Abschied vom Jazz
Die Verordnung, die es dem Rundfunk verwehrt, ›Negerjazz‹ zu übertragen, hat vielleicht einen neuen Rechtszustand geschaffen – künstlerisch aber nur durchs drastische Verdikt bestätigt, was sachlich längst entschieden ist: das Ende der Jazzmusik selber. Denn gleichgültig, was man unter weißem und unter Negerjazz verstehen will, hier gibt es nichts zu retten; der Jazz selber befindet sich längst in Auflösung, auf der Flucht in Militärmärsche und allerlei Folklore; mehr noch, er hat sich als pädagogisches Mittel ›rhythmischer Erziehung‹ stabilisiert und damit sichtbar die ästhetischen Ansprüche preisgegeben, die er zwar nicht und niemals im Bewußtsein der Tanz-Produzenten und -Konsumenten, wohl aber in der Ideologie der fixen Kunst-Komponisten erhob, die einmal dachten, davon sich befruchten zu lassen. Sie müssen sich nach anderem umsehen und sind gewiß schon dabei; in den überlebenden Bars aber wird bald der letzte eingeschobene Scheintakt, die letzte Dämpfertrompete wo nicht ungehört, so doch ohne Choc verklingen.
Es ist nicht großstädtische Entartung, wurzellose Exotik, gewiß nicht, wie Arglose meinen, die Bizarrerie aufpeitschender oder greller Asphaltharmonien, die im Jazz sich darstellt und mit ihm verschwindet. So wenig er mit echter Negermusik zu tun hat, die hier längst industriell geglättet und gefälscht ward, so wenig wieder eignet ihm Destruktives und Bedrohliches; selbst die respektlose Verwertung Beethovenscher oder Wagnerscher Themen, die aufreizen mochte und auf revolutionäre Hintergründe zu deuten schien, ist in Wahrheit lediglich Ausdruck der Armseligkeit einer Musikfabrikation, die derart genormt und auf den Konsum eingestimmt ward, daß das letzte bißchen Freiheit, der Einfall, ihr verloren ging, den sie sich denn dort stahl, wo sie ihn fand – man könnte an eine Art von ›Patent-Umgehung‹ dabei denken – indem sie die Freude des Gebildeten, sein Bildungsgut in der Bar wiedererkennen zu dürfen, nicht ohne Geschick einkalkulierte. Was vielmehr den Jazz aushöhlte, ist seine eigene Stupidität. Mit ihm wird nicht der musikalische Einfluß der Negerrasse auf die nördliche ausgemerzt; auch kein Kulturbolschewismus, sondern ein Stück schlechtes Kunstgewerbe.
Der Jazz war die Gebrauchsmusik der großbürgerlichen Oberschicht in der Nachkriegszeit. Ein Doppeltes garantierte ihm, verknüpft, den Erfolg. Einmal war er ohne weiteres konsumfähig; die Entwicklung der Kunstmusik hat er nur in kümmerlichen Reflexen, meist der impressionistischen Harmonik, registriert; durch den stets von der großen Trommel markierten Grundrhythmus aber stets und stets auch für den Unmusikalischen sich tanzbar erhalten, selbst wo die abenteuerlichen Kadenzen der hot-music, die Synkope als Prinzip und die wuchernde Freude an eingeschobenen dreitaktigen Rhythmen im viertaktigen Metrum alle Bande der Zucht und Sitte zu lockern schienen; nichts war da schwer zu verstehen, und so fremd die Fabrikware dem Verbraucher gegenübertrat, so mühelos war sie zu gebrauchen; bei den Exzessen aber ließ sich an die erotischen des Films denken, an jene Entkleidungsszenen, bedenklichen Badereisen und zweideutigen Situationen, die doch allemal, unterm Gebot einer Zensur, die ihnen tief innewohnt, vor der letzten Konsequenz stehen bleiben. Zugleich indessen gab sich der Jazz fortgeschritten, modern und arriviert. Weltwirtschaftlich klang die billige Fremde, die man da aus Montevideo, Waikiki und Schanghai beliebig importieren konnte: die kleinbürgerliche Enge von Tanzstunde, Polka und Galopp dünkte weit überholt; das geschlechtslose Saxophon erklärte meckernd sein halbes Einverständnis mit gewagten Dingen, und die Harmonien, weichlich bald und bald gebeizt, wirkten nicht bloß stimulierend, sondern erinnerten von fern, gruselig-behaglich, an die Dissonanzensphäre der neuen Musik, die man sonst so sorglich mied und mit der einzig hier der gefahrlose Umgang verstattet schien. Daran nicht genug, als Kunstgewerbe charakterisierte der Jazz sich zumal damit, daß er, seinen durchsichtigen industriellen Ursprüngen zum Trotz, von der ›Vulgärmusik‹ oberflächlich sich unterschied; daß der Konsum als Kunstgenuß sich maskieren durfte; die konzertierenden ›Jazz-Symphonie-Orchester‹ sind dafür der sinnfällige Ausdruck. Genauer noch aber die Technik der Improvisation, die im Zusammenhang mit Synkope und Scheintakt sich ausbildete. Denn der virtuose Saxophonist oder Klarinettist oder auch Schlagzeuger, der hier, zwischen den markierten Taktteilen, seine abenteuerlichen Sprünge machte, der die Akzente verschob und mit kühnen Glissandi die Töne verschleifte – er jedenfalls doch hätte der Industrialisierung enthoben sein sollen; sein Reich galt als Reich der Freiheit; hier war offenbar die starre Wand zwischen Produktion und Reproduktion gesprengt, die ersehnte Unmittelbarkeit wiederhergestellt, die Entfremdung von Mensch und Musik gemeistert aus vitaler Kraft.
Sie war es nicht, und daß sie es nicht war, machte Betrug und Untergang des Jazz aus. Die Versöhnung von Kunstmusik und Gebrauchsmusik, von Konsumierbarkeit und ›Niveau‹, von Ursprungsnähe und Arriviertheit, von Strenge und Freiheit, von Produktion und Reproduktion ist unwahr in allen Stücken. So zwar, daß alle Elemente von ›Kunst‹, individueller Freiheit des Ausdrucks, Unmittelbarkeit sich als bloße Verhüllungen des Warencharakters zu erkennen geben. Wie der Reiz der Nonenakkorde, der Septime am Schluß, der Ganztonkleckse im Jazz schäbig und abgebraucht ist und eine verwesende Moderne von vorgestern konserviert, so ist es bei genauerem Zusehen auch um jene seiner Errungenschaften bestellt, in denen man etwas von frischem Beginn und spontaner Regeneration zu entdecken meinte: denen des Rhythmus. Zunächst, die Synkope ist neu für die Gebrauchs-, keineswegs aber für die Kunstmusik; bei einem Meister wie Brahms etwa in unvergleichlich größerem Reichtum, eingreifenderer Tiefe der Konstruktion durchgeführt als bei den Jazzautoren, bei denen – wie es die ›Lehrbücher‹ der hot-music unfreiwillig, aber desto drastischer selbst enthüllen – die scheinbare Vielfalt rhythmischer Bildungen auf ein Minimum stereotyper und, wie man wohl sagen darf, ›genormter‹ Formeln sich zurückführen läßt. Dann aber, und das eben erklärt die Stereotypie, die rhythmischen Errungenschaften des Jazz sind bloß Ornamente über einer metrisch konventionellen, banalen Architektur, ohne alle Konsequenz für den Bau und beliebig zu entfernen. Dafür spricht schon die große Trommel, der die Kapriolen der Instrumente gleichgültig sind. Aber vor allem die Beschaffenheit der Kompositionen selber. Denn: das Schema der achttaktigen Periode mit seiner Gliederung in Halb- und Ganzschluß, das alte, billige Schema der Tanzmusik, weit dürftiger als, beispielshalber, die gestaltenreichen Walzer des großen Johann Strauß, ist für den Jazz blank in Geltung. Die ›Scheintakte‹, die im wesentlichen den angeblichen rhythmischen Reiz des Jazz ausmachten, haben ihr Wesen gerade darin, daß rhythmisch freie, improvisatorische Bildungen derart sich ergänzen, daß sie, zusammengefaßt, sich eben doch dem unerschütterten Schema einfügen; so also fügen sich, um den einfachsten und häufigsten Fall zu nennen, sukzessiv zwei Dreiachteltakte und ein Zweiachteltakt zu einem Viervierteltakt, wie die Trommel ihn mitzählt; und was für den einzelnen Takt gilt, gilt ebenso für die Periode, wie es an deren harmonischer und melodischer Gliederung ohne weiteres ersichtlich wird. Hätte man aus der Synkope und den rhythmisch-improvisatorischen Impulsen Folgerungen ziehen wollen, dann wäre die alte Symmetrie, damit aber auch die Struktur der tonalen Harmonik zerbrochen, wie es in den Jazzexperimenten Strawinskys tatsächlich der Fall ist; dann aber hätte der Jazz seine Konsumfähigkeit und Leichtverständlichkeit verloren und hätte sich in Kunstmusik verwandelt; jedoch vergebens, da eben jene Konsequenzen der Auflösung der alten tonalen Periodizität von der Kunstmusik längst gründlicher gezogen waren, ehe man an Jazz auch nur dachte. Der Jazz hat sich auf solche Wagnisse nicht eingelassen und hat sich mit der Langeweile seiner Scheineffekte begnügt. Höchst bezeichnend, wie leicht er sein Ferment, die Synkope, also die Verlagerung der Betonung weg vom ›guten Taktteil‹ der Zählzeit, preisgeben konnte. Schon Kurt Weill, den man um des Saxophonklanges willen gern mit dem Jazz zusammenbrachte, hat, im bewußten Streben nach Eingängigkeit, Synkope und Scheintakt geopfert und die primitiv-symmetrischen Sprechakzente von Song-Versen zur metrischen Regel gemacht; die Jazzfabrikanten aber haben, mit jener Eilfertigkeit, die ihnen nicht zum Guten ausschlagen wird und die durchschaut ist, schon seit zwei Jahren sich auf jenen patriotischen Kitsch umgestellt, den wohl nicht zufällig ein Regierungsverdikt zugleich mit dem Jazz ereilt, eben weil er ihm nahe verwandt ist; längst schon lag unter den bunten Schnörkeln des Jazz der Militärmarsch bereit. Die Schicht aber, die bislang den Jazz konsumierte, wird, wenn sie sich schon von dessen Inferiorität nicht ästhetisch überzeugen ließ, ihn politisch um so lieber preisgeben, als er, im Rahmen dessen, was zwischen zwei Viertaktern überhaupt möglich ist, Abwechslung schlechterdings nicht mehr zu bieten vermag.
Lernen ließ sich am Jazz die Emanzipation der Betonung von der Zählzeit; eine anständige, ob auch sehr begrenzte und spezielle Sache, die die Komponisten längst wußten, die aber vom Jazz aus vielleicht eine gewisse Breite in der reproduktiven Praxis erlangte. Sonst wird wenig davon bleiben, es sei denn die Erinnerung an ein paar Stücke, die den Elan des Beginns hatten wie »Kitten on the Keys«, an den Gesang der Revellers und an eine Zeit, die mit einem Schlag zur Geschichte versteinte. Hinterlassen hat der Jazz ein Vakuum. Keine neue Gebrauchsmusik ist da, ihn abzulösen, und keine wird sich bequem lancieren lassen. Dies Vakuum aber ist nicht das schlechteste. In ihm drückt sich wortlos, wie die Entfremdung von Kunst und Gesellschaft, so eine Gesamtverfassung der Wirklichkeit aus, die auszudrücken Worte fehlen. Mag dies Vakuum bewußtlos sein, es ist doch kein falsches Bewußtsein. Vielleicht, daß es im Schweigen laut wird.