Die schrankenlose Expansion des Subjekts zum absoluten Geist bei ihm hat zur Konsequenz, daß, als diesem Geist innewohnendes Moment, nicht bloß das Subjekt, sondern auch das Objekt sachhaltig und mit allem Anspruch seines eigenen Seins auftritt. So ist die viel bewunderte materiale Fülle Hegels selber Funktion des spekulativen Gedankens. Er erst hat ihm dazu verholfen, nicht länger bloß über die Instrumente des Erkennens, sondern dessen wesentliche Gegenstände Wesentliches auszusagen, und gleichwohl die kritische Selbstreflexion des Bewußtseins niemals suspendiert. So weit von einem Realismus bei Hegel die Rede sein kann, liegt er im Zug seines Idealismus, ist nicht diesem heterogen. Tendenziell greift bei Hegel der Idealismus über sich selber hinaus.
Gerade die äußerste idealistische Spitze seines Denkens, die Konstruktion des Subjekt-Objekts, ist keineswegs als Übermut des losgelassenen Begriffs abzutun. Bereits bei Kant bildet die geheime Kraftquelle die Idee, daß die in Subjekt und Objekt entzweite Welt, in der wir gleichsam als Gefangene unserer eigenen Konstitution nur mit Phänomena zu tun haben, nicht das Letzte sei. Dem fügt Hegel ein Unkantisches hinzu: daß wir, indem wir den Block, die Grenze begrifflich fassen, die der Subjektivität gesetzt ist; indem wir diese als »bloße« Subjektivität durchschauen, bereits über die Grenze hinaus seien. Hegel, in sehr vielem Betracht ein zu sich selbst gekommener Kant, wird davon getrieben, daß Erkenntnis, wenn es das irgend gibt, der eigenen Idee nach die ganze sei; daß jedes einseitige Urteil durch seine bloße Form das Absolute meine und nicht ruhe, bis es im Absoluten aufgehoben ist. Der spekulative Idealismus verachtet nicht tollkühn die Grenze der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern sucht nach Worten dafür, daß eigentlich jeder Erkenntnis, die eine ist, die Anweisung auf Wahrheit schlechthin innewohnt; daß Erkenntnis, um überhaupt eine und keine bloße Verdoppelung des Subjekts zu sein, mehr sei als bloß subjektiv, Objektivität gleich der objektiven Vernunft des Platon, deren Erbschaft mit der subjektiven Transzendentalphilosophie bei Hegel chemisch sich durchdringt. Gut Hegelisch dürfte man sagen – und gleichzeitig durch eine Interpretation, die ihn nochmals reflektiert, ihn zentral verändern –, es werde gerade die Konstruktion des absoluten Subjekts bei ihm einer in Subjektivität unauflöslichen Objektivität gerecht. Erst der absolute Idealismus gibt, paradox genug, historisch die Methode frei, welche in der Einleitung der Phänomenologie das »bloße Zusehen« heißt. Nur darum vermag Hegel von der Sache aus zu denken, ihrem eigenen Gehalt gleichsam passiv sich zu überantworten, weil sie kraft des Systems bezogen wird auf ihre Identität mit dem absoluten Subjekt. Die Sachen reden selber in einer Philosophie, die sich stark macht zu beweisen, daß sie selber eins sei mit den Sachen. So sehr der Fichteaner Hegel den Gedanken der »Setzung«, der Erzeugung durch den Geist betont, so durch und durch aktiv, praktisch sein Entwicklungsbegriff gedacht ist, so passiv ist er doch gleichzeitig in der Ehrfurcht vorm Bestimmten, das zu begreifen nichts anderes bedeutet, als seinem eigenen Begriff zu gehorchen. In der Husserlschen Phänomenologie spielt die Lehre von der spontanen Rezeptivität ihre Rolle. Auch sie ist Hegelisch durch und durch, nur eben bei ihm nicht beschränkt auf einen bestimmten Typus von Akten des Bewußtseins, sondern entfaltet auf allen Stufen der Subjektivität wie der Objektivität. Überall beugt Hegel sich dem eigenen Wesen des Objekts, überall wird es ihm erneut unmittelbar, aber eben solche Unterordnung unter die Disziplin der Sache verlangt die äußerste Anstrengung des Begriffs. Sie triumphiert in dem Augenblick, da die Intentionen des Subjekts erlöschen in dem Gegenstand. Die statische Zerlegung der Erkenntnis in Subjekt und Objekt, die der heute akzeptierten Wissenschaftslogik selbstverständlich dünkt; jene Residualtheorie der Wahrheit, derzufolge objektiv ist, was nach Durchstreichung der sogenannten subjektiven Faktoren übrigbleibt, wird von der Hegelschen Kritik ins leere Zentrum getroffen; darum so tödlich, weil er ihr keine irrationale Einheit von Subjekt und Objekt entgegensetzt, sondern die je voneinander sich unterscheidenden Momente des Subjektiven und Objektiven festhält und doch wiederum als durcheinander vermittelte begreift. Daß im Bereich der sogenannten Gesellschaftswissenschaften, überall dort, wo das Objekt selber durch »Geist« vermittelt ist, die Fruchtbarkeit der Erkenntnis nicht durch die Ausschaltung des Subjekts sondern vielmehr kraft dessen höchster Anstrengung, durch all seine Innervationen und Erfahrungen hindurch gerät – diese Einsicht, die heute erst den widerstrebenden Sozialwissenschaften durch die Selbstbesinnung abgezwungen wird, stammt aus dem Systemzusammenhang Hegels. Sie verleiht ihm die wissenschaftliche Überlegenheit über den Wissenschaftsbetrieb, der, während er gegen das Subjekt wütet, aufs vorwissenschaftliche Registrieren bloßer unverbundener Fakten, Gegebenheiten, Meinungen, des hinfälligsten, zufälligsten Subjektiven, regrediert. So rückhaltlos Hegel der Bestimmtheit seines Gegenstandes, eigentlich der objektiven Dynamik der Gesellschaft sich anvertraut, so gründlich ist er doch vermöge seiner in jede sachhaltige Erkenntnis hinreichenden Konzeption des Verhältnisses von Subjekt und Objekt gefeit gegen die Versuchung des unkritischen Akzeptierens der Fassade: die Dialektik von Wesen und Erscheinung ist nicht umsonst in die Mitte der Logik gerückt. Daran ist zu erinnern in einer Situation, in der die Verwalter der Dialektik in deren materialistischer Version, die offizielle Denkerei des Ostblocks, die Dialektik zur unreflektierten Abbildtheorie erniedrigten. Einmal des kritischen Fermentes bar, schickt sie sich so gut zum Dogmatismus wie einst die Unmittelbarkeit von Schellings intellektueller Anschauung, gegen welche die Spitze der Hegelschen Polemik sich richtete. Hegel hat den Kantischen Kritizismus zu seinem Recht gebracht, indem er den Kantischen Dualismus von Form und Inhalt selber kritisierte, die starren Differenzbestimmungen von Kant und, Hegels Interpretation zufolge, auch noch von Fichte in die Dynamik hineinzog, ohne doch die Unauflöslichkeit der Momente einer unmittelbaren planen Identität zu opfern. Seinem Idealismus wird die Vernunft zur kritischen in einem Kant nochmals kritisierenden Sinn, als negative, die Statik der gleichwohl festgehaltenen Momente bewegende. Die von Kant einander entgegengesetzten Pole, Form und Inhalt, Natur und Geist, Theorie und Praxis, Freiheit und Notwendigkeit, Ding an sich und Phänomen, werden allesamt von Reflexion durchdrungen, derart, daß keine dieser Bestimmungen als ein Letztes stehen bleibt. Eine jede bedarf, um gedacht werden und sein zu können, von sich aus genau jenes anderen Moments, das bei Kant ihr entgegengesetzt wird. Vermittlung heißt daher bei Hegel niemals, wie das verhängnisvollste Mißverständnis seit Kierkegaard es sich ausmalt, ein Mittleres zwischen den Extremen, sondern die Vermittlung ereignet sich durch die Extreme hindurch in ihnen selber; das ist der radikale, mit allem Moderantismus unvereinbare Aspekt Hegels. Was die traditionelle Philosophie als ontologische Grundbestände auszukristallisieren hofft, sind, so erweist er, nicht diskret gegeneinander abgesetzte Ideen, sondern eine jegliche verlangt ihr Gegenteil, und das Verhältnis aller zueinander ist der Prozeß. Dadurch aber verändert der Sinn von Ontologie sich so eingreifend, daß es müßig dünkt, ihn, wie heute manche Hegelinterpreten es möchten, auf eine sogenannte Grundstruktur länger anzuwenden, deren Wesen es eben ist, nicht Grundstruktur, nicht ypokeimenon zu sein. Wie im Sinne Kants keine Welt, kein Konstitutum ohne die subjektiven Bedingungen der Vernunft, des Konstituens möglich ist, so, fügt Hegels Selbstreflexion des Idealismus hinzu, ist auch kein Konstituens, so sind keine erzeugenden Bedingungen des Geistes möglich, die nicht von tatsächlichen Subjekten und damit schließlich selber von einem nicht bloß Subjektiven, von »Welt« abstrahiert wären. An dem verhängnisvollen Erbe der traditionellen Metaphysik, der Frage nach einem letzten Prinzip, auf das alles sich müsse zurückführen lassen, ist Hegel kraft der insistenten Antwort irre geworden.
Daher ist die Dialektik, der Inbegriff der Hegelschen Philosophie, keinem methodischen oder ontologischen Prinzip zu vergleichen, das sie ähnlich charakterisierte wie die Ideenlehre den mittleren Platon oder die Monadologie Leibniz. Dialektik heißt weder ein bloßes Verfahren des Geistes, durch das er sich der Verbindlichkeit seines Objekts entzöge – bei ihm leistet sie buchstäblich das Gegenteil, die permanente Konfrontation des Objekts mit seinem eigenen Begriff – noch eine Weltanschauung, in deren Schema man die Realität zu pressen hätte. So wenig die Dialektik der Einzeldefinition hold ist, so wenig fügt sie selber sich irgendeiner. Sie ist das unbeirrte Bemühen, kritisches Bewußtsein der Vernunft von sich selbst mit der kritischen Erfahrung der Gegenstände zusammenzuzwingen. – Der szientifische Begriff der Verifizierung ist beheimatet in jenem Reich getrennter starrer Begriffe, wie Theorie und Erfahrung, dem Hegel den Krieg ansagte. Wollte man aber justament seiner eigenen Verifizierung nachfragen, so hat genau jene Lehre von der Dialektik, welche die Ignoranz als Zwangsjacke der Begriffe abzutun pflegt, in der jüngsten geschichtlichen Phase sich verifiziert in einem Maße, das über den Versuch, sich ohne die vermeintliche Willkür solcher Konstruktion nach dem zu richten, was der Fall sei, das Urteil spricht: Hitler war der eigenen Ideologie nach und als tolerierter Büttel stärkerer Interessen darauf aus, den Bolschewismus zu vertilgen, während sein Krieg den Riesenschatten der slawischen Welt über Europa brachte, jener slawischen Welt, von der Hegel bereits ahnungsvoll sagte, daß sie noch nicht in die Geschichte eingetreten sei. Befähigt aber wurde Hegel dazu nicht durch einen historischen Prophetenblick, für den er nichts gefühlt hätte als Verachtung, sondern durch eben jene konstruktive Kraft, die ganz eingeht in das, was ist, ohne daß sie doch auf sich selbst, als Vernunft, Kritik und Bewußtsein der Möglichkeit, verzichtete.
Bei alldem jedoch; obwohl Dialektik die Unmöglichkeit der Reduktion der Welt auf einen fixierten subjektiven Pol dartut und methodisch die wechselfältige Negation und Produktion der subjektiven und objektiven Momente verfolgt, hat Hegels Philosophie als eine des Geistes den Idealismus festgehalten. Nur die diesem innewohnende Lehre von der Identität von Subjekt und Objekt – die ihrer bloßen Form nach allemal bereits auf den Vorrang des Subjekts hinausläuft – schenkt ihm jene Kraft des Totalen, welche die negative Arbeit, die Verflüssigung der einzelnen Begriffe, die Reflexion des Unmittelbaren und dann wieder die Aufhebung der Reflexion leistet. Die drastischesten Formulierungen dazu finden sich in Hegels Geschichte der Philosophie. Nicht nur ist ihr zufolge die Fichtesche Philosophie die Vollendung der Kantischen, wie Fichte selber immer wieder versicherte, sondern Hegel geht so weit zu sagen, es seien »außer diesen und Schelling keine Philosophien«1. Er hat, gleich Fichte, durch Auflösung des nicht bewußtseinseigenen, des gegebenen Moments der Realität in eine Setzung des unendlichen Subjekts Kant an Idealismus zu überbieten getrachtet. Gegenüber der abgründigen Brüchigkeit des Kantischen Systems hat Hegel die größere Konsequenz von dessen Nachfolgern gerühmt und noch gesteigert. Ihm stieß nicht auf, daß die Kantischen Brüche eben jenes Moment der Nichtidentität verzeichnen, das zu Hegels eigener Fassung der Identitätsphilosophie unabdingbar hinzugehört. Vielmehr urteilt er über Fichte: »Diesen Mangel, die kantische gedankenlose Inkonsequenz, durch die es dem ganzen System an spekulativer Einheit fehlt, hat Fichte aufgehoben ... Seine Philosophie ist Ausbildung der Form in sich (die Vernunft synthesirt sich in sich selbst, ist Synthese des Begriffs und der Wirklichkeit), und besonders eine konsequentere Darstellung der kantischen Philosophie.«2 Das Einverständnis mit Fichte reicht darüber noch hinaus: »Die fichtesche Philosophie hat den großen Vorzug und das Wichtige, aufgestellt zu haben, daß Philosophie Wissenschaft aus höchstem Grundsatz seyn muß, woraus alle Bestimmungen nothwendig abgeleitet sind. Das Große ist die Einheit des Princips und der Versuch, wissenschaftlich konsequent den ganzen Inhalt des Bewußtseyns daraus zu entwickeln oder, wie man es nannte, die ganze Welt zu konstruiren.«3 Weniges könnte das in sich widerspruchsvolle Verhältnis Hegels zum Idealismus, dessen höchste Erhebung und dessen Umschlagspunkt er erreicht hat, prägnanter bekunden als diese Sätze. Denn daß die Wahrheit, bei Hegel: das System, nicht als ein solcher Grundsatz, als ein Urprinzip sich aussprechen lasse, sondern die dynamische Totalität aller sich auseinander vermöge ihres Widerspruchs erzeugenden Sätze sei, hat die Hegelsche Philosophie zum Inhalt. Das ist aber das genaue Gegenteil des Fichteschen Versuchs, die Welt aus der reinen Identität, dem absoluten Subjekt, der einen ursprünglichen Setzung herzuleiten. Trotzdem jedoch gilt für Hegel emphatisch das Fichtesche Postulat des deduktiven Systems. Nur hat er dessen zweitem Grundsatz unendlich viel mehr Gewicht zugeteilt als die Wissenschaftslehre selber. Nicht bleibt es, nach Hegels Sprache, bei der »absoluten Form«, die Fichte ergriffen hat und die die Wirklichkeit in sich einschließen soll, sondern die konkrete Wirklichkeit selber wird konstruiert, indem der Gegensatz des Inhalts zur Form vom Gedanken erfaßt und der entgegengesetzte Inhalt, wenn man so will, aus der Form selber entwickelt wird. Im Entschluß, keine Grenze zu dulden, jeden Erdenrest einer Differenzbestimmung zu tilgen, hat Hegel den Fichteschen Idealismus buchstäblich übertrumpft. Dadurch eben verlieren die einzelnen Fichteschen Grundsätze ihre abschlußhafte Bedeutung. Die Unzulänglichkeit eines abstrakten Grundsatzes jenseits der Dialektik, aus dem alles folgen soll, ist von Hegel erkannt. Was bei Fichte bereits angelegt, aber noch nicht entfaltet war, wird zum Motor des Philosophierens. Die Konsequenz aus dem Grundsatz negiert diesen zugleich und bricht seinen absoluten Vorrang. Daher durfte Hegel, in der Phänomenologie, sowohl von dem Subjekt ausgehen und in der Betrachtung von dessen Selbstbewegung alle konkreten Inhalte ergreifen, wie umgekehrt, in der Logik, die Bewegung des Gedankens mit dem Sein einsetzen lassen. Recht verstanden, ist die Wahl des Ausgangspunktes, des je Ersten, für die Hegelsche Philosophie gleichgültig; sie erkennt ein solches Erstes als festes und im Fortgang des Denkens unverändert sich selbst gleichbleibendes Prinzip nicht an. Hegel läßt damit alle traditionelle Metaphysik und den vorspekulativen Begriff des Idealismus weit unter sich. Aber der Idealismus wird dennoch nicht verlassen. Die absolute Stringenz und Geschlossenheit des Denkverlaufs, die er mit Fichte gegen Kant anstrebt, statuiert als solche bereits die Priorität des Geistes, auch wenn auf jeder Stufe das Subjekt ebenso als Objekt sich bestimmt wie umgekehrt das Objekt als Subjekt. Indem der betrachtende Geist sich vermißt, alles was ist, als dem Geist selber, dem Logos, den Denkbestimmungen kommensurabel zu erweisen, wirft der Geist sich zum ontologisch Letzten auf, auch wenn er die darin liegende Unwahrheit, die des abstrakten Apriori, noch mitdenkt und diese seine eigene Generalthesis wegzuschaffen sich anstrengt. In der Objektivität der Hegelschen Dialektik, die allen bloßen Subjektivismus niederschlägt, steckt etwas von dem Willen des Subjekts, über den eigenen Schatten zu springen. Das Hegelsche Subjekt-Objekt ist Subjekt. Das erklärt den nach Hegels eigener Forderung allseitiger Konsequenz ungelösten Widerspruch, daß die Subjekt-Objekt-Dialektik, bar jeglichen abstrakten Oberbegriffs, das Ganze ausmache und doch ihrerseits als das Leben des absoluten Geistes sich erfülle. Der Inbegriff des Bedingten sei das Unbedingte. Nicht zuletzt daher rührt das Schwebende, sich selbst in der Luft Erhaltende der Hegelschen Philosophie, ihr permanentes Skandalon: der Name des höchsten spekulativen Begriffs, eben der des Absoluten, des schlechthin Losgelösten ist wörtlich der Name jenes Schwebenden. Keiner Unklarheit oder Verworrenheit ist das Hegelsche Skandalon zuzuschreiben, sondern es ist der Preis, den Hegel für die absolute Konsequenz zahlen muß, die auf die Schranke des Konsequenzdenkens prallt, ohne sie doch wegräumen zu können. Im Ungeschlichteten und Anfälligen der Hegelschen Dialektik findet diese ihre äußerste Wahrheit, die ihrer Unmöglichkeit, wäre es auch, ohne daß sie, die Theodizee des Selbstbewußtseins, das Selbstbewußtsein davon besäße.
Damit aber bietet Hegel der Kritik am Idealismus sich dar: einer immanenten, so wie er von jeglicher Kritik es erheischte. Ihre Schwelle hat er selbst erreicht. Richard Kroner charakterisiert Hegels Verhältnis zu Fichte mit Worten, die übrigens in gewisser Weise bereits für Fichte zutreffen: »Das Ich ist, insofern es durch die Reflexion allem Anderen entgegengesetzt wird, vor allem Anderen nicht ausgezeichnet; insofern gehört es vielmehr selbst zu dem Entgegengesetzten, zu dem Gesetzten, zu den Denkinhalten, den Momenten seiner Tätigkeit.«4 Die Antwort des deutschen Idealismus auf diese Einsicht in die Bedingtheit des Ichs, ebenfalls eine von denen, welche die Reflexionsphilosophie in ihrer modernen szientifischen Fortbildung nur mühsam wieder erwarb, ist grob die Fichtesche Unterscheidung von Individuum und Subjekt, letztlich die Kantische zwischen dem Ich als Substrat der empirischen Psychologie und dem transzendentalen Ich denke. Das endliche Subjekt ist, wie Husserl es nannte, ein Stück Welt. Selber mit Relativität behaftet, taugt es nicht zur Begründung des Absoluten. Es setzt das bereits voraus, was als Kantisches »Konstitutum« durch die Transzendentalphilosophie erst erklärt werden soll. Demgegenüber gilt das Ich denke, die reine Identität als rein im emphatischen Kantischen Sinn, unabhängig von aller raumzeitlichen Faktizität. Nur dann läßt alles Daseiende ohne Rest in seinen Begriff sich auflösen. Bei Kant war dieser Schritt noch nicht vollzogen. So wie einerseits die kategorialen Formen des Ich denke eines ihnen zukommenden, nicht aus ihnen selbst entspringenden Inhalts bedürfen, um Wahrheit: Erkenntnis der Natur zu ermöglichen, so werden andererseits das Ich denke selbst und die kategorialen Formen von Kant als eine Art von Gegebenheiten respektiert; insofern ist zumindest die Kritik der reinen Vernunft mehr eine Phänomenologie der Subjektivität als ein spekulatives System. In dem von Kant mit grüblerischer Naivetät stets wieder unreflektiert verwandten »uns« ist die Bezogenheit der kategorialen Formen, nicht nur ihrer Anwendung, sondern ihrem eigenen Ursprung nach, auf eben jenes Existierende, nämlich die Menschen anerkannt, das seinerseits erst aus dem Zusammenspiel der Formen mit dem sinnlichen Material resultiere. Kants Reflexion brach an dieser Stelle ab und hat damit die Irreduktibilität des Faktischen auf den Geist, die Verschränkung der Momente bezeugt. Fichte hat sich dabei nicht beschieden. Er hat die Unterscheidung des transzendentalen und empirischen Subjekts rücksichtslos über Kant hinausgetrieben und um der Unversöhnlichkeit beider willen versucht, das Prinzip des Ichs der Faktizität zu entwinden und dadurch den Idealismus in jener Absolutheit zu rechtfertigen, die dann zum Medium des Hegelschen Systems wird. Fichtes Radikalismus hat dabei freigelegt, was bei Kant im Halbdunkel der transzendentalen Phänomenologie sich barg, aber gegen seinen Willen auch die Fragwürdigkeit seines eigenen absoluten Subjekts ins Helle gerückt. Er nennt es, als was zu benennen alle späteren Idealisten und ganz gewiß die Ontologen unter ihnen am sorgfältigsten sich hüteten, eine Abstraktion5. Gleichwohl soll das »reine Ich« das bedingen, wovon es abstrahiert wird und wovon es selber insofern bedingt ist, als sein eigener Begriff ohne solche Abstraktion schlechterdings nicht gedacht werden kann. Das Resultat von Abstraktion ist nie gegen das, wovon es abgezogen ward, absolut zu verselbständigen; weil das Abstraktum auf das unter ihm Befaßte anwendbar bleiben, weil Rückkehr möglich sein soll, ist in ihm immer zugleich auch in gewissem Sinn die Qualität dessen, wovon abstrahiert wird, aufbewahrt, wäre es auch in oberster Allgemeinheit. Setzt daher die Bildung des Begriffs Transzendentalsubjekt oder absoluter Geist sich ganz hinweg über individuelles Bewußtsein schlechthin als raumzeitliches, woran er gewonnen ward, so läßt jener Begriff selber sich nicht mehr einlösen; sonst wird er, der alle Fetische demolierte, selber einer, und das haben die spekulativen Philosophen seit Fichte verkannt. Fichte hat das abstrahierte Ich hypostasiert, und darin ist Hegel ihm verhaftet geblieben. Beide haben übersprungen, daß der Ausdruck Ich, das reine, transzendentale ebenso wie das empirische, unmittelbare, irgend Bewußtsein bezeichnen muß. Schon Kant gegenüber hat Schopenhauer, mit einer anthropologisch-materialistischen Wendung seiner Polemik, darauf bestanden. Kants reine Vernunft werde, zumindest in der Moralphilosophie, »nicht als eine Erkenntnißkraft des Menschen was sie doch allein ist, genommen; sondern als etwas für sich Bestehendes hypostasirt, ohne alle Befugniß und zu perniciosestem Beispiel und Vorgang; welches zu belegen unsere jetzige erbärmliche philosophische Zeitperiode dienen kann. Inzwischen ist diese Aufstellung der Moral nicht für Menschen als Menschen, sondern für alle vernünftige Wesen als solche, Kanten eine so angelegene Hauptsache und Lieblingsvorstellung, daß er nicht müde wird, sie bei jeder Gelegenheit zu wiederholen. Ich sage dagegen, daß man nie zur Aufstellung eines Genus befugt ist, welches uns nur in einer einzigen Species gegeben ist, in dessen Begriff man daher schlechterdings nichts bringen könnte, als was man von dieser einen Species entnommen hätte, daher was man vom Genus aussagte, doch immer nur von der einen Species zu verstehen seyn würde; während, indem man, um das Genus zu bilden, unbefugt weggedacht hätte, was dieser Species zukommt, man vielleicht gerade die Bedingung der Möglichkeit der übrig gelassenen und als Genus hypostasirten Eigenschaften aufgehoben hätte.«6 Aber auch bei Hegel noch sind, und wahrhaft nicht aus sprachlicher Nachlässigkeit, die emphatischesten Ausdrücke, wie Geist und Selbstbewußtsein, der Erfahrung des endlichen Subjekts von sich selber entlehnt; auch er kann den Faden zwischen dem absoluten Geist und der empirischen Person nicht durchschneiden. Das Fichtesche und Hegelsche absolute Ich, als Abstraktion von dem empirischen, mag noch so gründlich dessen besonderen Inhalt ausmerzen; wäre es überhaupt nicht mehr auch das, wovon abstrahiert wird, nämlich Ich; entäußerte es sich vollends der in dessen Begriff mitgesetzten Faktizität, so wäre es nicht länger jenes bei sich selbst Sein des Geistes, jene Heimat der Erkenntnis, von der andererseits wieder der Vorrang der Subjektivität in den großen idealistischen Systemen einzig abhängt. Ein Ich, das in gar keinem Sinn mehr Ich wäre, also jeden Bezugs auf das individuierte Bewußtsein und damit notwendig auf die raumzeitliche Person entriete, wäre ein Nonsens, nicht nur freischwebend und so unbestimmbar wie Hegel dem Gegenbegriff dazu, dem Sein, es vorwarf, sondern auch als Ich, nämlich als vermittelt zum Bewußtsein, gar nicht mehr zu fassen. Die Analyse des absoluten Subjekts muß die Unauflöslichkeit eines empirischen, nichtidentischen Moments daran anerkennen, das die Lehren vom absoluten Subjekt, die idealistischen Identitätssysteme als unauflöslich nicht anerkennen dürfen. Insofern ist Hegels Philosophie nach dem Richtspruch ihres eigenen Begriffs unwahr. Wieso aber ist sie dann doch wahr?
Zur Antwort wird man entziffern müssen, was, ohne je sich dingfest machen zu lassen, die gesamte Hegelsche Philosophie durchherrscht. Das ist der Geist. Er wird nicht einem Nichtgeistigen, Stofflichen absolut kontrastiert; er ist ursprünglich keine Sphäre besonderer Objekte, die der späteren Geisteswissenschaften. Er sei vielmehr uneingeschränkt und absolut: darum heißt er bei Hegel ausdrücklich, als Erbe der Kantischen praktischen Vernunft, frei. Nach der Bestimmung der Enzyklopädie aber ist er »wesentlich activ, producirend«7, so wie schon die Kantische praktische Vernunft von der theoretischen sich wesentlich dadurch unterscheidet, daß sie ihren »Gegenstand«, die Tat, schafft. Das Kantische Moment der Spontaneität, das in der synthetischen Einheit der Apperzeption mit der konstitutiven Identität geradezu in eins gesetzt ist – Kants Begriff des Ich denke war die Formel für die Indifferenz erzeugender Spontaneität und logischer Identität –, wird bei Hegel total und in solcher Totalität Prinzip des Seins nicht weniger als des Denkens. Indem aber von Hegel Erzeugen und Tun nicht mehr als bloß subjektive Leistung dem Stoff gegenübergestellt sondern in den bestimmten Objekten, in der gegenständlichen Wirklichkeit aufgesucht sind, rückt Hegel dicht ans Geheimnis, das hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt und sie hinaushebt über die bloße willkürliche Hypostasis des abstrakten Begriffs. Das jedoch ist nichts anderes als die gesellschaftliche Arbeit. In dem erst 1932 entdeckten philosophisch-ökonomischen Manuskript des jungen Marx wurde das erstmals erkannt: »Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate – der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist, ... daß er ... das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift.«8 Das Moment der Allgemeinheit des tätigen transzendentalen Subjekts gegenüber dem bloß empirischen, vereinzelten und kontingenten ist so wenig bloßes Hirngespinst wie die Geltung der logischen Sätze gegenüber dem faktischen Ablauf der einzelnen individuellen Denkakte. Diese Allgemeinheit vielmehr ist der zugleich genaue und, um der idealistischen Generalthesis willen, sich selbst verborgene Ausdruck des gesellschaftlichen Wesens der Arbeit, die zur Arbeit überhaupt erst als ein Für anderes, mit anderen Kommensurables; als ein Hinausgehen über die Zufälligkeit des je einzelnen Subjekts wird. Von der Arbeit anderer hängt, schon der Aristotelischen Politik zufolge, die Selbsterhaltung der Subjekte nicht minder ab als die Gesellschaft vom Tun der Einzelnen. Der Rückverweis des erzeugenden Moments des Geistes auf ein allgemeines Subjekt anstatt auf die individuelle, je arbeitende Einzelperson definiert Arbeit als organisierte, gesellschaftliche; ihre eigene »Rationalität«, die Ordnung der Funktionen, ist ein gesellschaftliches Verhältnis.
Die Übersetzung des Hegelschen Geistesbegriffs in gesellschaftliche Arbeit löst den Vorwurf eines Soziologismus aus, der Genese und Wirkung der Hegelschen Philosophie mit ihrem Gehalt verwechsle. Unstreitig war Hegel transzendentaler Analytiker wie Kant. Bis ins Einzelne wäre nachzuweisen, daß er als dessen Kritiker seine Intentionen über die Kritik der reinen Vernunft hinaus zu ihrem Recht zu bringen suchte, so wie schon Fichtes Wissenschaftslehre den Kantischen Begriff des Reinen forcierte. Die Hegelschen Kategorien, der Geist zumal, fallen in den Bereich der transzendentalen Konstituentien. Gesellschaft jedoch, der Funktionszusammenhang empirischer Personen, wäre bei Hegel, Kantisch gesprochen, Konstitutum, ein Stück jenes Daseienden, das von der Großen Logik – in der Lehre vom absoluten Unbedingten und von der Existenz als Gewordenem9 – seinerseits aus dem Absoluten entwickelt wird, das Geist sei. Die Deutung von Geist als Gesellschaft erscheint demnach als metabasis eis allo genos, unvereinbar mit dem Sinn der Hegelschen Philosophie allein schon darum, weil sie sich gegen die Maxime immanenter Kritik verfehle, den Wahrheitsgehalt der Hegelschen Philosophie an einem ihr Äußerlichen zu ergreifen suche, das diese in ihrem eigenen Gefüge als Bedingtes oder Gesetztes abgeleitet habe. Die explizite Hegelkritik freilich könnte dartun, daß jene Deduktion ihm nicht gelang. Der sprachliche Ausdruck Existenz, notwendig ein Begriffliches, wird verwechselt mit dem, was er designiert, dem Nichtbegrifflichen, in Identität nicht Einzuschmelzenden10. Die Absolutheit des Geistes ist immanent von Hegel nicht durchzuhalten, und wenigstens soweit bezeugt das seine Philosophie selbst, wie sie das Absolute nirgends findet als in der Totalität der Entzweiung, in der Einheit mit seinem Anderen. Umgekehrt aber ist Gesellschaft ihrerseits nicht bloßes Dasein, nicht bloßes Faktum. Nur einem äußerlich antithetischen, im Hegelschen Wortsinn abstrakten Denken wäre das Verhältnis von Geist und Gesellschaft das transzendental-logische von Konstituens und Konstitutum. Der Gesellschaft kommt eben das zu, was Hegel dem Geist gegenüber allen isolierten Einzelmomenten der Empirie reserviert. Diese sind durch Gesellschaft vermittelt, konstituiert wie nur je einem Idealisten die Dinge durch den Geist, und zwar vor jeglichem partikularen Einfluß von Gesellschaft auf die Phänomene: sie erscheint in diesen wie bei Hegel das Wesen. Gesellschaft ist so wesentlich Begriff wie der Geist. Als Einheit der durch ihre Arbeit das Leben der Gattung reproduzierenden Subjekte wird in ihr objektiv, unabhängig von aller Reflexion, abgesehen von den spezifischen Qualitäten der Arbeitsprodukte und der Arbeitenden. Das Prinzip der Äquivalenz gesellschaftlicher Arbeit macht Gesellschaft im neuzeitlichen bürgerlichem Sinn zum Abstrakten und zum Allerwirklichsten, ganz wie Hegel es vom emphatischen Begriff des Begriffs lehrt. Darum stößt jeder Schritt des Gedankens auf Gesellschaft, und keiner vermöchte sie als solche, als Ding unter Dingen, festzunageln. Was es dem Dialektiker Hegel erlaubt, den Geistbegriff vor der Kontamination mit dem factum brutum zu behüten und dadurch die Brutalität des Faktischen in Geist zu sublimieren und zu rechtfertigen, ist selber sekundär. Die ihrer selbst unbewußte Erfahrung der abstrakten gesellschaftlichen Arbeit verzaubert sich dem auf sie reflektierenden Subjekt. Arbeit wird ihm zu ihrer Reflexionsform, zur reinen Tat des Geistes, zu dessen produktiver Einheit. Denn nichts soll außer ihm sein. Das factum brutum aber, das im totalen Geistbegriff verschwindet, kehrt in diesem wieder als logischer Zwang. Ihm kann das einzelne so wenig sich entziehen wie der Einzelne der contrainte sociale. Allein solche Brutalität des Zwangs bewirkt den Schein von Versöhnung in der Lehre von der hergestellten Identität.
Die Ausdrücke, durch welche der Geist in den idealistischen Systemen als ursprüngliches Hervorbringen bestimmt wird, waren ausnahmslos, schon vor Hegel, der Sphäre der Arbeit entlehnt. Andere aber lassen sich darum nicht finden, weil das mit der transzendentalen Synthesis Gemeinte von der Beziehung auf Arbeit dem eigenen Sinn nach nicht sich lösen läßt. Die systematisch geregelte Tätigkeit der Vernunft wendet Arbeit nach innen; Last und Zwang der nach außen gerichteten hat sich fortgeerbt an die reflektierende, modelnde Mühe der Erkenntnis ums »Objekt«, deren es dann wiederum bei der fortschreitenden Beherrschung von Natur bedarf. Bereits der althergebrachte Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand indiziert, daß der Verstand, im Gegensatz zu dem von der Sinnlichkeit bloß Gegebenen, gleichsam ohne Gegenleistung Geschenkten etwas tue: sinnlich Gegebenes sei da wie die Früchte auf dem Feld, die Operationen des Verstandes aber ständen bei der Willkür; sie könnten geschehen oder unterbleiben als etwas, womit Menschen ein ihnen Gegenüberstehendes erst formen. Stets war der Primat des Logos ein Stück Arbeitsmoral. Die Verhaltensweise des Denkens als solche, gleichgültig was sie zum Inhalt hat, ist habituell gewordene und verinnerlichte Auseinandersetzung mit der Natur; Eingriff, kein bloßes Empfangen. Daher geht mit der Rede vom Denken überall die von einem Material zusammen, von dem der Gedanke sich geschieden weiß, um es zuzurichten wie die Arbeit ihren Rohstoff. Allem Denken ist denn auch jenes Moment von gewaltsamer Anstrengung – Reflex auf die Lebensnot – gesellt, welches Arbeit charakterisiert; Mühe und Anstrengung des Begriffs sind unmetaphorisch.
Der Hegel der Phänomenologie, dem das Bewußtsein des Geistes als lebendiger Tätigkeit und seiner Identität mit dem realen gesellschaftlichen Subjekt unverkümmerter war als dem späten, hat wenn nicht in der Theorie so doch kraft der Sprache den spontanen Geist als Arbeit erkannt. Der Weg des natürlichen Bewußtseins bis zur Identität des absoluten Wissens ist selber Arbeit. Das Verhältnis des Geistes zur Gegebenheit erscheint nach dem Modell eines gesellschaftlichen Vorgangs, und zwar eines Arbeitsprozesses: »Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewußtseyn. Um zum eigentlichen Wissen zu werden, oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurch zu arbeiten.«11 Das ist keineswegs bildlich: soll der Geist wirklich sein, dann erst recht seine Arbeit. Die Hegelsche »Arbeit des Begriffs« umschreibt nicht lax die Tätigkeit des Gelehrten. Diese, als Philosophie, wird nicht umsonst von Hegel immer zugleich auch als passiv, »zusehend« vorgestellt. Was der Philosoph arbeitet, will eigentlich nichts anderes als dem zum Worte verhelfen, was an der Sache selbst tätig ist, was als gesellschaftliche Arbeit den Menschen gegenüber objektive Gestalt hat und doch die Arbeit von Menschen bleibt. »Die Bewegung, worin das unwesentliche Bewußtseyn dieß Einsseyn zu erreichen strebt«, heißt es an einer späteren Stelle der Phänomenologie, »ist selbst die dreifache, nach dem dreifachen Verhältnisse, welches es zu seinem gestalteten Jenseits haben wird; einmal als reines Bewußtseyn; das andere Mal als einzelnes Wesen, welches sich als Begierde und Arbeit gegen die Wirklichkeit verhält; und zum dritten als Bewußtseyn seines Fürsichseyns.«12
Die Hegelinterpretation hat mit Recht darauf bestanden, daß die in seiner Philosophie voneinander unterschiedenen Hauptmomente jeweils, jedes einzelne, zugleich auch das Ganze seien. Das gilt aber gewiß auch für den Begriff der Arbeit als eines Verhältnisses zur Wirklichkeit: denn ein solches ist, als Subjekt-Objekt-Dialektik, Dialektik insgesamt. Die zentrale Verbindung der Begriffe Begierde und Arbeit löst die letztere aus der bloßen Analogie zur abstrakten Tätigkeit des abstrakten Geistes. Arbeit im ungeschmälerten Sinn ist in der Tat an Begierde gebunden, die sie wiederum negiert: sie befriedigt die Bedürfnisse der Menschen auf all ihren Stufen, hilft ihrer Not, reproduziert ihr Leben und mutet ihnen dafür Verzichte zu. Noch in ihrer geistigen Gestalt ist Arbeit auch ein verlängerter Arm, Lebensmittel beizustellen, das verselbständigte und freilich dann seinem Wissen von sich selbst entfremdete Prinzip der Naturbeherrschung. Falsch aber wird der Idealismus, sobald er die Totalität der Arbeit in deren Ansichsein verkehrt, ihr Prinzip zum metaphysischen, zum actus purus des Geistes sublimiert und tendenziell das je von Menschen Erzeugte, Hinfällige, Bedingte samt der Arbeit selber, die ihr Leiden ist, zum Ewigen und Rechten verklärt. Wäre es erlaubt, über die Hegelsche Spekulation zu spekulieren, so könnte man in der Ausweitung des Geistes zur Totalität die auf den Kopf gestellte Erkenntnis vermuten, der Geist sei gerade kein isoliertes Prinzip, keine sich selbst genügende Substanz, sondern ein Moment der gesellschaftlichen Arbeit, das von der körperlichen getrennte. Körperliche Arbeit aber ist notwendig auf das verwiesen, was sie nicht selbst ist, auf Natur. Ohne deren Begriff kann Arbeit, und schließlich auch deren Reflexionsform, der Geist, so wenig vorgestellt werden wie Natur ohne Arbeit: beide sind unterschieden und durcheinander vermittelt in eins. Die Marxische Kritik des Gothaer Programms benennt um so genauer einen in der Hegelschen Philosophie tief verschlossenen Sachverhalt, je weniger sie als Polemik gegen Hegel gemeint war. Es geht um den allbeliebten Spruch: »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur.« Dem wird entgegengehalten: »Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn geben. Und soweit der Mensch sich von vornherein zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände, als Eigentümer verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn gerade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben.«13 Darum aber darf Hegel um keinen Preis die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit Wort haben und dechiffriert nicht den Geist als isolierten Aspekt der Arbeit, sondern verflüchtigt umgekehrt die Arbeit in ein Moment des Geistes, wählt gewissermaßen die rhetorische Figur pars pro toto zur Maxime. Losgelöst von dem, was nicht identisch ist mit ihr selber, wird Arbeit zur Ideologie. Die über die Arbeit anderer verfügen, schreiben ihr Würde an sich, jene Absolutheit und Ursprünglichkeit zu, gerade weil die Arbeit nur eine für andere ist. Arbeitsmetaphysik und Aneignung fremder Arbeit sind komplementär. Dies gesellschaftliche Verhältnis diktiert die Unwahrheit an Hegel, die Maskierung des Subjekts als Subjekt-Objekt, die Verleugnung des Nichtidentischen in der Totale, wie sehr jenem auch in der Reflexion jeden partikularen Urteils das Seine wird.
Am krassesten tritt, abgesehen vom Kapitel über Herr und Knecht, erstaunlicherweise das Wesen des Hegelschen produktiven Geistes als Arbeit hervor in der Lehre der Phänomenologie des Geistes von der »natürlichen Religion«, auf deren dritter Stufe erstmals Geistiges zum religiösen Inhalt werde als »Produkt der menschlichen Arbeit«14: »Der Geist erscheint also hier als der Werkmeister, und sein Thun, wodurch er sich selbst als Gegenstand hervorbringt, aber den Gedanken seiner noch nicht erfaßt hat, ist ein instinktartiges Arbeiten, wie die Bienen ihre Zellen bauen ... Die Krystalle der Pyramiden und Obelisken ... sind die Arbeiten dieses Werkmeisters der strengen Form.«15 Indem von Hegel die Fetischverehrung nicht einfach der Religion als rohes oder entartetes Stadium gegenübergestellt, sondern selbst als notwendiges Moment der Bildung des religiösen Geistes und damit, im Sinn der Subjekt-Objekt-Dialektik der Phänomenologie, des religiösen Gehalts an sich und schließlich des Absoluten bestimmt wird, ist menschliche Arbeit in ihrer dinghaft materiellen Gestalt in die wesentlichen Bestimmungen des Geistes als des Absoluten hineingenommen. Es bedürfte nur eines Geringen – des Gedächtnisses an das zugleich vermittelte und doch unauflösliche Naturalmoment der Arbeit –, und die Hegelsche Dialektik riefe sich selbst beim Namen.
Hat mit der Trennung körperlicher und geistiger Arbeit sich das Privileg die geistige, trotz aller entgegenlautenden Beteuerungen leichtere reserviert, so kehrt jene doch zugleich im geistigen Vorgang, dem durch Imagination vermittelten Nachbild physischen Handelns, mahnend immer wieder; der Geist kann seinem Verhältnis zu der zu beherrschenden Natur nie ganz sich entwinden. Um sie zu beherrschen, gehorcht er ihr; noch seine stolze Souveränität ist mit Leiden erkauft16. Die Metaphysik des Geistes aber, die ihn, als die ihrer selbst unbewußte Arbeit, zum Absoluten macht, ist die Affirmation seiner Verstricktheit, der Versuch des auf sich selbst reflektierenden Geistes, den Fluch, dem er sich beugt, indem er ihn weitergibt, in den Segen umzudeuten und zu rechtfertigen. Darin vorab kann die Hegelsche Philosophie des Ideologischen geziehen werden: der ins Unermeßliche überhöhten Auslegung des bürgerlichen Lobs der Arbeit. Die nüchtern realistischen Züge Hegels finden gerade an dieser erhobensten Stelle des idealistischen Systems, dem am Ende der Phänomenologie rauschhaft verkündeten Absoluten, ihre Zuflucht. Gleichwohl hat selbst diese trügende Identifikation der Arbeit mit dem Absoluten ihren triftigen Grund. Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben durch die geschlossene Universalität von gesellschaftlicher Arbeit; diese ist in der Tat die radikale Vermittlung, wie schon zwischen den Menschen und der Natur, so dann im fürsichseienden Geist, der nichts draußen duldet und die Erinnerung an das ächtet, was draußen wäre. Nichts in der Welt, was nicht dem Menschen einzig durch sie hindurch erschiene. Noch die reine Natur, wofern Arbeit keine Macht hat über sie, bestimmt sich eben durch ihr sei's auch negatives Verhältnis zur Arbeit. Erst das Selbstbewußtsein von all dem könnte die Hegelsche Dialektik über sich hinausführen, und dies eine Selbstbewußtsein ist ihr verwehrt: es spräche jenen Namen aus, auf den sie verzaubert ist. Weil nichts gewußt wird, als was durch Arbeit hindurchging, wird die Arbeit, zu Recht und zu Unrecht, zum Absoluten, Unheil zum Heil; darum besetzt jenes Ganze, das der Teil ist, in der Wissenschaft vom erscheinenden Bewußtsein zwangshaft, unausweichlich die Stelle der Wahrheit. Denn die Verabsolutierung der Arbeit ist die des Klassenverhältnisses: eine der Arbeit ledige Menschheit wäre der Herrschaft ledig. Das weiß der Geist, ohne es wissen zu dürfen; das ist das ganze Elend der Philosophie. Der Schritt jedoch, durch den sich die Arbeit zum metaphysischen Prinzip schlechthin aufwirft, ist kein anderer als die folgerechte Eliminierung jenes »Materials«, an das jede Arbeit gebunden sich fühlt, und das ihr selber ihre Grenze vorzeichnet, sie ans Untere gemahnt und ihre Souveränität relativiert. Darum jongliert Erkenntnistheorie so lange, bis das Gegebene die Illusion des selbst vom Geist Erzeugten bereitet. Verschwinden soll, daß auch der Geist noch unterm Zwang von Arbeit steht und selbst Arbeit ist; buchstäblich unterschiebt die große Philosophie den Inbegriff des Zwangs als Freiheit. Widerlegt wird sie, weil die Reduktion des Daseienden auf den Geist nicht gelingen kann, weil die erkenntnistheoretische Position, wie Hegel selber noch wußte, bei ihrer eigenen Durchführung verlassen werden muß; ihre Wahrheit aber hat sie daran, daß keiner aus der durch Arbeit konstituierten Welt in eine andere, unmittelbare hinauszutreten vermag. Die Kritik der Identifikation des Geistes mit der Arbeit läßt sich nur in der Konfrontation seines philosophischen Begriffs mit dem üben, was er eigentlich leistet, nicht im Rekurs auf ein wie immer auch geartetes positiv Transzendierendes.
Der Geist hat es nicht vollbracht. Man weiß, daß der Begriff des Systems in seiner nachdrücklichen Hegelschen Fassung, die ja nicht dem deduktiven Systembegriff der positiven Wissenschaften entspricht, organisch verstanden werden will, als Ineinanderwachsen und Ineinandergewachsensein aller Teilmomente kraft eines Ganzen, das einem jeglichen von ihnen bereits innewohne. Dieser Systembegriff impliziert die zum Alleinschließenden, Absoluten entfaltete Identität von Subjekt und Objekt, und die Wahrheit des Systems stürzt mit jener Identität. Sie aber, die volle Versöhnung durch den Geist inmitten der real antagonistischen Welt, ist bloße Behauptung. Die philosophische Antezipation der Versöhnung frevelt an der realen; was immer ihr widerspricht, schiebt sie als philosophie-unwürdig der faulen Existenz zu. Aber lückenloses System und vollbrachte Versöhnung sind nicht das Gleiche, sondern selber der Widerspruch: die Einheit des Systems rührt her von unversöhnlicher Gewalt. Die vom Hegelschen System begriffene Welt hat sich buchstäblich als System, nämlich das einer radikal vergesellschafteten Gesellschaft, erst heute, nach hundertfünfundzwanzig Jahren, satanisch bewiesen. Zum Großartigsten der Hegelschen Leistung rechnet, daß er aus dem Begriff jenen Systemcharakter der Gesellschaft herauslas, längst ehe dieser im Umkreis von Hegels eigener Erfahrung, dem in der bürgerlichen Entwicklung weit zurückgebliebenen Deutschland, sich durchsetzen konnte. Die durch »Produktion«, durch gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhältnis zusammengeschlossene Welt hängt in allen ihren Momenten von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion ab und verwirklicht insofern in der Tat den Vorrang des Ganzen über die Teile; darin verifiziert die verzweifelte Ohnmacht eines jeden Individuums heute den überschwenglichen Hegelschen Systemgedanken. Selbst der Kultus des Erzeugens, der Produktion ist nicht nur Ideologie des naturbeherrschenden, schrankenlos selbsttätigen Menschen. In ihm schlägt sich nieder, daß das universale Tauschverhältnis, in dem alles was ist, nur ein Sein für Anderes ist, unter der Herrschaft der über die gesellschaftliche Produktion Verfügenden steht: diese Herrschaft wird philosophisch angebetet. Gerade das Füranderesein, der offizielle Rechtsgrund für die Existenz aller Waren, wird von der Produktion nur mitgeschleppt. Eben die Welt, in der nichts um seiner selbst willen da ist, ist zugleich die des losgelassenen, seiner menschlichen Bestimmung vergessenden Produzierens. Diese Selbstvergessenheit der Produktion, das unersättliche und destruktive Expansionsprinzip der Tauschgesellschaft, spiegelt sich in der Hegelschen Metaphysik. Sie beschreibt, nicht in historischen Durchblicken, sondern wesentlich, wie die Welt eigentlich ist, ohne sich dabei durch die Frage nach der Eigentlichkeit blauen Dunst vorzumachen.
Die bürgerliche Gesellschaft ist eine antagonistische Totalität. Sie erhält einzig durch ihre Antagonismen hindurch sich am Leben und vermag sie nicht zu schlichten. In dem um seiner restaurativen Tendenz, um der Apologie des Bestehenden, um des Staatskults willen verrufensten Hegelschen Werk, der Rechtsphilosophie, ist das unverblümt formuliert. Gerade die Exzentrizitäten Hegels, die provokanten Stellen, die Schuld daran tragen, daß in der westlichen Welt bedeutende Denker wie Veblen, Dewey und auch Santayana ihn mit dem deutschen Imperialismus und Faschismus zusammenwarfen, wären aus dem Bewußtsein des antagonistischen Charakters der Totalität selber abzuleiten. Deshalb ist die Vergötzung des Staats bei Hegel nicht zu bagatellisieren, nicht als bloß empirische Aberration und unwesentliche Zutat zu behandeln. Aber sie ist selbst erzeugt von der Einsicht in das Unschlichtbare der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft durch deren Selbstbewegung. Entscheidend sind Stellen wie diese: »Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Uebermaaße des Reichthums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigenthümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Uebermaaße der Armuth und der Erzeugung des Pöbels zu steuern ... Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Ueberfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß u.s.f. nachstehen, Konsumenten und damit die nöthigen Subsistenzmittel zu suchen.«17 Daß mit dem gesellschaftlichen Reichtum die Armut, nach Hegels altertümlicher Terminologie der »Pauperismus« anwächst, dafür kennt das freie Kräftespiel der kapitalistischen Gesellschaft, deren liberale ökonomische Theorie Hegel akzeptiert hatte, kein Heilmittel, und noch weniger konnte er eine Steigerung der Produktion sich vorstellen, in der die Behauptung, die Gesellschaft sei nicht reich genug an Gütern, zum Hohn ward. Der Staat wird verzweifelt als eine jenseits dieses Kräftespiels stehende Instanz angerufen. Ausdrücklich bezieht sich der Paragraph 249 auf jene unmittelbar vorhergehende, avancierteste Stelle. Sein Anfang lautet: »Die polizeiliche Vorsorge verwirklicht und erhält zunächst das Allgemeine, welches in der Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist, als eine äußere Ordnung und Veranstaltung zum Schutz und Sicherheit der Massen von besonderen Zwecken und Interessen, als welche in diesem Allgemeinen ihr Bestehen haben, so wie sie als höhere Leitung Vorsorge für die Interessen (§ 246), die über diese Gesellschaft hinausführen, trägt.«18 Er soll beschwichtigen, was sonst nicht zu beschwichtigen wäre. Hegels Staatsphilosophie ist ein notwendiger Gewaltstreich; Gewaltstreich, weil sie die Dialektik sistiert im Zeichen eines Prinzips, dem Hegels eigene Kritik des Abstrakten gebührte, und das denn auch, wie er zumindest andeutet, keineswegs jenseits des gesellschaftlichen Kräftespiels seinen Ort hat: »Die gemeinschaftlichen besonderen Interessen, die in die bürgerliche Gesellschaft fallen, und außer dem an und für sich seyenden Allgemeinen des Staats selbst liegen, haben ihre Verwaltung in den Korporationen der Gemeinden und sonstiger Gewerbe und Stände, und deren Obrigkeiten, Vorsteher, Verwalter und dergleichen. Insofern diese Angelegenheiten, die sie besorgen, einer Seits das Privateigenthum und Interesse dieser besondern Sphären sind, und nach dieser Seite ihre Autorität mit auf dem Zutrauen ihrer Standesgenossen und Bürgerschaften beruht, anderer Seits diese Kreise den höheren Interessen des Staats untergeordnet seyn müssen, wird sich für die Besetzung dieser Stellen im Allgemeinen eine Mischung von gemeiner Wahl dieser Interessenten und von einer höheren Bestätigung und Bestimmung ergeben.«19 Notwendig aber war der Gewaltstreich, weil sonst das dialektische Prinzip über das Bestehende hinausgegriffen und damit die Thesis der absoluten Identität – und nur als verwirklichte ist sie absolut, das ist der Kern der Hegelschen Philosophie – verneint hätte. Nirgends ist die Hegelsche Philosophie der Wahrheit über ihr eigentliches Substrat, die Gesellschaft, nähergekommen als dort, wo sie ihr gegenüber zum Aberwitz wird. Sie ist in der Tat wesentlich negativ: Kritik. Indem Hegel die Transzendentalphilosophie von der Kritik der reinen Vernunft, eben kraft jener Thesis der Identität der Vernunft mit dem Seienden, zur Kritik des Seienden selber, einer jeglichen Positivität weitertreibt, hat er die Welt, deren Theodizee sein Programm bildet, zugleich auch in ihrer Ganzheit, ihrem Zusammenhang als einen Schuldzusammenhang denunziert, worin alles, was besteht, verdient, daß es zugrunde geht. Noch der falsche Anspruch, sie sei gleichwohl die gute, enthält in sich den legitimen, es solle die tatsächliche Welt nicht bloß in der ihr entgegenstehenden Idee, sondern leibhaftig zur guten und versöhnten werden. Geht schließlich das Hegelsche System durch die eigene Konsequenz in die Unwahrheit über, so wird damit nicht sowohl, wie die Selbstgerechtigkeit der positiven Wissenschaften es möchte, das Urteil über Hegel gesprochen als vielmehr das über die Wirklichkeit. Das höhnische »Desto schlimmer für die Tatsachen« wird nur darum so automatisch gegen Hegel mobilisiert, weil es über die Tatsachen den blutigen Ernst aussagt. Er hat diese im Denken denn doch nicht bloß nachkonstruiert, sondern dadurch, daß er sie denkend erzeugte, begriffen und kritisiert: ihre Negativität macht sie stets zu etwas anderem als dem, was sie bloß sind und was sie zu sein behaupten. Das Prinzip des Werdens der Wirklichkeit, wodurch sie mehr ist als ihre Positivität, also der zentrale idealistische Motor Hegels, ist zugleich antiidealistisch, Kritik des Subjekts an der Wirklichkeit, die der Idealismus dem absoluten Subjekt gleichsetzt, nämlich das Bewußtsein des Widerspruchs in der Sache und damit die Kraft der Theorie, mit der diese sich gegen sich selbst kehrt. Mißlingt Hegels Philosophie nach dem höchsten Kriterion, dem eigenen, so bewährt sie sich zugleich dadurch. Die Nichtidentität des Antagonistischen, auf die sie stößt und die sie mühselig zusammenbiegt, ist die jenes Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist. Aber gerade diese Nichtidentität hat in der Wirklichkeit die Form der Identität, den alleinschließenden Charakter, über dem kein Drittes und Versöhnendes waltet. Solche verblendete Identität ist das Wesen der Ideologie, des gesellschaftlich notwendigen Scheins. Einzig durchs Absolutwerden des Widerspruchs hindurch, nicht durch dessen Milderung zum Absoluten vermöchte er zu zergehen und vielleicht doch einmal zu jener Versöhnung zu finden, die Hegel vorgaukeln mußte, weil ihre reale Möglichkeit ihm noch verhüllt war. In all ihren partikularen Momenten will Hegels Philosophie negativ sein; wird sie aber, entgegen seiner Absicht, zur negativen auch als ganze, so erkennt sie darin die Negativität ihres Objekts. Indem an ihrem Ende die Nichtidentität von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sache, von Idee und Gesellschaft unstillbar hervortritt; indem sie in der absoluten Negativität zergeht, holt sie zugleich ein, was sie versprach, und wird wahrhaft mit ihrem verstrickten Gegenstand identisch. Die Ruhe der Bewegung aber, das Absolute, meint am Ende auch bei ihm nichts anderes als das versöhnte Leben, das des gestillten Triebes, das keinen Mangel mehr kennt und nicht die Arbeit, der allein es doch die Versöhnung dankt. Die Wahrheit Hegels hat danach ihren Ort nicht außerhalb des Systems, sondern sie haftet an diesem ebenso wie die Unwahrheit. Denn diese Unwahrheit ist keine andere als die Unwahrheit des Systems der Gesellschaft, die das Substrat seiner Philosophie ausmacht.
Die objektive Wendung, welche der Idealismus in Hegel genommen hat; die Restitution der durch den Kritizismus zerschmetterten spekulativen Metaphysik, die auch Begriffe wie den des Seins wiederherstellt und selbst den ontologischen Gottesbeweis erretten möchte – all das hat dazu ermutigt, Hegel für die Existentialontologie zu reklamieren. Heideggers Interpretation der Einleitung der Phänomenologie in den ›Holzwegen‹ ist dafür das bekannteste, wenn auch keineswegs das erste Zeugnis. Man mag an diesem Anspruch lernen, was die Existentialontologie heute ungern nur hört, ihre Affinität zum transzendentalen Idealismus, den sie durchs Pathos des Seins überwunden wähnt. Während aber, was heute unter dem Namen der Seinsfrage geht, als Moment im Hegelschen System seine Stelle findet, spricht er dem Sein eben jene Absolutheit ab, eben jenes Vorgeordnetsein vor jeglichem Denken und jeglichem Begriff, dessen die jüngste Auferstehung der Metaphysik sich zu bemächtigen hofft. Durch die Bestimmung von Sein als einem wesentlich negativ reflektierten, kritisierten Moment der Dialektik wird Hegels Theorie des Seins unvereinbar mit dessen gegenwärtiger Theologisierung. Kaum irgendwo ist seine Philosophie aktueller, als wo sie den Begriff Sein demontiert. Bereits die Bestimmung des Seins zu Beginn der Phänomenologie sagt das genaue Gegenteil dessen, was heute das Wort suggerieren will: »Die lebendige Substanz ist ferner das Seyn, welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens, oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist.«20 Der Unterschied zwischen dem Sein als Subjekt und dem mit dem bei Hegel noch orthographischen, heute archaischen Ypsilon geschriebenen ist der ums Ganze. Im Gegensatz zu dem Ausgang vom subjektiven Bewußtsein entwickelt dann die Logik, wie man weiß, die Kategorien des Denkens selbst in ihrer Objektivität auseinander und hebt dabei mit dem Begriff des Seins an. Dieser Anfang jedoch begründet keine prima philosophia. Hegels Sein ist das Gegenteil eines Urwesens. Die Unmittelbarkeit; der Schein, Sein sei aller Reflexion, aller Spaltung von Subjekt und Objekt logisch und genetisch vorgeordnet, wird von Hegel nicht dem Seinsbegriff als urtümliche Würde gutgeschrieben, sondern getilgt. Es ist, heißt es sogleich zu Beginn des Teils der Logik, dem das Wort Sein zum Titel dient, das »unbestimmte Unmittelbare«21, und eben diese Unmittelbarkeit, an welche die Existentialontologie sich klammert, wird um ihrer Unbestimmtheit willen für Hegel, der die Vermitteltheit eines jeglichen Unmittelbaren durchschaute, zum Einwand gegen die Dignität des Seins, zu dessen Negativität schlechthin, zum Motiv jenes dialektischen Schrittes, welcher das Sein dem Nichts gleichsetzt: »In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich ... Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere. – Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dieß reine, leere Anschauen selbst. Es ist ebenso wenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dieß leere Denken. Das Seyn, das unbestimmte Unmittelbare ist in der That Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts.«22 Diese Leere aber ist weniger eine ontologische Qualität von Sein als ein Mangel des philosophischen Gedankens, der im Sein terminiert. »Wird Seyn als Prädikat des Absoluten ausgesagt«, schreibt der reifste Hegel in der Enzyklopädie, »so giebt dieß die erste Definition desselben: Das Absolute ist das Seyn. Es ist dieß die (im Gedanken) schlechthin anfängliche, abstrakteste und dürftigste.«23 Letzte Erbschaft der Husserlschen originär gebenden Anschauung, wird heute der Seinsbegriff als aller Verdinglichung entrückt, als absolute Unmittelbarkeit zelebriert. Hegel hat ihn nicht nur um jener Unbestimmtheit und Leere willen als unanschaulich durchschaut, sondern als einen Begriff, der daran vergißt, daß er Begriff ist, und sich selbst als reine Unmittelbarkeit vermummt; gewissermaßen der dinghafteste von allen. »Beym Seyn als jenem Einfachen, Unmittelbaren wird die Erinnerung, daß es Resultat der vollkommenen Abstraktion, also schon von daher abstrakte Negativität, Nichts, ist, ... zurückgelassen«24, heißt es an einer etwas späteren Stelle der Logik. Daß aber dabei nicht ein erhabenes Spiel zwischen den Urworten tragiert wird, sondern daß die Kritik am Sein in der Tat Kritik an jeglichem emphatischen Gebrauch dieses Begriffs in der Philosophie meint, läßt sich an Sätzen ablesen, die in der Logik spezifisch gegen Jacobi zugespitzt sind: »Bei dieser ganz abstrakten Reinheit der Kontinuität, d.i. Unbestimmtheit und Leerheit des Vorstellens ist es gleichgültig, diese Abstraktion Raum zu nennen, oder reines Anschauen, reines Denken; – es ist Alles dasselbe, was der Inder, wenn er äußerlich bewegungslos, und ebenso in Empfindung, Vorstellung, Phantasie, Begierde, u.s.f. regungslos jahrelang nur auf die Spitze seiner Nase sieht, nur Om, Om, Om innerlich in sich, oder gar Nichts spricht, – Brahma nennt. Dieses dumpfe, leere Bewußtseyn ist, als Bewußtseyn aufgefaßt, – das Seyn.«25 Hegel hat die Anrufung des Seins in ihrer manischen Starrheit als formelhaftes Klappern der Gebetsmühle gehört. Er hat gewußt, was heute trotz allen Geredes vom Konkreten und gerade in der Magie der unbestimmten Konkretion, die keinen Gehalt hat als die eigene Aura, verfälscht und verloren ward: daß Philosophie nicht ihren Gegenstand in den obersten allgemeinen Begriffen um deren vermeintlicher Ewigkeit und Unvergänglichkeit willen suchen darf, die sich dann der eigenen Allgemeinbegrifflichkeit schämen. Er hat, wie nach ihm wohl nur noch der Nietzsche der Götzendämmerung, die Gleichsetzung des philosophischen Gehalts, der Wahrheit mit den höchsten Abstraktionen verworfen und die Wahrheit in eben jene Bestimmungen gesetzt, mit welchen die Hände sich zu beschmutzen die traditionelle Metaphysik zu edel war. Nicht zuletzt in dieser Intention, die am großartigsten in der dichten Beziehung der Stufen des Bewußtseins auf gesellschaftlich-historische Stufen in der Phänomenologie des Geistes waltet, transzendiert bei Hegel der Idealismus sich selber. Was als Anrufung der Urworte, als »Sage« heute über die Dialektik sich zu erheben behauptet, wird erst recht ihre Beute, die Abstraktion, die sich zum an und für sich Seienden aufbläht und die darüber zum schlechthin Inhaltlosen, zur Tautologie herabsinkt, zum Sein, das nichts anderes sagt als immer wieder nur Sein.
Die zeitgenössischen Seinsphilosophien, seit Husserl, sträuben sich gegen den Idealismus. Soviel an ihnen spricht in der Tat den irrevokablen Stand des geschichtlichen Bewußtseins aus: sie registrieren, daß aus der bloßen subjektiven Immanenz, dem Bewußtsein, das was ist nicht entfaltet oder gefolgert werden kann. Aber sie hypostasierten dabei das oberste Resultat subjektiv-begrifflicher Abstraktion, Sein, und sind damit, wie ihrer Stellung zur Gesellschaft, so auch dem theoretischen Ansatz nach, im Idealismus gefangen geblieben, ohne dessen innezuwerden. Nichts überführt sie dessen schlagender als die Spekulationen des Erzidealisten Hegel. Fühlen sich die Restauratoren der Ontologie, wie schon in Heideggers Frühschrift über ein vermeintliches Werk des Duns Skotus, weithin, nämlich mit Hinblick auf die Gesamtkonzeption der abendländischen Metaphysik, der sie später zu entrinnen hoffen, mit Hegel einig, so will in der Tat bei Hegel ein Äußerstes an Idealismus bloße Subjektivität transzendieren, den Verblendungskreis philosophischer Immanenz durchschlagen. Auch bei Hegel meint, einen Ausdruck Emil Lasks auf ein Allgemeineres anzuwenden, der Idealismus über sich hinaus. Hinter der formalen Übereinstimmung mit dem ontologischen Impuls jedoch verstecken sich Differenzen, deren Subtilität eine ums Ganze ist. Die Idee, welche bei Hegel eigentlich gegen den traditionellen Idealismus sich wendet, ist nicht die des Seins, sondern die der Wahrheit. »Daß die Form des Denkens die absolute ist und daß die Wahrheit in ihr erscheint, wie sie an und für sich ist, dieß ist die Behauptung der Philosophie überhaupt.«26 Die Absolutheit des Geistes, gegenüber jeglichem bloß endlichen, soll die Absolutheit der Wahrheit verbürgen, die dem bloßen Meinen, jeder Intention, jeder subjektiven »Tatsache des Bewußtseins« entrückt sei; das ist die Scheitelhöhe der Hegelschen Philosophie. Wahrheit bleibt ihm kein bloßes Verhältnis von Urteil und Gegenstand, kein Prädikat subjektiven Denkens, sondern soll darüber substantiell sich erheben, eben als ein »An und für sich«. Das Wissen der Wahrheit ist ihm nicht weniger als das Wissen vom Absoluten: darauf will seine Kritik an dem eingrenzenden, Subjektivität und Ansichsein unversöhnlich sondernden Kritizismus hinaus. Dieser habe, heißt es an einer von Kroner angeführten Stelle, dem »Nichtwissen des Ewigen und Göttlichen ein gutes Gewissen gemacht, indem sie [sc. ›die sogenannte kritische Philosophie‹] versichert, bewiesen zu haben, daß vom Ewigen und Göttlichen nichts gewußt werden könne ... Nichts ist der Seichtigkeit des Wissens sowohl als des Charakters willkommener gewesen, nichts so bereitwillig von ihr ergriffen worden als diese Lehre der Unwissenheit, wodurch eben diese Seichtigkeit und Schaalheit für das Vortreffliche, für das Ziel und Resultat alles intellectuellen Strebens ausgegeben worden ist.«27 Eine solche emphatische Idee von der Wahrheit straft den Subjektivismus Lügen, dessen emsige Sorge, ob auch die Wahrheit wahr genug sei, in der Abschaffung von Wahrheit selber terminiert. Der zur Wahrheit sich entfaltende Inhalt des Bewußtseins ist Wahrheit nicht bloß für das erkennende, sei's auch transzendentale Subjekt. Die Idee der Objektivität von Wahrheit stärkt die Vernunft des Subjekts: es soll ihm möglich, es soll zulänglich sein, während die heutigen Ausbruchsversuche aus dem Subjektivismus der Diffamierung des Subjekts sich verbinden. Als eine der Vernunft aber unterscheidet Hegels Idee sich von der Restauration des absoluten Seinsbegriffs dadurch, daß sie in sich vermittelt ist. Wahrheit an sich ist bei Hegel nicht das »Sein«: gerade in diesem verbirgt sich Abstraktion, die Verfahrungsweise des nominalistisch seine Begriffe herstellenden Subjekts. In Hegels Idee von der Wahrheit jedoch wird das subjektive Moment, das der Relativität, überstiegen, indem es seiner selbst innewird. In dem Wahren ist der Gedanke enthalten, in dem es doch nicht aufgeht; »es ist daher ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird«28. Nichts vielleicht sagt mehr vom Wesen dialektischen Denkens, als daß das Selbstbewußtsein des subjektiven Moments in der Wahrheit, die Reflexion auf die Reflexion, versöhnen soll mit dem Unrecht, das die zurichtende Subjektivität der an sich seienden Wahrheit antut, indem sie sie bloß meint und das als wahr setzt, was nie ganz wahr ist. Kehrt sich die idealistische Dialektik wider den Idealismus, so darum, weil ihr eigenes Prinzip, ja gerade die Überspannung ihres idealistischen Anspruchs anti-idealistisch zugleich ist. Unterm Aspekt des Ansichseins der Wahrheit nicht weniger als dem der Aktivität des Bewußtseins ist Dialektik ein Prozeß: Prozeß nämlich ist die Wahrheit selber. In immer neuen Wendungen wird das von Hegel hervorgehoben: »die Wahrheit ist die Bewegung ihrer an ihr selbst, jene Methode« – die mathematische – »aber ist das Erkennen, das dem Stoffe äußerlich ist«29. Diese Bewegung wird ausgelöst von dem denkenden Subjekt: »es kommt ... alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«30. Indem aber in jedem einzelnen Urteil die Sache, der es gilt, mit ihrem Begriff konfrontiert wird und indem darüber jedes einzelne endliche Urteil als unwahr zergeht, führt die subjektive Tätigkeit der Reflexion Wahrheit über den traditionellen Begriff der Anpassung des Gedankens an den Sachverhalt hinaus: Wahrheit läßt sich nicht länger als Qualität von Urteilen dingfest machen. Wohl heißt Wahrheit bei Hegel, ähnlich der herkömmlichen Definition und doch in geheimem Gegensatz zu ihr, »eben Übereinstimmung des Begriffs mit seiner Wirklichkeit«31; sie besteht »in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit sich selbst d.h. mit seinem Begriff«32. Weil aber kein endliches Urteil jene Übereinstimmung je erreicht, wird der Wahrheitsbegriff der prädikativen Logik entrissen und in die Dialektik als ganze verlegt. Es sei, sagt Hegel, »die Meinung auf die Seite zu legen, als ob die Wahrheit etwas Handgreifliches sein müsse«33. Die Kritik an der starren Trennung der Momente des Urteils schmilzt die Wahrheit, soweit sie als bloßes Resultat aufgefaßt wird, ein in den Prozeß. Sie zerstört den Schein, als könne Wahrheit überhaupt ein sich Anmessen des Bewußtseins an ein einzelnes ihm gegenüber Befindliches sein: »Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigene Wesen gelten, deren eines drüben, das andere hüben ohne Gemeinschaft mit dem andern isolirt und fest steht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann. Noch giebt es ein Falsches ... Es wird etwas falsch gewußt, heißt, das Wissen ist in Ungleichheit mit seiner Substanz. Allein eben diese Ungleichheit ist das Unterscheiden überhaupt, das wesentliches Moment ist. Es wird aus dieser Unterscheidung wohl ihre Gleichheit, und diese gewordene Gleichheit ist die Wahrheit. Aber sie ist nicht so Wahrheit, als ob die Ungleichheit weggeworfen worden wäre, wie die Schlacke vom reinen Metall, auch nicht einmal so, wie das Werkzeug von dem fertigen Gefäße wegbleibt, sondern die Ungleichheit ist als das Negative, als das Selbst, im Wahren als solchem selbst noch unmittelbar vorhanden.«34 Gebrochen ist mit der von der gesamten Philosophie vor- und nachgebeteten Lehre von der Wahrheit als einer adaequatio rei atque cogitationis. Durch die Dialektik, das zum Bewußtsein seiner selbst erweckte Verfahren des konsequenten Nominalismus, das einen jeglichen Begriff an seiner Sache überprüft und ihn damit seiner Insuffizienz überführt, leuchtet eine Platonische Idee von der Wahrheit auf. Nicht als unmittelbar anschauliche, evidente ist diese Idee behauptet, sondern wird erwartet von eben jener Insistenz der denkenden Arbeit, welche herkömmlicherweise bei der Kritik des Platonismus stehenbleibt: auch die philosophische Vernunft hat ihre List. Einzig dadurch, daß die Forderung nach Wahrheit den gleichwohl unabdingbaren Wahrheitsanspruch eines jeglichen beschränkten und deshalb unwahren Urteils zu Protest gehen läßt; daß sie die subjektive adaequatio durch Selbstreflexion verneint, geht Wahrheit von sich aus in eine objektive, nicht länger nominalistisch reduktible Idee über. Stets wieder wird denn auch von Hegel die Bewegung, welche die Wahrheit sein soll, als »Eigenbewegung« interpretiert, die von den Urteilssachverhalten her ebenso motiviert ist wie von der denkenden Synthesis. Daß das Subjekt sich nicht bei der bloßen Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte bescheiden muß, rührt daher, daß das Urteil keine bloß subjektive Tätigkeit, daß Wahrheit selber keine bloße Urteilsqualität ist, sondern daß in ihr immer zugleich auch das sich durchsetzt, was, ohne isolierbar zu sein, aufs Subjekt nicht sich zurückführen läßt und was die traditionellen idealistischen Erkenntnistheorien als bloßes X glauben vernachlässigen zu dürfen. Wahrheit entäußert sich ihrer Subjektivität: weil kein subjektives Urteil wahr sein kann und doch ein jegliches muß wahr sein wollen, transzendiert Wahrheit zum An sich. Als derart übergehende jedoch, so wenig bloß »gesetzte« wie bloß »enthüllte«, ist sie unvereinbar auch mit dem von Ontologie Erfragten. Die Hegelsche Wahrheit ist weder mehr, wie die nominalistische es war, in der Zeit, noch nach ontologischer Manier über der Zeit: Zeit wird für Hegel ein Moment von ihr selber. Wahrheit, als Prozeß, ist ein »Durchlaufen aller Momente« im Gegensatz zum »widerspruchslosen Satz« und hat als solche einen Zeitkern. Das liquidiert jene Hypostasis der Abstraktion und des sich selbst gleichenden Begriffs, welche die traditionelle Philosophie beherrscht. Hat die Hegelsche Bewegung des Begriffs in gewissem Sinne den Platonismus wiederhergestellt, so ist doch dieser Platonismus zugleich von seiner Statik, seinem mythischen Erbe geheilt und hat alle Spontaneität des befreiten Bewußtseins in sich aufgenommen. Wenn aber am Ende Hegel der Thesis von der Identität und damit dem Idealismus trotz allem verhaftet bleibt, so ist, zu einer Stunde des Geistes, da anders als vor hundert Jahren Konformität diesen fesselt, die längst wohlfeil gewordene Kritik des Idealismus, die damals der Übergewalt des Hegelschen erst abzuzwingen war, an ein Wahrheitsmoment noch jener Identitätsthese zu erinnern. Gäbe es, Kantisch gesprochen, kein Ähnliches zwischen Subjekt und Objekt, stünden beide einander, nach dem Wunsch des losgelassenen Positivismus, absolut, unvermittelt entgegen, so gäbe es nicht nur keine Wahrheit, sondern keine Vernunft, keinen Gedanken überhaupt. Das Denken, das seinen mimetischen Impuls völlig exstirpiert hätte; die Art von Aufklärung, welche die Selbstreflexion nicht vollzieht, die den Inhalt des Hegelschen Systems bildet und die Verwandtschaft von Sache und Gedanken nennt, mündete in den Wahnsinn. Das absolut beziehungslose Denken, als vollkommener Gegensatz zur Identitätsphilosophie; jenes, das einen jeglichen Anteil des Subjekts, eine jegliche »Besetzung«, jeglichen Anthropomorphismus von dem Objekt abzieht, ist das Bewußtsein des Schizophrenen. Seine Sachlichkeit triumphiert im pathischen Narzißmus. Der Hegelsche spekulative Begriff errettet die Mimesis durch die Besinnung des Geistes auf sich selbst: Wahrheit ist nicht adaequatio sondern Affinität, und am untergehenden Idealismus wird, durch Hegel, dies Eingedenken der Vernunft an ihr mimetisches Wesen als ihr Menschenrecht offenbar.
Es ließe daraus der Einwand sich ableiten, Hegel, der Platonische Realist und absolute Idealist, habe in der Hypostasis des Geistes dem Begriffsfetischismus nicht weniger gefrönt, als es heute im Namen des Seins geschieht. Das Urteil indessen, das auf diese Ähnlichkeit pocht, bliebe selbst abstrakt. Mag immer das abstrakte Denken und das abstrakte Sein, wie es zu Beginn der abendländischen Philosophie in einem freilich umstrittenen Vers aus dem Gedicht des Parmenides heißt, dasselbe sein, der Stellenwert des ontologischen Begriffs Sein und des Hegelschen der Vernunft ist verschieden. Beide Kategorien haben an der geschichtlichen Dynamik teil. Es ist, auch von Kroner, versucht worden, Hegel, um seiner Kritik am endlichen und beschränkten Reflektieren willen, unter die Irrationalisten einzureihen, und es gibt Äußerungen von Hegel, auf die man sich dabei berufen kann, wie jene, die Spekulation stände gleich dem unmittelbaren Glauben wider die Reflexion. Aber wie Kant in den drei Kritiken hält entscheidend auch er Vernunft fest als Eines, als Vernunft, Ratio, Denken. Noch die Bewegung, die über alle endlichen Denkbestimmungen hinausführen soll, ist eine selbstkritische des Denkens: der spekulative Begriff ist weder Intuition noch »kategoriale Anschauung«. Die Stringenz von Hegels Versuch der Rettung des ontologischen Gottesbeweises gegen Kant mag bezweifelt werden. Aber was ihn dazu bewog, war nicht der Wille zur Verdunkelung der Vernunft, sondern im Gegenteil die utopische Hoffnung, daß der Block, die »Grenzen der Möglichkeit der Erfahrung« nicht das Letzte sei; daß es doch, wie in der Schlußszene des Faust, gelinge: daß in all seiner Schwäche, Bedingtheit und Negativität der Geist der Wahrheit ähnele und darum zur Erkenntnis der Wahrheit tauge. Ward einmal, mit Grund, die Vermessenheit der Hegelschen Lehre vom absoluten Geist hervorgehoben, so kehrt heute, da der Idealismus von allen und am meisten von den geheimen Idealisten diffamiert wird, an der Vorstellung von der Absolutheit des Geistes ein heilsames Korrektiv sich hervor. Es richtet die lähmende Resignation des gegenwärtigen Bewußtseins, das immerzu bereit ist, aus eigener Schwäche nochmals die Erniedrigung zu bekräftigen, die ihm durch die Übergewalt des blinden Daseins angetan wird. »Im sogenannten ontologischen Beweise vom Daseyn Gottes ist es dasselbe Umschlagen des absoluten Begriffes in das Seyn, was die Tiefe der Idee in der neuern Zeit ausgemacht hat, was aber in der neuesten Zeit für das Unbegreifliche ausgegeben worden ist, – wodurch man denn, weil nur die Einheit des Begriffs und des Daseyns die Wahrheit ist, auf das Erkennen der Wahrheit Verzicht geleistet hat.«35
Wenn die Hegelsche Vernunft sich dagegen wehrt, bloß subjektiv und negativ zu sein, und immer wieder als Sprecherin des dieser subjektiven Vernunft Entgegengesetzten fungiert, ja mit Gusto am Vernunftwidrigen die Vernunft aufspürt, so will Hegel nicht bloß den Aufbegehrenden dadurch zum Gehorsam verhalten, daß er ihm das Heteronome und Entfremdete schmackhaft macht, wie wenn es seine eigene Sache wäre; auch nicht bloß ihn darüber belehren, daß es nichts nütze, wider den Stachel zu löcken. Sondern Hegel hat bis ins Innerste gespürt, daß nur durch jenes Entfremdete, nur gleichsam durch die Übermacht der Welt über das Subjekt hindurch die Bestimmung des Menschen überhaupt sich realisieren kann. Er soll noch die ihm feindlichen Mächte sich zueignen, gewissermaßen in sie hineinschlüpfen. Hegel hat in der Geschichtsphilosophie die List der Vernunft eingeführt, um plausibel zu machen, wie die objektive Vernunft, die Verwirklichung der Freiheit, vermöge der blinden, unvernünftigen Leidenschaften der historischen Individuen gelingt. Diese Konzeption verrät etwas vom Erfahrungskern des Hegelschen Denkens. Es ist listig insgesamt; es erhofft sich den Sieg über die Übergewalt der Welt, die es ohne Illusion durchschaut, davon, daß es diese Übergewalt gegen sie selber wendet, bis sie ins Andere umschlägt. Hegel definiert in dem von Eckermann überlieferten Gespräch mit Goethe, in dem er Farbe bekannte wie selten sonst, die Dialektik als den organisierten Widerspruchsgeist. Darin ist nicht zuletzt jene Art von List mitbenannt, etwas von grandioser Bauernschlauheit, die so lange gelernt hat, unter den Mächtigen sich zu ducken und ihrem Bedürfnis sich anzuschmiegen, bis sie ihnen die Macht entwinden kann: die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft aus der Phänomenologie plaudert das aus. Bekannt ist, daß Hegel sein Leben lang, auch als angeblich preußischer Staatsphilosoph, vom Schwäbischen nicht abließ, und die Berichte über ihn notieren stets wieder staunend die bei dem ausnehmend schwierigen Schriftsteller überraschende Einfachheit des Wesens. Unbeirrt hielt er der Herkunft die Treue, Bedingung eines starken Ichs und jeglicher Erhebung des Gedankens. Gewiß spielt auch ein unaufgelöstes Moment falscher Positivität herein: er fixiert das je Gegebene, worin er sich nun einmal findet, so wie einer, der glaubt, seine Würde zu bekräftigen, indem er durch Geste oder Wort bekundet, er sei ein geringer Mann. Aber jene Naivetät des Unnaiven, die im System ihre Entsprechung hat an der Wiederherstellung von Unmittelbarkeit auf allen seinen Stufen, bezeugt doch wiederum geniale Verschlagenheit, zumal dem dumm perfiden Vorwurf des Gekünstelten und Überspitzten gegenüber, der seitdem unverdrossen gegen jeden dialektischen Gedanken nachgeplappert wird. In der Naivetät des Gedankens, der seinem Gegenstand so nahe ist, als wäre er auf Du mit ihm, hat der sonst, nach Horkheimers Wort, so erwachsene Hegel ein Stück Kindheit sich gerettet, die Courage zur Schwäche, der ihr Ingenium eingibt, sie überwinde schließlich doch das Härteste.
Freilich ist auch unter diesem Aspekt die Hegelsche Philosophie, dialektischer vielleicht als sie selbst vermeint, auf des Messers Schneide. Denn so wenig sie »auf das Erkennen der Wahrheit Verzicht« leisten will, so unleugbar ist gleichwohl ihr resignativer Zug. Bestehendes möchte sie eben doch als vernünftig rechtfertigen und die Reflexion, die dagegen sich sträubt, mit jener Überlegenheit abfertigen, die darauf pocht, wie schwer die Welt sei, und daraus die Weisheit zieht, sie lasse sich nicht verändern. Wenn irgendwo, war Hegel an dieser Stelle bürgerlich. Selbst darüber zu Gericht zu sitzen indessen wäre subaltern. Die fragwürdigste und darum auch verbreiteteste seiner Lehren, die, das Wirkliche sei vernünftig, war nicht bloß apologetisch. Sondern Vernunft findet sich bei ihm in Konstellation mit Freiheit. Freiheit und Vernunft sind Nonsens ohne einander. Nur soweit das Wirkliche transparent auf die Idee der Freiheit, also die reale Selbstbestimmung der Menschheit ist, kann es für vernünftig gelten. Wer dies Erbe der Aufklärung aus Hegel eskamotiert und eifert, daß seine Logik eigentlich mit der vernünftigen Einrichtung der Welt nichts zu tun habe, verfälscht ihn. Noch wo er in seiner späteren Zeit das Positive, das er in seiner Jugend angriff: das was einmal ist, verteidigt, appelliert er an die Vernunft, die jenes bloß Seiende als mehr denn bloß seiend, unter dem Aspekt des Selbstbewußtseins und der Selbstbefreiung der Menschen, begreift. So wenig der absolute Idealismus von seinem subjektiven Ursprung in der selbsterhaltenden Vernunft des Einzelnen kann losgerissen werden, so wenig auch ihr objektiver Vernunftbegriff; schon in Kants Geschichtsphilosophie schlägt Selbsterhaltung kraft der eigenen Bewegung in Objektivität, in »Menschheit«, in eine richtige Gesellschaft um. Das allein hat Hegel dazu vermocht, die subjektive Vernunft, notwendiges Moment des absoluten Geistes, als das zugleich Allgemeine zu bestimmen. Die Vernunft des je Einzelnen, mit dem die Hegelsche Bewegung des Begriffs in der Dialektik der sinnlichen Gewißheit anhebt, ist, auch wenn sie es nicht weiß, immer bereits potentiell die Vernunft der Gattung. Soviel ist wahr auch an jener sonst unwahren Lehre der Idealisten, welche das transzendentale Bewußtsein, das die Abstraktion von individuellem ist, trotz seiner genetischen und logischen Verwiesenheit auf dieses als Ansichseiendes und Substantielles installiert. Der Janus-Charakter der Hegelschen Philosophie offenbart sich vorab an der Kategorie des Individuellen. Er durchschaut so gut wie der Antipode Schopenhauer das Moment des Scheins an der Individuation, die Verstocktheit des Beharrens auf dem, was man bloß selber ist, die Enge und Partikularität des Einzelinteresses, aber er hat dennoch die Objektivität oder das Wesen nicht ihrer Beziehung zum Individuum und zum Unmittelbaren enteignet: das Allgemeine ist immer zugleich das Besondere und das Besondere das Allgemeine. Indem die Dialektik dies Verhältnis auseinanderlegt, wird sie dem gesellschaftlichen Kraftfeld gerecht, in dem alles Individuelle vorweg bereits gesellschaftlich präformiert ist und in dem doch nichts anders als durch die Individuen hindurch sich realisiert. So wenig wie Subjekt und Objekt sind die Kategorien von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Gesellschaft stillzustellen, oder auch nur der Prozeß zwischen beiden als einer zwischen sich selbst gleichbleibenden Polen zu deuten: der Anteil beider Momente, ja was sie überhaupt sind, ist nur in der historischen Konkretion auszumachen. Wird gleichwohl in der Konstruktion der Hegelschen Philosophie das Allgemeine, gegenüber der Hinfälligkeit des Individuums Substantielle, schließlich Institutionelle aufs schwerste akzentuiert, so spricht auch daraus mehr als das Einverständnis mit dem Weltlauf, mehr als der billige Trost über die Hinfälligkeit der Existenz, sie sei eben bloß hinfällig. Während Hegels Philosophie die vollste Konsequenz aus dem bürgerlichen Subjektivismus zieht, also eigentlich die ganze Welt als Produkt von Arbeit – wenn man will als Ware – begreift, vollzieht er zugleich die schärfste Kritik an Subjektivität, weit über die Fichtesche Unterscheidung von Subjekt und Individuum hinaus. Das bei diesem abstrakt gesetzte Nicht-Ich wird von Hegel selbst entwickelt, der Dialektik unterworfen, konkret, und damit nicht nur generell sondern in seiner ganzen inhaltlichen Bestimmtheit zur Einschränkung des Subjekts. Während Hegels Lehre noch von Heine, sicherlich nicht dem Unverständigsten seiner Hörer, vorwiegend als Geltendmachen der Individualität aufgefaßt werden konnte, findet diese in zahllosen Schichten des Systems sich bis zur Mißachtung traktiert. Das aber spiegelt die Zweideutigkeit der in Hegel wahrhaft zum Selbstbewußtsein gelangten bürgerlichen Gesellschaft der Individualität gegenüber wider. Der Mensch als fessellos Produzierender erscheint der bürgerlichen Gesellschaft autonom, Erbe des göttlichen Gesetzgebers, virtuell allmächtig. Das Einzelindividuum aber, in dieser Gesellschaft in Wahrheit bloßer Agent des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, dessen eigene Bedürfnisse von diesem Prozeß gleichsam nur mitgeschleift werden, gilt darum zugleich auch als ganz ohnmächtig und nichtig. Im unaufgelösten Widerspruch zum Pathos des Humanismus befiehlt Hegel ausdrücklich und unausdrücklich den Menschen, als gesellschaftlich notwendige Arbeit Verrichtende einer ihnen fremden Notwendigkeit sich zu unterwerfen. Er verkörpert damit theoretisch die Antinomie des Allgemeinen und Besonderen in der bürgerlichen Gesellschaft. Aber indem er sie rücksichtslos formuliert, macht er sie durchsichtiger als je zuvor und kritisiert sie noch als ihr Verteidiger. Weil Freiheit die der realen einzelnen Individuen wäre, verschmäht er deren Schein, das Individuum, das inmitten der allgemeinen Unfreiheit sich geriert, als wäre es schon frei und allgemein. Dem Hegelschen Vertrauen auf die theoretische Vernunft, es sei ihr doch möglich, kommt das Wissen gleich, daß nur dann die Vernunft Hoffnung hat, sich zu verwirklichen, vernünftige Wirklichkeit zu werden, wenn sie den Hebelpunkt zeigt, von dem aus die uralte Last, der Mythos, aus den Angeln zu heben ist. Die Last ist das bloß Seiende, das schließlich im Individuum sich verschanzt; der Hebelpunkt dessen Vernunft als die des Seienden selber. Die Hegelsche Apologetik und Resignation ist die bürgerliche Charaktermaske, welche die Utopie vorgebunden hat, um nicht sogleich erkannt und ereilt zu werden; um nicht in der Ohnmacht zu verbleiben.
Wie wenig Hegels Philosophie im Begriff der Bürgerlichkeit sich erschöpft, wird am sinnfälligsten vielleicht in seiner Stellung zur Moral. Sie bildet ein Moment der Kritik, welche er an der Kategorie der Individualität überhaupt übt. Er hat als erster wohl, in der Phänomenologie, ausgesprochen, daß der Riß zwischen Ich und Welt durchs Ich selber nochmals hindurchgeht; daß er sich, nach Kroners Worten36, ins Individuum hinein fortsetzt und es spaltet nach der objektiven und subjektiven Vernünftigkeit seines Wollens und Tuns. Früh hat er gewußt, daß das Individuum selbst sowohl ein gesellschaftlich Funktionierendes, durch die »Sache«, nämlich seine Arbeit Bestimmtes, wie ein Wesen für sich selbst, mit spezifischen Neigungen, Interessen und Anlagen ist, und daß diese beiden Momente auseinanderweisen. Dadurch aber wird das rein moralische Handeln, in dem das Individuum ganz und gar sich selbst zu gehören und sich selbst das Gesetz zu geben wähnt, zweideutig, zum Selbstbetrug. Hat die moderne analytische Psychologie erkannt, daß, was der Einzelmensch über sich denkt, scheinhaft, in weitem Maß bloße »Rationalisierung« ist, so hat sie ein Stück Hegelscher Spekulation nach Hause gebracht. Den Übergang des reinen moralischen Selbstbewußtseins zur Heuchelei, der dann bei Nietzsche schlechterdings der kritische Angriffspunkt der Philosophie wird, leitete Hegel aus dem Moment seiner objektiven Unwahrheit ab. Formulierungen wie die der Phänomenologie vom »harten Herzen«, das da auf die Reinheit des Pflichtgebotes pocht, fallen gewiß historisch noch in den Zusammenhang der nach-Kantischen, etwa Schillerschen Kritik an der rigorosen Kantischen Ethik, präludieren aber zugleich bereits Nietzsches Lehre vom Ressentiment, von der Moral als »Rache«. Der Satz Hegels, daß es kein moralisch Wirkliches gebe, ist kein bloßes Durchgangsmoment zu seiner Lehre von der objektiven Sittlichkeit. In ihm bricht bereits die Erkenntnis durch, daß das Moralische sich keineswegs von selbst versteht, daß das Gewissen richtiges Handeln nicht gewährleistet und daß die reine Selbstversenkung des Ichs in das, was zu tun oder nicht zu tun sei, in Widersinn und Eitelkeit verstrickt. Hegel verfolgt einen Impuls der radikalen Aufklärung weiter. Er setzt das Gute dem empirischen Leben nicht als abstraktes Prinzip, als sich selbst genügende Idee entgegen, sondern bindet es dem eigenen Gehalt nach an die Herstellung eines richtigen Ganzen – an eben das, was in der Kritik der praktischen Vernunft unter dem Namen der Menschheit auftritt. Damit transzendiert Hegel die bürgerliche Trennung des Ethos als einer zwar unbedingt verpflichtenden, aber lediglich fürs Subjekt geltenden Bestimmung von der angeblich nur empirischen Objektivität der Gesellschaft. Das ist eine der großartigsten Perspektiven der Hegelschen Vermittlung des Apriori und des Aposteriori. Ungeahnt die Schärfe der Formulierung: »Die Bezeichnung eines Individuums als eines Unmoralischen fällt, indem die Moralität überhaupt unvollendet ist, an sich hinweg, hat also nur einen willkürlichen Grund. Der Sinn und Inhalt des Urtheils der Erfahrung ist dadurch allein dieser, daß einigen die Glückseligkeit an und für sich nicht zukommen sollte, d.h. er ist Neid, der sich zum Deckmantel die Moralität nimmt. Der Grund aber, warum Andern das so genannte Glück zu Theil werden sollte, ist die gute Freundschaft, die ihnen und sich selbst diese Gnade, d.h. diesen Zufall gönnt und wünscht.«37 So hätte kein bloßer Bürger geredet. Zur bürgerlichen Verherrlichung des Bestehenden gehört immer auch der Wahn hinzu, daß das Individuum, das rein Fürsichseiende, als welches im Bestehenden das Subjekt sich selbst notwendig erscheint, des Guten mächtig sei. Ihn hat Hegel zerstört. Seine Kritik an der Moral ist unversöhnlich mit jener Apologetik der Gesellschaft, welche, um sich in ihrer eigenen Ungerechtigkeit am Leben zu erhalten, der moralischen Ideologie des Einzelnen, seines Verzichtes auf Glück bedarf.
Ist einmal das Cliché von Hegels Bürgerlichkeit durchschaut, so wird man auch nicht länger mehr der Suggestion von Schopenhauer und dann von Kierkegaard erliegen, welche die Person Hegels als konformistisch, unbeträchtlich abtun und nicht zuletzt daraus ihr Verdikt gegen seine Philosophie herleiten. Zu seiner Ehre war Hegel kein existentieller Denker in dem von Kierkegaard inaugurierten und heute zur selbstgefälligen Phrase verderbten Sinn. Daß die jüngste und mittlerweile schon fadenscheinige Lesart des Persönlichkeitskults nicht auf ihn paßt, degradiert ihn nicht zu dem wohlbestallten, unbekümmert ums Leiden der Menschen dozierenden Professor, als den Kierkegaard und Schopenhauer ihn mit so viel Erfolg bei der Nachwelt angeschwärzt haben, nachdem Schopenhauer persönlich Hegel gegenüber unendlich viel weniger Humanität und Largesse bekundete als der Ältere, der ihn habilitierte, obwohl er im Colloquium in einem törichten Wortstreit sich gegen den Philosophen arrogant als gediegener, naturwissenschaftlich kompetenter Forscher aufspielte. Hegels Kritik hat jene Vorstellung von Existenz, die gegen ihn auftrumpft, überflügelt, längst ehe Existenz, der philosophierende Mensch und seine Eigentlichkeit, sich in die Brust warf und dann auch akademisch etablierte. Wie die bloße empirische Person dessen, der denkt, hinter der Gewalt und Objektivität des Gedankens, den er denkt, zurückbleibt, wann immer der Gedanke einer ist, so ist der Anspruch der Wahrheit eines Gedankens nicht dessen abbildliche Angemessenheit an den Denkenden, nicht die armselige Wiederholung dessen, was er ohnehin ist. Sondern solcher Anspruch bewährt sich an dem, was über die Befangenheit im bloßen Dasein hinausgeht, und worin der einzelne Mensch, damit es endlich gelinge, sich seiner selbst entäußert. Von dieser Entäußerung zeugt Hegels leidvolle Gebärde, das zerdachte Antlitz dessen, der sich buchstäblich zu grauer Asche verbrennt. Hegels bürgerliche Unscheinbarkeit ist der unermeßlichen, mit der eigenen Unmöglichkeit gezeichneten Anstrengung, das Unbedingte zu denken, zum Guten angeschlagen – einer Unmöglichkeit, die Hegels Philosophie als Inbegriff von Negativität selbst in sich reflektiert. Demgegenüber ist der Appell an Echtheit, Wagnis, Grenzsituation bescheiden. Wenn es wahrhaft des denkenden Subjekts in der Philosophie bedarf; wenn ohne jenes Element, das heute unter dem Warenzeichen des Existentiellen gehandelt wird, keine Einsicht in die Objektivität der Sache selbst geraten kann, dann legitimiert jenes Moment sich nicht, wo es sich affichiert, sondern wo es kraft der von der Sache ihm auferlegten Disziplin seine Selbstsetzung zerbricht und in der Sache erlischt. Das ist die Bahn Hegels wie kaum die eines anderen. Im gleichen Augenblick aber, wo das existentielle Moment sich selbst als Grund der Wahrheit behauptet, wird es schon zur Lüge. Auch ihr gilt Hegels Haß gegen die, welche der Unmittelbarkeit ihrer Erfahrung das Recht der ganzen Wahrheit zuwogen.
Unvergleichlich die Fülle von Erfahrung, von der bei ihm der Gedanke zehrt: sie ist in den Gedanken selber geschlagen, nirgends als bloßer Stoff, als »Material« oder gar als Beispiel und Beleg ihm äußerlich. Der abstrakte Gedanke wird durch das Erfahrene, der bloße Stoff durch den Zug des Denkens ins Lebendige zurückverwandelt: an jedem Satz der Phänomenologie des Geistes wäre das zu demonstrieren. Was man an Künstlern meist zu Unrecht rühmt, war ihm in der Tat beschieden: Sublimierung; er wahrhaft hat das Leben am farbigen Abglanz, an der Wiederholung im Geiste. Aber man darf sich die Sublimierung bei Hegel keineswegs als eins mit Verinnerlichung vorstellen. Seine Lehre von der Entäußerung, wie die Kritik der fürsichseienden und verblendeten, »eitlen« Subjektivität, die er einen Sinnes mit Goethe übt, und die über den Idealismus hinausdrängt, ist der Verinnerlichung entgegengesetzt, und auch die Person zeigt von dieser kaum die Spur. Der Mensch Hegel hat, wie das Subjekt seiner Lehre, im Geist beides, Subjekt und Objekt in sich hineingesaugt: das Leben seines Geistes ist in sich das volle Leben noch einmal. Sein Zurücktreten vom Leben ist daher mit der Ideologie der Gelehrten-Entsagung nicht zu verwechseln. Als sublimierter Geist tönt die Person vom Auswendigen, Leibhaftigen so wie nur große Musik: Hegels Philosophie rauscht. Wie bei seinem ihm hörigen Kritiker Kierkegaard könnte man von einem spirituellen Leib reden. Seine Braut, die Baronesse Maria von Tucher, verübelte ihm, daß er einem Brief, den sie an Hegels Schwester geschrieben hatte, die Worte hinzufügte: »Du siehst daraus, wie glücklich ich für mein ganzes übriges Wesen mit ihr sein kann, und wie glücklich mich solcher Gewinn einer Liebe, auf den ich mir kaum noch Hoffnung in der Welt machte, bereits schon macht, insofern Glück in der Bestimmung meines Lebens liegt.«38 Diese privaten Worte sind der ganze antiprivate Hegel. Ihr Gedanke kleidet sich später im Zarathustra in die poetisierende Form: »Trachte ich denn nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke«. Aber die fast geschäftsmännische Trockenheit und Nüchternheit, zu der bei Hegel das Äußerste an Pathos zusammenschrumpft, verleiht dem Gedanken eine Würde, die er einbüßt, sobald er das eigene Pathos mit Trompeten instrumentiert. Die Bestimmung jenes Lebens haftet am Gehalt seiner Philosophie. Keine war abgründiger im Reichtum, keine erhielt sich so unbeirrbar inmitten der Erfahrung, der sie sich ohne Reservat anvertraute; noch die Male ihres Mißlingens sind geschlagen von der Wahrheit selber.