II
Sein und Existenz
Kritik am ontologischen Bedürfnis treibt zur immanenten der Ontologie. Über die Seinsphilosophie hat keine Gewalt, was sie generell, von außen her abwehrt, anstatt in ihrem eigenen Gefüge mit ihr es aufzunehmen, nach Hegels Desiderat ihre eigene Kraft gegen sie zu wenden. Motivationen und Resultanten von Heideggers gedanklichen Bewegungen lassen sich, auch wo sie nicht ausgesprochen sind, nachkonstruieren; schwerlich enträt irgendeiner seiner Sätze des Stellenwerts im Funktionszusammenhang des Ganzen. Insofern ist er Nachfahre der deduktiven Systeme. Deren Geschichte schon ist reich an Begriffen, die vom gedanklichen Fortgang gezeitigt werden, auch wenn kein Zeigefinger auf den Sachverhalt sich legen läßt, der ihnen entspräche; in der Nötigung, sie zu bilden, entspringt das spekulative Moment der Philosophie. Die in ihnen versteinerte Denkbewegung ist wiederum zu verflüssigen, wiederholend gleichsam ihrer Triftigkeit nachzugehen. Nicht reicht dabei aus, der Seinsphilosophie zu demonstrieren, so etwas gebe es nicht wie das, was sie Sein nennt. Denn kein solches »Geben« postuliert sie. Statt dessen wäre solche Blindheit des Seins zu deduzieren als Antwort auf den Anspruch des Unwiderleglichen, der jene Blindheit ausnutzt. Noch die Sinnlosigkeit, deren Konstatierung den Positivismus zum Triumphgeschrei veranlaßt, leuchtet geschichtsphilosophisch ein. Weil die Säkularisation des einst als objektiv verpflichtend betrachteten theologischen Gehalts nicht sich widerrufen läßt, muß dessen Apologet ihn zu retten trachten durch Subjektivität hindurch. So verhielt virtuell sich bereits die Glaubenslehre der Reformation; sicherlich war es die Figur der Kantischen Philosophie. Seitdem ist Aufklärung unwiderstehlich fortgeschritten, Subjektivität selbst in den Prozeß der Entmythologisierung hineingerissen worden. Damit sank die Chance der Rettung bis zu einem Grenzwert. Paradox ist ihre Hoffnung zediert an ihre Preisgabe, an vorbehaltlose und zugleich sich selbst reflektierende Säkularisierung. Wahr ist soviel an Heideggers Ansatz, wie er dem sich beugt in der Negation traditioneller Metaphysik; unwahr wird er, wo er, gar nicht soviel anders als Hegel, redet, als wäre damit unmittelbar das zu Rettende gegenwärtig. Die Seinsphilosophie scheitert, sobald sie im Sein einen Sinn reklamiert, den nach ihrem eigenen Zeugnis jenes Denken auflöste, dem noch Sein selber als begriffliche Reflexion verhaftet ist, seitdem es gedacht wird. Die Sinnlosigkeit des Wortes Sein, über die der gesunde Menschenverstand so billig sich mokiert, ist nicht einem zu wenig Denken oder einem unverantwortlichen Drauflosdenken aufzubürden. In ihr schlägt die Unmöglichkeit sich nieder, positiven Sinn durch den Gedanken zu ergreifen oder zu erzeugen, der das Medium der objektiven Verflüchtigung von Sinn war. Sucht man die Heideggersche Unterscheidung des Seins von seinem umfangslogischen Begriff zu vollziehen, so behält man, nach Abzug des Seienden ebenso wie der Abstraktionskategorien, eine Unbekannte in Händen, die nichts voraushat vor dem Kantischen Begriff des transzendenten Dinges an sich als das Pathos seiner Invokation. Dadurch jedoch wird auch das Wort Denken, auf das Heidegger nicht verzichten mag, so inhaltslos wie das zu Denkende: Denken ohne Begriff ist keines. Daß jenes Sein, das zu denken Heidegger zufolge die wahre Aufgabe wäre, einer jeglichen Denkbestimmung sich sperrt, höhlt den Appell aus, es zu denken. Heideggers Objektivismus, der Bannfluch übers denkende Subjekt, ist davon das getreue Reversbild. In den für Positivisten sinnleeren Sätzen wird dem Weltalter der Wechsel präsentiert; falsch sind sie bloß darum, weil sie als sinnvoll sich aufwerfen, tönen wie das Echo eines Gehalts an sich. Nicht Sinn haust in der innersten Zelle von Heideggers Philosophie; während sie als Heilswissen sich vorträgt, ist sie, was Scheler Herrschaftswissen nannte. Zwar hat Heideggers Kultus des Seins, polemisch wider den idealistischen des Geistes, zur Voraussetzung Kritik an dessen Selbstvergottung. Das Heideggersche Sein jedoch, ununterscheidbar fast vom Geist, seinem Antipoden, ist nicht weniger repressiv denn jener; nur undurchsichtiger als er, dessen Prinzip Durchsichtigkeit war; darum noch unfähiger zur kritischen Selbstreflexion des herrschaftlichen Wesens als je die Geistesphilosophien. Die elektrische Ladung des Wortes Sein bei Heidegger verträgt sich gut mit dem Lob des frommen oder gläubigen Menschen schlechthin, das die neutralisierte Kultur spendet, als sei Frömmigkeit und Gläubigkeit an sich ein Verdienst, ohne Rücksicht auf die Wahrheit des Geglaubten. Diese Neutralisierung kommt bei Heidegger zu sich selbst: Seinsfrömmigkeit durchstreicht vollends den Inhalt, der in den halb oder ganz säkularisierten Religionen unverbindlich mitgeschleift war. Von den religiösen Gebräuchen ist bei Heidegger, der sie einübt, nichts übrig als die generelle Bekräftigung von Abhängigkeit und Unterwürfigkeit, Surrogat des objektiven Formgesetzes von Denken. Während das Gefüge permanent sich entzieht, läßt es wie der logische Positivismus den Adepten nicht aus. Wurden die Tatsachen alles dessen enteignet, wodurch sie mehr sind als Tatsachen, so bemächtigt Heidegger sich gleichsam des Abfallprodukts der verdampfenden Aura. Es garantiert der Philosophie etwas wie Postexistenz, wofern sie sich als mit ihrer Spezialität mit dem en kai pan beschäftigt. Der Ausdruck von Sein ist nichts anderes als das Gefühl jener Aura, einer ohne Gestirn freilich, das ihr das Licht spendete. In ihr wird das Moment der Vermittlung isoliert und dadurch unmittelbar. So wenig aber wie die Pole Subjekt und Objekt läßt Vermittlung sich hypostasieren; sie gilt einzig in deren Konstellation. Vermittlung ist vermittelt durchs Vermittelte. Heidegger überspannt sie zu einer gleichsam ungegenständlichen Objektivität. Er besiedelt ein imaginäres Zwischenreich zwischen dem Stumpfsinn der facta bruta und dem weltanschaulichen Geschwafel. Der Seinsbegriff, der seine Vermittlungen nicht Wort haben will, wird zu dem Wesenlosen, als das Aristoteles die Platonische Idee, das Wesen par excellence, durchschaute, zur Wiederholung des Seienden. Diesem ist entwendet, was immer dem Sein zugeschanzt wird. Während dadurch der emphatische Anspruch des Seins auf reine Wesentlichkeit hinfällig wird, hat das Seiende, das untilgbar dem Sein innewohnt, ohne in der Heideggerschen Version seinen ontischen Charakter bekennen zu müssen, an jenem ontologischen Anspruch parasitär teil. Daß das Sein sich zeige, vom Subjekt passiv hinzunehmen sei, ist entlehnt von den alten Daten der Erkenntnistheorie, die ein Faktisches, Ontisches sein sollten. Dies Ontische streift aber zugleich im sakralen Bezirk des Seins die Spur der Kontingenz ab, die ehemals seine Kritik gestattete. Kraft der Logik der philosophischen Aporie, ohne daß erst auf die ideologische Zutat des Philosophen gewartet würde, versetzt er die empirische Übermacht des so Seienden ins Wesenhafte. Die Vorstellung vom Sein als einer Entität, deren denkende Bestimmung unabdingbar das Gedachte versäume, indem sie es zerlegt und damit, nach der einschlägigen politischen Rede, zersetzt, läuft auf eleatische Geschlossenheit heraus wie einst das System und heute die Welt. Anders aber als die Absicht der Systeme, ist das Geschlossene heteronom: unerreichbar vom vernünftigen Willen sowohl der Einzelnen wie jenes gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, das bis heute nicht verwirklicht ist. In der zur Statik erneuerten Gesellschaft, die sich abzeichnet, scheinen dem Vorrat der apologetischen Ideologie keine neuen Motive mehr zuzuwachsen; vielmehr werden die gängigen soweit verdünnt und unkenntlich, daß sie von aktuellen Erfahrungen nur schwer desavouiert werden können. Projizieren die Rück- und Kunstgriffe der Philosophie Seiendes aufs Sein, so ist das Seiende glücklich gerechtfertigt; wird es als bloß Seiendes mit Verachtung gestraft, so darf es draußen unbehelligt sein Unwesen treiben. Nicht anders vermeiden zartbesaitete Diktatoren den Besuch in Konzentrationslagern, deren Funktionäre redlich nach ihren Richtlinien handeln.
Der Seinskult lebt von uralter Ideologie, den idola fori: dem, was im Dunkel des Wortes Sein und der daraus abgeleiteten Formen gedeiht. »Ist« stellt zwischen dem grammatischen Subjekt und dem Prädikat den Zusammenhang des Existentialurteils her und suggeriert damit Ontisches. Zugleich aber bedeutet es, rein für sich genommen, als Copula, den allgemeinen kategorialen Sachverhalt einer Synthesis, ohne selber ein Ontisches zu repräsentieren. Darum läßt es ohne viel Umstände auf der ontologischen Seite sich verbuchen. Von der Logizität der Copula bezieht Heidegger die ontologische Reinheit, die seiner Allergie gegen Faktisches gefällt; vom Existentialurteil aber die Erinnerung an Ontisches, die es dann erlaubt, die kategoriale Leistung der Synthesis als Gegebenheit zu hypostasieren. Wohl entspricht auch dem »Ist« ein »Sachverhalt«: in jeglichem prädikativen Urteil hat das »Ist« so gut wie Subjekt und Prädikat seine Bedeutung. Der »Sachverhalt« aber ist intentional, nicht ontisch. Die Copula erfüllt sich dem eigenen Sinn nach einzig in der Relation zwischen Subjekt und Prädikat. Sie ist nicht selbständig. Indem Heidegger sie als jenseits dessen verkennt, wodurch allein sie zu Bedeutung wird, übermannt ihn jenes dinghafte Denken, gegen das er aufbegehrte. Fixiert er das von »Ist« Gemeinte zum absoluten idealen An sich – eben dem Sein –, so hätte, einmal von der Copula losgerissen, das von Subjekt und Prädikat des Urteils Repräsentierte das gleiche Recht. Ihre Synthesis durch die Copula widerführe beidem bloß äußerlich; eben dagegen war der Seinsbegriff ersonnen. Subjekt, Copula, Prädikat wären abermals, wie in obsoleter Logik, in sich abgeschlossene, fertige Einzelheiten, nach dem Modell von Sachen. In Wahrheit jedoch tritt die Prädikation nicht hinzu, sondern ist, indem sie beide verkoppelt, auch das, was sie an sich schon wären, wenn dies »Wäre« ohne die Synthesis des »Ist« irgend sich vorstellen ließe. Das verwehrt die Extrapolation von der Copula auf ein vorgeordnetes Wesen »Sein« ebenso wie auf ein »Werden«, die reine Synthesis. Jene Extrapolation beruht auf einer bedeutungstheoretischen Verwechslung: der der allgemeinen Bedeutung der Copula »Ist«, der konstanten grammatischen Spielmarke für die Synthesis des Urteils, mit der spezifischen, die das »Ist« in jeglichem Urteil gewinnt. Beides fällt keineswegs zusammen. Insofern wäre das Ist den okkasionellen Ausdrücken zu vergleichen. Seine Allgemeinheit ist eine Anweisung auf Besonderung, die allgemeine Form für den Vollzug besonderer Urteile. Die Nomenklatur trägt dem Rechnung, indem sie für jene Allgemeinheit den wissenschaftlichen Terminus Copula bereithält und für die besondere Leistung, die das Urteil jeweils zu vollbringen hat, eben das »Ist«. Heidegger mißachtet die Differenz. Dadurch wird die besondere Leistung des »Ist« nur zu etwas wie einer Erscheinungsweise jenes Allgemeinen. Der Unterschied zwischen der Kategorie und dem Gehalt des Existentialurteils verschwimmt. Die Substitution der allgemeinen grammatischen Form für den apophantischen Inhalt verwandelt die ontische Leistung des »Ist« in ein Ontologisches, eine Seinsweise von Sein. Vernachlässigt man aber die im Sinn von »Ist« postulierte, vermittelte und vermittelnde Leistung im Besonderen, so bleibt kein wie immer auch geartetes Substrat jenes »Ist« zurück, sondern lediglich die abstrakte Form von Vermittlung überhaupt. Diese, nach Hegels Wort das reine Werden, ist so wenig ein Urprinzip wie irgendein anderes, wofern man nicht den Parmenides mit Heraklit austreiben will. Das Wort Sein hat einen Oberton, den allein die willkürliche Definition überhören könnte; er verleiht der Heideggerschen Philosophie ihre Klangfarbe. Ein jegliches Seiendes ist mehr, als es ist; Sein, in Kontrast zum Seienden, mahnt daran. Weil nichts Seiendes ist, das nicht, indem es bestimmt wird und sich selbst bestimmt, eines anderen bedürfte, das nicht es selber ist – denn durch es selbst allein wäre es nicht zu bestimmen –, weist es über sich hinaus. Vermittlung ist dafür lediglich ein anderes Wort. Heidegger aber sucht das über sich Hinausweisende zu halten und worüber es hinausweist als Schutt zurückzulassen. Verflochtenheit wird ihm zu deren absolutem Gegenteil, der proth oysia. Im Wort Sein, dem Inbegriff dessen, was ist, hat die Copula sich vergegenständlicht. Wohl wäre vom Ist ohne Sein so wenig zu reden wie von diesem ohne jenes. Das Wort verweist auf das objektive Moment, das in jedem prädikativen Urteil die Synthesis bedingt, in der es doch erst sich kristallisiert. Aber so wenig wie jener Sachverhalt im Urteil ist das Sein dem Ist gegenüber selbständig. Die Sprache, die Heidegger mit Recht für mehr nimmt denn die bloße Signifikation, zeugt kraft der Unselbständigkeit ihrer Formen gegen das, was er aus ihr herauspreßt. Verkoppelt die Grammatik das Ist mit der Substratkategorie Sein als deren Aktivum: daß etwas sei, so verwendet sie reziprok Sein lediglich im Verhältnis zu all dem, was ist, nicht an sich. Der Schein des ontologisch Reinen allerdings wird dadurch verstärkt, daß jegliche Analyse von Urteilen auf zwei Momente führt, deren keines – so wenig wie, metalogisch, Subjekt und Objekt[1] – aufs andere zu reduzieren ist. Der von der Schimäre eines absolut Ersten faszinierte Gedanke wird dazu neigen, schließlich noch jene Irreduktibilität selber als ein solches Letztes zu reklamieren. In Heideggers Seinsbegriff schwingt die Reduktion auf Irreduktibilität mit. Aber sie ist eine Formalisierung, die nicht sich zusammenreimt mit dem, was formalisiert wird. Sie besagt für sich genommen nicht mehr als das Negative, daß die Urteilsmomente, wann immer geurteilt wird, nicht nach der einen oder anderen Seite ineinander aufgehen; daß sie nicht identisch sind. Außerhalb dieses Verhältnisses der Urteilsmomente ist die Irreduktibilität ein Nichts, unter ihr überhaupt nichts zu denken. Darum kann ihr keine ontologische Priorität den Momenten gegenüber imputiert werden. Der Paralogismus liegt in der Transformation jenes Negativen, daß nicht eines der Momente aufs andere zurückzuführen ist, in ein Positives. Heidegger gelangt bis an die Grenze der dialektischen Einsicht in die Nichtidentität in der Identität. Aber den Widerspruch im Seinsbegriff trägt er nicht aus. Er unterdrückt ihn. Was irgend unter Sein gedacht werden kann, spottet der Identität des Begriffs mit dem von ihm Gemeinten; Heidegger jedoch traktiert es als Identität, reines es selbst Sein, bar seiner Andersheit. Die Nichtidentität in der absoluten Identität vertuscht er wie eine Familienschande. Weil das »Ist« weder nur subjektive Funktion noch ein Dinghaftes, Seiendes, nach herkömmlichem Denken keine Objektivität ist, nennt Heidegger es Sein, jenes Dritte. Der Übergang ignoriert die Intention des Ausdrucks, den Heidegger demütig auszulegen glaubt. Die Erkenntnis, das »Ist« sei kein bloßer Gedanke und kein bloß Seiendes, erlaubt nicht seine Verklärung zu einem jenen beiden Bestimmungen gegenüber Transzendenten. Jeder Versuch, das »Ist«, und wäre es in der blassesten Allgemeinheit, überhaupt nur zu denken, führt auf Seiendes hier und dort auf Begriffe. Die Konstellation der Momente ist nicht auf ein singuläres Wesen zu bringen; ihr wohnt inne, was selbst nicht Wesen ist. Die Einheit, die das Wort Sein verspricht, währt nur so lange, wie es nicht gedacht, wie nicht, gemäß Heideggers eigener Methode, seine Bedeutung analysiert wird; eine jede solche Analyse fördert zutage, was im Abgrund des Seins verschwand. Wird aber die Analyse von Sein selber tabu, so geht die Aporie über in Subreption. Im Sein soll das Absolute gedacht werden, aber nur weil es nicht sich denken läßt, sei es das Absolute; nur weil es magisch die Erkenntnis der Momente blendet, scheint es jenseits der Momente; weil die Vernunft ihr Bestes nicht denken kann, wird sie sich selbst zum Schlechten.
In Wahrheit sind, gegen die Sprachatomistik des ganzheitsgläubigen Heidegger, alle Einzelbegriffe bereits in sich mit den Urteilen verwachsen, welche die klassifizierende Logik vernachlässigt; die alte Dreiteilung der Logik nach Begriff, Urteil und Schluß ist ein Rückstand wie das Linnésche System. Urteile sind keine bloße Synthesis von Begriffen, denn kein Begriff ist ohne Urteil; Heidegger übersieht das, vielleicht im Bann der Scholastik. In der Vermitteltheit von Sein wie von Ist jedoch steckt Subjekt. Heidegger unterschlägt dies wenn man will idealistische Moment und erhöht dadurch Subjektivität zum allem Subjekt-Objekt-Dualismus Vorgängigen, Absoluten. Daß jegliche Analyse des Urteils auf Subjekt und Objekt führt, stiftet keine Region jenseits jener Momente, die an sich wäre. Sie ergibt die Konstellation jener Momente, kein höheres, nicht einmal ein allgemeineres Drittes. Gewiß wäre im Sinn Heideggers anzuführen, das Ist sei nicht dinghaft, nicht ta onta, kein Seiendes, keine Objektivität im üblichen Verstande. Denn ohne die Synthesis hat das Ist kein Substrat; im gemeinten Sachverhalt ließe auf kein tode ti sich deuten, das ihm entspräche. Also, lautet die Folgerung, müsse das Ist jenes Dritte indizieren, eben das Sein. Sie aber ist falsch, Gewaltstreich sich selbst genügender Semantik. Der Fehlschluß wird daran flagrant, daß ein solches vermeintlich reines Substrat des Ist nicht gedacht werden kann. Jeder Versuch dazu trifft auf Vermittlungen, denen das hypostasierte Sein enthoben sein möchte. Noch daraus jedoch, daß es nicht zu denken ist, zieht Heidegger den Gewinn zusätzlicher metaphysischer Würde des Seins. Weil es dem Denken sich verweigere, sei es das Absolute; weil es, gut hegelisch, weder auf Subjekt noch auf Objekt ohne Rest zu reduzieren ist, sei es jenseits von Subjekt und Objekt, während es doch unabhängig von ihnen überhaupt nicht wäre. Die Vernunft, die es nicht denken kann, wird am Ende selber diffamiert, als ob Denken irgend von Vernunft sich abspalten ließe. Unbestreitbar, daß Sein nicht einfach der Inbegriff dessen sei, was ist, was der Fall ist. Antipositivistisch läßt solche Einsicht dem Überschuß des Begriffs über die Faktizität Gerechtigkeit widerfahren. Kein Begriff wäre zu denken, keiner nur möglich ohne das Mehr, welches Sprache zur Sprache macht. Was indessen im Wort Sein, gegenüber ta onta, nachhallt: daß alles mehr sei, als es ist, meint Verflochtenheit, kein ihr Transzendentes. Dazu wird sie bei Heidegger, tritt zum einzelnen Seienden hinzu. Er folgt der Dialektik soweit, daß weder Subjekt noch Objekt ein Unmittelbares und Letztes seien, springt aber aus ihr heraus, indem er jenseits von ihnen nach einem Unmittelbaren, Ersten hascht. Archaistisch wird Denken, sobald es, was am zerstreuten Seienden mehr ist als es selbst, zur metaphysischen arxh verklärt. Als Reaktion auf den Verlust der Aura1 wird diese, das über sich Hinausweisen der Dinge, von Heidegger zum Substrat umfunktioniert und dadurch selbst den Dingen gleichgemacht. Er verordnet eine Repristination des Schauers, den, längst vor den mythischen Naturreligionen, das Ineinander bereitete: unterm deutschen Namen Sein wird Mana2 heraufgeholt, als gliche die heraufdämmernde Ohnmacht der prä-animistischer Primitiver, wenn es donnert. Insgeheim folgt Heidegger dem Gesetz, daß mit der fortschreitenden Rationalität der konstant irrationalen Gesellschaft immer weiter zurückgegriffen wird. Klug durch Schaden, vermeidet er das romantische Pelasgertum von Klages und die Mächte von Oskar Goldberg und flüchtet aus der Region des tangibeln Aberglaubens in einen Dämmer, in dem nicht einmal Mythologeme wie das von der Wirklichkeit der Bilder mehr sich formieren. Er entschlüpft der Kritik, ohne doch von den Avantagen des Ursprungs abzulassen; so weit wird dieser zurückverlegt, daß er außerzeitlich und darum allgegenwärtig erscheint. »Das geht aber/Nicht.«3 Nicht anders ist aus Geschichte auszubrechen als durch Regression. Ihr Ziel, das älteste, ist nicht das Wahre sondern der absolute Schein, die dumpfe Befangenheit in einer Natur, deren Undurchschautes Übernatur bloß parodiert. Heideggers Transzendenz[2] ist die verabsolutierte Immanenz, verstockt gegen den eigenen Immanenzcharakter. Der Erklärung bedarf jener Schein; wieso das schlechthin Abgeleitete, Vermittelte, Sein, die Insignien des ens concretissimum an sich reißen kann. Er basiert darauf, daß die Pole von traditioneller Erkenntnistheorie und Metaphysik, reines Diesda und reines Denken, abstrakt sind. Von beiden sind so viele Bestimmungen entfernt, daß über sie wenig mehr auszusagen ist, wofern das Urteil nach dem sich richten will, worüber es urteilt. Dadurch scheinen die beiden Pole gegeneinander ununterscheidbar, und das gestattet es, unvermerkt den einen anstelle des anderen zu bemühen, je nach dem zu Demonstrierenden. Der Begriff des Seienden schlechthin, seinem Ideal nach ohne alle Kategorie, braucht, in seiner vollkommenen Entqualifiziertheit, auf kein Seiendes sich einschränken zu lassen und kann sich Sein nennen. Sein aber, als absoluter Begriff, braucht nicht als Begriff sich zu legitimieren: durch jeglichen Umfang begrenzte es sich und frevelte gegen seinen eigenen Sinn. Darum kann es mit der Würde des Unmittelbaren so gut ausstaffiert werden wie das tode ti mit der des Wesenhaften. Zwischen den beiden gegeneinander indifferenten Extremen spielt Heideggers gesamte Philosophie[3]. Aber gegen seinen Willen setzt sich im Sein das Seiende durch. Jenes empfängt sein Leben von der verbotenen Frucht, als wäre diese Freyas Äpfel. Während Sein, um seiner auratischen Absolutheit willen, mit nichts Seiendem kontaminiert werden will, wird es doch nur dadurch zu jenem Unmittelbaren, das dem Absolutheitsanspruch den Rechtstitel liefert, daß Sein immer auch soviel bedeutet wie: Seiendes schlechthin. Sobald die Rede vom Sein der puren Invokation irgend etwas hinzufügt, stammt es aus dem Ontischen. Die Rudimente materialer Ontologie bei Heidegger sind zeitlich; Gewordenes und Vergängliches wie zuvor bei Scheler.
Gerechtigkeit allerdings widerfährt dem Seinsbegriff erst, wenn auch die genuine Erfahrung begriffen ist, die seine Instauration bewirkt: der philosophische Drang, das Unausdrückbare auszudrücken. Je verängstigter Philosophie jenem Drang, ihrem Eigentümlichen, sich gesperrt hat, desto größer die Versuchung, das Unausdrückbare direkt anzugehen, ohne die Sisyphusarbeit, die nicht die schlechteste Definition von Philosophie wäre, und die den Spott über sie so sehr ermuntert. Philosophie selbst, als Form des Geistes, enthält ein Moment, tief verwandt jenem Schwebenden, wie es bei Heidegger das, worüber zu meditieren wäre, annimmt, und wie es die Meditation verhindert. Denn weit spezifischer ist Philosophie eine Form, als die Geschichte ihres Begriffs vermuten läßt, in der sie selten, außer in einer Schicht Hegels, ihre qualitative Differenz von Wissenschaft, Wissenschaftslehre, Logik, mit denen sie doch verwachsen ist, ihrer Reflexion einverleibt. Philosophie besteht weder in vérités de raison noch in vérités de fait. Nichts, was sie sagt, beugt sich handfesten Kriterien eines der Fall Seins; ihre Sätze über Begriffliches so wenig denen des logischen Sachverhalts wie die über Faktisches denen empirischer Forschung. Zerbrechlich ist sie auch wegen ihrer Distanz. Sie läßt nicht sich festnageln. Soweit ist ihre Geschichte eine permanenten Mißlingens, wie sie dem Handfesten immer wieder, terrorisiert von der Wissenschaft nachgehängt hat. Ihre positivistische Kritik verdient sie durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den die Wissenschaft verwirft; jene Kritik irrt, indem sie die Philosophie mit einem Kriterium konfrontiert, das nicht ihres ist, wo irgend sie ihrer Idee gehorcht. Sie verzichtet aber nicht auf Wahrheit, sondern belichtet die szientifische als beschränkt. Ihr Schwebendes bestimmt sich dadurch, daß sie in ihrer Distanz zur verifizierenden Erkenntnis doch nicht unverbindlich ist, sondern ein eigenes Leben von Stringenz führt. Diese sucht sie in dem, was sie selber nicht ist, dem ihr Entgegengesetzten, und in der Reflexion dessen, was positive Erkenntnis mit schlechter Naivetät als verbindlich supponiert. Philosophie ist weder Wissenschaft noch, wozu der Positivismus mit einem albernen Oxymoron sie degradieren möchte, Gedankendichtung, sondern eine zu dem von ihr Verschiedenen ebenso vermittelte wie davon abgehobene Form. Ihr Schwebendes aber ist nichts anderes als der Ausdruck des Unausdrückbaren an ihr selber. Darin wahrhaft ist sie der Musik verschwistert. Kaum ist das Schwebende recht in Worte zu bringen; das mag verursacht haben, daß die Philosophen, außer etwa Nietzsche, darüber hinweggleiten. Eher ist es die Voraussetzung zum Verständnis philosophischer Texte als ihre bündige Eigenschaft. Es mag geschichtlich entsprungen sein und auch wieder verstummen, wie der Musik es droht. Heidegger hat das innerviert und jenes Spezifische der Philosophie, vielleicht weil es sich anschickt zu verlöschen, buchstäblich in eine Sparte, eine Gegenständlichkeit quasi höherer Ordnung transformiert: Philosophie, die erkennt, daß sie weder über Faktizität noch über Begriffe urteilt, wie sonst geurteilt wird, und die nicht einmal ihres Gegenstandes sicher sich weiß, möchte ihren gleichwohl positiven Gehalt jenseits von Faktum, Begriff und Urteil haben. Dadurch ist das Schwebende des Denkens überhöht zu dem Unausdrückbaren selbst, das es ausdrücken will; das Ungegenständliche zum umrissenen Gegenstand eigenen Wesens; und eben dadurch verletzt. Unter der Last der Tradition, die Heidegger abschütteln will, wird das Unausdrückbare ausdrücklich und kompakt im Wort Sein; der Einspruch gegen Verdinglichung verdinglicht, dem Denken entäußert und irrational. Indem er das Unausdrückbare der Philosophie unmittelbar thematisch behandelt, staut Heidegger jene zurück bis zum Widerruf des Bewußtseins. Zur Strafe versiegt die nach seiner Konzeption verschüttete Quelle, die er ausgraben möchte, dürftiger als je die Einsicht der vorgeblich destruierten Philosophie, die dem Unausdrückbaren durch ihre Vermittlungen sich zuneigt. Was, unter Mißbrauch Hölderlins, der Dürftigkeit der Zeit zugeschrieben wird, ist die des Denkens, das jenseits von Zeit sich wähnt. Nichtig ist der unmittelbare Ausdruck des Unausdrückbaren; wo sein Ausdruck trug, wie in großer Musik, war sein Siegel das Entgleitende und Vergängliche, und er haftete am Verlauf, nicht am hindeutenden Das ist es. Der Gedanke, der das Unausdrückbare denken will durch Preisgabe des Gedankens, verfälscht es zu dem, was er am wenigsten möchte, dem Unding eines schlechthin abstrakten Objekts.
Das Kind, könnte Fundamentalontologie plädieren, wenn es ihr nicht zu ontisch-psychologisch wäre, fragt nach dem Sein. Das treibt die Reflexion ihm aus, und die Reflexion der Reflexion möchte es, wie von je im Idealismus, wiedergutmachen. Aber schwerlich fragt die gedoppelte Reflexion wie das Kind unmittelbar. Sein Verhalten malt die Philosophie, gleichsam mit dem Anthropomorphismus des Erwachsenen, als die der Kindheit der gesamten Gattung, als vorzeitlich-überzeitlich sich aus. Woran es laboriert, ist eher sein Verhältnis zu den Worten, die es mit einer im späteren Alter kaum mehr vorstellbaren Anstrengung sich zueignet, denn die Welt, die ihm als eine von Aktionsobjekten in den frühen Phasen einigermaßen vertraut ist. Es will sich der Bedeutung der Worte versichern, und die Beschäftigung damit, wohl auch ein psychoanalytisch erklärbarer, koboldhaft nörgelnder Eigensinn bringt es aufs Verhältnis von Wort und Sache. Es mag seine Mutter mit dem peinlichen Problem sekkieren, warum die Bank Bank heißt. Seine Naivetät ist unnaiv. Als Sprache ist Kultur in sehr frühe Regungen seines Bewußtseins eingewandert; eine Hypothek auf der Rede von Ursprünglichkeit. Der Sinn der Worte und ihr Wahrheitsgehalt, ihre »Stellung zur Objektivität« sind noch nicht scharf voneinander abgehoben; wissen, was das Wort Bank bedeute, und was eine Bank wirklich sei – wozu doch das Existentialurteil hinzurechnet –, ist jenem Bewußtsein gleich oder wenigstens nicht differenziert, übrigens in zahllosen Fällen nur mühsam zu scheiden. Orientiert am erlernten Wortschatz, ist insofern gerade die kindliche Unmittelbarkeit in sich vermittelt, das Bohren nach dem Warum, dem Ersten präformiert. Sprache wird als pysei, nicht als tesei erfahren, ›taken for granted‹; am Anfang ist der Fetischismus, und dem bleibt die Jagd nach dem Anfang stets untertan. Freilich ist jener Fetischismus kaum zu durchschauen, weil schlechterdings alles Gedachte auch sprachlich ist, der besinnungslose Nominalismus so falsch wie der Realismus, der der fehlbaren Sprache die Attribute der geoffenbarten erteilt. Heidegger hat für sich, daß es kein sprachloses An sich gibt; daß also Sprache in der Wahrheit ist, nicht diese in der Sprache als ein von ihr bloß Bezeichnetes. Aber der konstitutive Anteil der Sprache an der Wahrheit stiftet keine Identität beider. Die Kraft der Sprache bewährt sich darin, daß in der Reflexion Ausdruck und Sache auseinander treten4. Sprache wird zur Instanz von Wahrheit nur am Bewußtsein der Unidentität des Ausdrucks mit dem Gemeinten. Heidegger weigert sich jener Reflexion; er hält inne nach dem ersten Schritt der sprachphilosophischen Dialektik. Repristination ist sein Denken auch darin, daß es durch ein Ritual des Nennens die Gewalt des Namens wiederherstellen möchte. Diese Gewalt indessen ist nicht derart in den säkularisierten Sprachen gegenwärtig, daß sie es dem Subjekt gestatteten. Durch Säkularisierung haben die Subjekte ihnen den Namen entzogen, und ihrer Intransigenz, keines philosophischen Gottvertrauens bedarf die Objektivität der Sprache. Mehr als Signum ist sie nur durch ihre signifikative Kraft, dort wo sie am genauesten und dichtesten das Gemeinte hat. Sie ist nur, soweit sie wird, in der stetigen Konfrontation von Ausdruck und Sache; danach handelte Karl Kraus, der doch selbst einer ontologischen Ansicht von der Sprache zugeneigt haben dürfte. Heideggers Verfahren aber ist, nach Scholems Prägung, deutschtümelnde Kabbalistik. Er verhält sich zu den geschichtlichen Sprachen, als wären sie die des Seins, romantisch wie alles gewalttätig Antiromantische. Seine Art Destruktion verstummt vor der unbesehenen philologischen Bildung, die er zugleich suspendiert. Solches Bewußtsein bejaht, was es umgibt, oder findet wenigstens damit sich ab; genuiner philosophischer Radikalismus, wie immer er historisch auftrat, ist Produkt des Zweifels. Scheinhaft ist die radikale Frage selber, die nichts als jenen zerstört.
Den emphatischen Ausdruck des Wortes Sein untermauert Heideggers alte Kategorie der Eigentlichkeit, die freilich später kaum mehr genannt wird. Die Transzendenz von Sein gegenüber Begriff und Seiendem will das Desiderat der Eigentlichkeit einlösen als das, was kein Schein sei, weder veranstaltet noch hinfällig. Protestiert wird, mit Grund, dagegen, daß die geschichtliche Entfaltung der Philosophie die Unterscheidung von Wesen und Schein nivellierte, den inhärenten Impuls von Philosophie als dem taymazein, dem Ungenügen an der Fassade. Unreflektierte Aufklärung hat die metaphysische These vom Wesen als der wahren Welt hinter den Erscheinungen mit der ebenso abstrakten Gegenthese negiert, das Wesen wäre, als Inbegriff von Metaphysik, der Schein: als ob der Schein darum das Wesen wäre. Kraft der Spaltung der Welt versteckt sich das Gesetz von Spaltung, das Eigentliche. Der Positivismus, der dem sich anpaßt, indem er, was nicht Datum, was verborgen ist, als Mythos und subjektive Projektion durchstreicht, befestigt damit ebenso die Scheinhaftigkeit wie einst die Lehren, die übers Leiden im mundus sensibilis mit der Beteuerung des Noumenalen trösteten. Etwas von diesem Mechanismus hat Heidegger gespürt. Aber das Eigentliche, das er vermißt, schlägt sogleich um in Positivität, Eigentlichkeit als ein Verhalten des Bewußtseins, das, indem es aus der Profanität auswandert, den theologischen Habitus der alten Wesenslehre ohnmächtig nachahmt. Gefeit wird das verborgene Wesen vorm Verdacht, es sei Unwesen. Keine Erwägung wagt sich etwa daran, daß die Kategorien der sogenannten Vermassung, die ›Sein und Zeit‹ ebenso wie das Göschenbändchen über die geistige Situation der Zeit von Jaspers entwickelt, selber solche jenes verborgenen Unwesens sein könnten, das die Menschen zu dem macht, was sie sind; sie müssen sich dann von der Philosophie auch noch beschimpfen lassen, weil sie das Wesen vergessen hätten. Der Widerstand gegen das verdinglichte Bewußtsein, der im Pathos der Eigentlichkeit nachzittert, ist gebrochen. Der Rest von Kritik wird losgelassen auf die Erscheinung, nämlich die Subjekte; unbehelligt bleibt das Wesen, dessen Schuld von der ihren bloß repräsentiert wird und sich reproduziert. – Während die Fundamentalontologie vom taymazein nicht sich ablenken läßt, verbaut sie sich die Antwort, was eigentlich sei, durch die Gestalt der Frage. Nicht umsonst wird diese durch den dégoutanten Terminus Seinsfrage zugerüstet. Verlogen ist es darum, weil an das leibhafte Interesse jedes Einzelnen – das nackte des Hamletmonologs, ob der Einzelne absolut vernichtet ist mit dem Tod oder ob er die Hoffnung des christlichen non confundar hat – appelliert wird, jedoch, was Hamlet mit Sein oder Nichtsein meint, ersetzt durch das reine Wesen, das die Existenz verschluckt. Indem die Existentialontologie, nach phänomenologischem Brauch, etwas thematisch macht, mit Aufgebot von Deskriptionen und Distinktionen, befriedigt sie das Interesse und lenkt davon ab. »Die Seinsfrage«, sagt Heidegger, »zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst. Alle Ontologie, mag sie über ein noch so reiches und festverklammertes Kategoriensystem verfügen, bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat.«5 Durch die Überspannung dessen, was in solchen Sätzen phänomenologische Umständlichkeit als Seinsfrage zurüstet, büßt diese ein, was unter dem Wort vorgestellt werden kann, und jenes Vorgestellte wird womöglich noch derart abgewertet zur betriebsamen Befangenheit, daß die Versagung als höhere Wahrheit, als eigentliche Antwort der umgangenen Frage sich empfiehlt. Um nur ja eigentlich genug zu sein, zieht sich die sogenannte Seinsfrage auf den dimensionslosen Punkt dessen zusammen, was sie als einzig echtbürtige Bedeutung von Sein zuläßt. Sie verwandelt sich ins Verbot, über sich selbst, schließlich über jene Tautologie hinauszugehen, die bei Heidegger darin sich manifestiert, daß das sich entbergende Sein nichts anderes sagt als immer wieder nur Sein.6 Heidegger würde das tautologische Wesen von Sein womöglich noch als ein den Bestimmungen der Logik Superiores ausgeben. Aber es ist aus der Aporetik zu entwickeln. Wie Husserl schon, beugt sich Heidegger unbekümmert Desideraten des Denkens nebeneinander, welche in der Geschichte der von ihm allzu souverän außer Kurs gesetzten Metaphysik als inkompatibel sich erwiesen: dem Reinen, von aller empirischen Beimischung Freien und darum absolut Gültigen, und dem Unmittelbaren, schlechthin Gegebenen, unwiderleglich, weil es des begrifflichen Zusatzes enträt. So kombinierte Husserl das Programm einer »reinen«, nämlich eidetischen Phänomenologie mit dem der Selbstgegebenheit des erscheinenden Gegenstands. Bereits im Titel »reine Phänomenologie« treten die kontradiktorischen Normen zusammen. Daß sie keine Erkenntnistheorie, sondern eine nach Belieben einzunehmende Einstellung sein wollte, dispensierte davon, das Verhältnis ihrer Kategorien zueinander zu durchdenken. Mit Rücksicht darauf differiert Heidegger von seinem Lehrer nur insofern, als er das kontradiktorische Programm von seinem Husserlschen Schauplatz, dem Bewußtsein, weg und ins Bewußtseinstranszendente hineinverlegt, eine Konzeption übrigens, die im Übergewicht des Noemas beim mittleren Husserl vorgebildet war. Die Inkompatibilität des Reinen und des Anschaulichen aber zwingt dazu, das Substrat ihrer Einheit so unbestimmt zu wählen, daß es kein Moment mehr enthält, an dem die eine der beiden Forderungen die andere Lügen strafen könnte. Deshalb darf das Heideggersche Sein weder seiend noch Begriff sein. Für die dadurch erlangte Unanfechtbarkeit hat es mit seiner Nihilität zu zahlen, einer Unerfüllbarkeit durch jeglichen Gedanken und jegliche Anschauung, die nichts in Händen behält als die Sichselbstgleichheit des bloßen Namens[4]. Noch die endlosen Wiederholungen, von denen Heideggers Publikationen strotzen, sind weniger seiner Redseligkeit als der Aporetik aufzubürden. Nur durch Bestimmung gelangt ein Phänomen über sich hinaus. Was ganz unbestimmt bleibt, wird als Ersatz dafür immer wieder gesagt, so wie Gesten, die von ihren Aktionsobjekten abprallen, immer wieder, in sinnlosem Ritual, vollzogen werden. Dies Ritual der Wiederholung teilt die Seinsphilosophie mit dem Mythos, der sie so gern wäre.
Die Dialektik von Sein und Seiendem: daß kein Sein gedacht werden kann ohne Seiendes und kein Seiendes ohne Vermittlung, wird von Heidegger unterdrückt: die Momente, die nicht sind, ohne daß das eine vermittelt wäre durch das andere, sind ihm unvermittelt das Eine, und dies Eine positives Sein. Aber der Kalkul geht nicht auf. Das Schuldverhältnis der Kategorien wird eingeklagt. Mit der Forke ausgetrieben, kehrt Seiendes wieder: nur so lange ist das vom Seienden gereinigte Sein Urphänomen, wie es doch wiederum das Seiende in sich hat, das es excludiert. Heidegger wird damit fertig in einem strategischen Meisterstück; es ist die Matrix seines Denkens insgesamt. Mit dem Terminus ontologische Differenz legt seine Philosophie die Hand noch aufs unauflösliche Moment des Seienden. »Was allerdings unter einem solchen, von der Sphäre des Ontischen angeblich völlig unabhängigen ›Sein‹ zu verstehen ist, muß unausgemacht bleiben. Seine Bestimmung würde es in die Dialektik von Subjekt und Objekt hineinziehen, von der es gerade ausgenommen sein soll. An dieser Unbestimmtheit, an der wohl zentralsten Stelle der Heideggerschen Ontologie, liegt es, daß die Extreme Sein und Seiendes auch gegeneinander notwendig unbestimmt bleiben müssen, so daß nicht einmal angebbar ist, worin deren Differenz besteht. Die Rede von der ›ontologischen Differenz‹ reduziert sich auf die Tautologie, das Sein sei nicht das Seiende, weil es das Sein sei. Heidegger macht also den Fehler, den er der abendländischen Metaphysik vorwirft, daß nämlich stets ungesagt geblieben sei, was Sein im Unterschied zum Seienden meine.«7 Unterm Hauch der Philosophie wird das Seiende zum ontologischen Tatbestand[5], abgeblendeter und hypostasierter Ausdruck dafür, daß Sein so wenig ohne Seiendes gedacht werden kann wie, nach Heideggers Grundthese, Seiendes ohne Sein. Damit schlägt er seine Volte. Die Not der Ontologie, ohne das ihr Entgegengesetzte, ohne Ontisches nicht auszukommen; die Dependenz des ontologischen Prinzips von seinem Widerpart, das unabdingbare Skandalon der Ontologie, wird zu deren Bestandstück. Heideggers Triumph über die minder gewitzigten anderen Ontologien ist die Ontologisierung des Ontischen. Daß kein Sein ist ohne Seiendes, wird auf die Form gebracht, zum Wesen von Sein gehöre das Sein von Seiendem. Damit wird ein Wahres zur Unwahrheit: das Seiende zum Wesen. Sein bemächtigt sich dessen, was es in der Dimension seines Ansichseins wiederum nicht sein möchte, des Seienden, dessen begriffliche Einheit der Wortsinn von Sein immer auch meint. Die gesamte Konstruktion der ontologischen Differenz ist ein Potemkinsches Dorf. Es wird aufgerichtet nur, damit der Zweifel am absoluten Sein vermöge der These vom Seienden als einer Seinsweise des Seins desto souveräner sich abweisen läßt[6]. Indem alles einzelne Seiende auf seinen Begriff, den des Ontischen, gebracht wird, verschwindet daraus, was es, gegenüber dem Begriff, zum Seienden macht. Die formale allgemeinbegriffliche Struktur der Rede vom Ontischen und all ihrer Äquivalente setzt sich anstelle des dem Begrifflichen heterogenen Inhalts jenes Begriffs. Ermöglicht wird das dadurch, daß der Begriff des Seienden – darin dem von Heidegger gefeierten des Seins gar nicht unähnlich – derjenige ist, welcher das schlechthin Nichtbegriffliche, im Begriff nicht sich Erschöpfende umfängt, ohne doch je seine Differenz vom Umfangenen selber auszudrücken. Weil »das Seiende« der Begriff für alles Seiende ist, wird das Seiende selber zum Begriff, zu einer ontologischen Struktur, die bruchlos übergeht in die des Seins. Die Ontologisierung des Seienden wird in ›Sein und Zeit‹ auf die prägnante Formel gebracht: »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz.«8 Aus der Definition von Daseiendem, Existierendem qua Existierendem, durch die Begriffe Dasein und Existenz springt heraus, daß, was am Daseienden gerade nicht wesenhaft, nicht ontologisch ist, ontologisch sei. Die ontologische Differenz wird beseitigt kraft der Verbegrifflichung des Nichtbegrifflichen zur Nichtbegrifflichkeit.
Nur dann wird die Ontologie vom Ontischen nicht belästigt, wenn es ihresgleichen ist. Die Subreption begründet die Vorgängigkeit der Ontologie vor der ontologischen Differenz: »Hier handelt es sich aber nicht um eine Entgegensetzung von existentia und essentia, weil überhaupt noch nicht diese beiden metaphysischen Bestimmungen des Seins, geschweige denn ihr Verhältnis, in Frage stehen.«9 Dies der ontologischen Differenz angeblich Vorgängige fällt bei Heidegger trotz der konträren Versicherung auf die Seite der Essenz: indem der Unterschied, den der Begriff Seiendes ausdrückt, abgestritten wird, ist der Begriff erhöht durch das Nichtbegriffliche, das er unter sich haben soll. An einem anderen Passus des Platontraktats läßt sich das greifen. Er lenkt die Frage nach Existenz von dieser weg und transformiert sie in eine nach Essenz: »Der Satz: ›Der Mensch eksistiert‹ antwortet nicht auf die Frage, ob der Mensch wirklich sei oder nicht, sondern antwortet auf die Frage nach dem ›Wesen‹ des Menschen.«10 Die Rede vom Noch nicht dort, wo die Antithesis von Existenz und Essenz fortgewiesen wird11, ist keine zufällige temporale Metapher für ein Unzeitliches. Tatsächlich ist es archaisches Denken, das der jonischen Hylozoisten weit mehr als der Eleaten; in den karg überlieferten Philosophemen jener mischen sich trüb Existenz und Essenz. Arbeit und Anstrengung der antiken Metaphysik, von der Parmenideischen, die Denken und Sein trennen mußte, um sie identifizieren zu können, bis zur Aristotelischen bestand darin, die Scheidung zu erzwingen. Entmythologisierung ist Scheidung, der Mythos die trügende Einheit des Ungeschiedenen. Weil aber die Unzulänglichkeit der Urprinzipien zur Erklärung der in ihnen mitgemeinten Welt ihre Auseinanderlegung zeitigte und damit die magische Exterritorialität des Seins als eines zwischen Wesen und Tatsache Vagierenden im Gespinst der Begriffe sich fing, muß Heidegger, dem Privileg von Sein zuliebe, die kritische Arbeit des Begriffs als Verfallsgeschichte verurteilen, wie wenn Philosophie, jenseits der Geschichte, einen geschichtlichen Standpunkt besetzen könnte, während sie doch andererseits der Geschichte gehorchen soll, die selbst wie Existenz ontologisiert wird. Heidegger ist anti-intellektualistisch aus Systemzwang, antiphilosophisch aus Philosophie, so wie die gegenwärtigen religiösen Renaissancen nicht von der Wahrheit ihrer Lehren sich inspirieren lassen sondern von der Philosophie, daß es gut wäre, Religion zu haben. Die Geschichte des Denkens ist, soweit sie irgend sich zurückverfolgen läßt, Dialektik der Aufklärung. Darum hält Heidegger, entschlossen genug, nicht, wie es ihn vielleicht in seiner Jugend verlocken mochte, bei irgendeiner ihrer Stufen inne, sondern stürzt sich mit einer Wells'schen Zeitmaschine in den Abgrund des Archaismus, in dem alles alles sein und alles bedeuten kann. Er streckt die Hand nach dem Mythos aus; auch der seine bleibt einer des zwanzigsten Jahrhunderts, der Schein, als den Geschichte ihn demaskierte und der eklatant wird an der vollkommenen Unvereinbarkeit des Mythos mit der rationalisierten Gestalt der Wirklichkeit, in welche jegliches Bewußtsein verschränkt ist. Es vermißt sich des mythologischen Standes, als wäre dieser ihm möglich, ohne daß es seinesgleichen ist. Mit Heideggers Seinsbegriff meldet sich der mythische des Schicksals: »Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins.«12 Die gepriesene Ungeschiedenheit von Existenz und Essenz im Sein wird damit als das beim Namen genannt, was sie ist: Blindheit des Naturzusammenhangs, Verhängnis der Verkettung, absolute Negation der Transzendenz, welche in der Rede vom Sein tremoliert. Der Schein am Seinsbegriff ist diese Transzendenz; sein Grund aber, daß Heideggers Bestimmungen, die vom Dasein, als der Not der realen menschlichen Geschichte bis heute, abgezogen sind, der Erinnerung an diese sich entäußern. Sie werden zu Momenten von Sein selber und damit einem jener Existenz Vorgeordneten. Ihre astrale Macht und Herrlichkeit ist ebenso kalt gegen die Schmach und Fehlbarkeit der geschichtlichen Realität, wie diese als unveränderlich sanktioniert wird. Mythisch ist die Zelebration des Sinnlosen als Sinn; die rituale Wiederholung von Naturzusammenhängen in symbolischen Einzelhandlungen, als wären sie dadurch Übernatur. Kategorien wie die Angst, von denen zumindest nicht zu stipulieren ist, sie müßten für immer währen, werden durch ihre Transfiguration Konstituentien von Sein als solchem, ein jener Existenz Vorgeordnetes, ihr Apriori. Sie installieren sich als eben der ›Sinn‹, welcher im gegenwärtigen geschichtlichen Stande positiv, unmittelbar nicht sich nennen läßt. Sinnloses wird mit Sinn belehnt, indem der Sinn von Sein gerade an seinem Widerspiel, der bloßen Existenz, als deren Form aufgehen soll.
Die ontologische Sonderstellung des Daseins ist von Hegel antezipiert vermöge der idealistischen These vom Vorrang des Subjekts. Hegel beutet aus, daß das Nichtidentische seinerseits nur als Begriff zu bestimmen sei; damit ist es ihm dialektisch weggeräumt, zur Identität gebracht: Ontisches ontologisch. Sprachliche Schattierungen in der Wissenschaft der Logik verraten das bald. Raum und Zeit seien, führt die dritte Anmerkung zum »Werden« anschließend an Jacobi aus, »ausdrücklich als unbestimmte bestimmt, was – um zu seiner einfachsten Form zurückzugehen – das Seyn ist. Eben diese Unbestimmtheit ist aber das, was die Bestimmtheit desselben ausmacht; denn die Unbestimmtheit ist der Bestimmtheit entgegengesetzt; sie ist somit als Entgegengesetztes selbst das Bestimmte, oder Negative, und zwar das reine, ganz abstrakt Negative. Diese Unbestimmtheit oder abstrakte Negation, welche so das Seyn an ihm selbst hat, ist es, was die äußere wie die innere Reflexion ausspricht, indem sie es dem Nichts gleich setzt, es für ein leeres Gedankending, für Nichts erklärt. – Oder kann man sich ausdrücken, weil das Seyn das Bestimmungslose ist, ist es nicht die (affirmative) Bestimmtheit, die es ist, nicht Seyn, sondern Nichts.«13 Stillschweigend wird als Synonym für das Unbestimmte die Unbestimmtheit gebraucht. In deren Begriff verschwindet das, dessen Begriff sie ist; er wird dem Unbestimmten als dessen Bestimmung gleichgesetzt, und das erlaubt die Identifikation des Unbestimmten mit dem Nichts. Damit ist in Wahrheit bereits der absolute Idealismus supponiert, den die Logik erst zu beweisen hätte. Gleichen Sinnes ist Hegels Weigerung, anstatt mit dem Sein mit dem Etwas zu beginnen. Trivial, daß das Nichtidentische keine Unmittelbarkeit, daß es vermittelt ist. Aber Hegel wird an zentralen Stellen jener eigenen Einsicht nicht gerecht. Sie besagt, das Nichtidentische sei zwar identisch – als selbst Vermitteltes – dennoch jedoch nichtidentisch, das Andere allen seinen Identifikationen gegenüber. Er trägt die Dialektik des Nichtidentischen nicht aus, während er doch sonst die Intention hat, den vorkritischen Sprachgebrauch gegen den der Reflexionsphilosophie zu verteidigen. Sein eigener Begriff des Nichtidentischen, bei ihm Vehikel, es zum Identischen, zur Sichselbstgleichheit zu machen, hat unabdingbar deren Gegenteil zum Inhalt; darüber eilt er hinweg. Was er in der Differenzschrift ausdrücklich feststellte, um es sofort seiner eigenen Philosophie zu integrieren, wird zum schwersten Einwand gegen diese. Hegels absolutes System, das auf dem perennierenden Widerstand des Nichtidentischen beruht, negiert, gegen sein Selbstverständnis, sich selbst. Wahrhaft ist ohne Nichtidentisches keine Identität, während diese, als Totale, bei ihm doch den ontologischen Vorrang an sich reißt. Dazu hilft die Erhebung der Vermitteltheit des Nichtidentischen zu dessen absolut begrifflichem Sein. Anstatt daß Theorie in Begriffen das Unauflösliche zu dem Seinen bringt, verschluckt sie es durch Subsumtion unter seinen Allgemeinbegriff, den der Unauflöslichkeit. Das Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches, wie Hegel beinahe es erreichte, ist der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie. Die Aristotelische Kategorie der Steresis wird sein Trumpf und sein Verhängnis. Was dem abstrakten Begriff notwendig abgeht: daß er nicht selber das Nichtbegriffliche zu sein vermag, rechnet er ihm gegenüber dem, wovon er zwangsläufig abstrahiert, als Verdienst, Höheres, Geist an. Weniger soll wahrer sein, wie dann in der selbstgerechten Heideggerschen Ideologie von der Pracht des Schlichten. Die Apologie der Dürftigkeit ist aber nicht bloß eine des abermals zum Punkt zusammengeschrumpften Denkens, sondern hat ihre präzis ideologische Funktion. Die Affektation erhabener Einfachheit, welche die Würde der Armut und des frugalen Lebens aufwärmt, schickt sich zum fortbestehenden Widersinn realen Mangels in einer Gesellschaft, deren Produktionsstand nicht länger die Berufung darauf erlaubt, an Gütern sei nicht genug für alle vorhanden. Indem die durch den eigenen Begriff zur Unnaivetät verhaltene Philosophie mit dem Rheinischen Hausfreund flirtet, hilft sie darüber hinweg: ihrer Seinsgeschichte erglänzt der Mangel als das Höhere schlechthin oder wenigstens ad Kalendas Graecas. Schon bei Hegel gilt, was durch Abstraktion zustande kommt, fürs Substantiellere. Nach demselben Topos handelt er die Materie, auch den Übergang zur Existenz14 ab. Weil ihr Begriff unbestimmt sei, ihm als Begriff eben das fehlt, was mit ihm gemeint ist, fällt alles Licht auf seine Form. Das gliedert Hegel in die abendländische Metaphysik an deren äußerster Grenze ein. Engels hat das gesehen, aber die umgekehrte, ebenfalls undialektische Konsequenz gezogen, Materie sei das erste Sein15. Dialektische Kritik gebührt dem Begriff des ersten Seins selber. Heidegger wiederholt das Hegelsche Eulenspiegel-Manöver. Nur praktiziert dieser es offen, während Heidegger, der kein Idealist sein möchte, die Ontologisierung des Ontischen wolkig verhüllt. Die Triebfeder jedoch, das Weniger am Begriff als sein Mehr auszustaffieren, ist allenthalben die alte Platonische Versagung, es sei das Unsinnliche das Höhere. Logik sublimiert das asketische Ideal zum äußersten und fetischisiert es zugleich, bar der Spannung zum Sinnlichen, in der das asketische Ideal seine Wahrheit gegen den Trug konzessionierter Erfüllung hat. Der Begriff, der rein wird, indem er seinen Inhalt verstößt, fungiert insgeheim als Modell einer Einrichtung des Lebens, aus der, bei allem Fortschritt der Apparatur – welcher der Begriff entspricht –, Armut doch um keinen Preis verschwinden darf. Wenn irgend wäre Ontologie ironisch möglich, als Inbegriff von Negativität. Was sich selbst gleichbleibt, die reine Identität, ist das Schlechte; zeitlos das mythische Verhängnis. Philosophie war, als dessen Säkularisation, sein Sklave, indem sie mit gigantischem Euphemismus das Unveränderliche ins Gute umdeutete, bis zu den Theodizeen von Leibniz und Hegel. Wollte man eine Ontologie entwerfen und dabei dem Grundsachverhalt folgen, dessen Wiederholung ihn zur Invariante macht, so wäre es das Grauen. Vollends eine Ontologie der Kultur hätte aufzunehmen, worin Kultur überhaupt mißlang. Ort philosophisch legitimer Ontologie wäre mehr die Konstruktion der Kulturindustrie als die des Seins; gut erst das der Ontologie Entronnene.
Auf die Ontologisierung des Ontischen will primär die Lehre von der Existenz hinaus. Da diese, nach dem uralten Argument, nicht aus der Essenz gefolgert werden kann, soll sie selber essentiell sein. Existenz wird über Kierkegaards Vorbild hinaus erhöht, eben dadurch aber, gegen jenen, entschärft. Noch der biblische Satz, daß ihr an ihren Früchten sie erkennen sollt, klingt im Tempel von Existenz wie deren Profanierung und muß verstummen. Seinsweise von Sein, steht Existenz nicht länger antithetisch dem Begriff entgegen, ihr Schmerzhaftes ist entfernt. Sie empfängt die Würde der Platonischen Idee, aber auch die Kugelfestigkeit dessen, was nicht anders gedacht werden kann, weil es kein Gedachtes sondern einfach da sei. Darin stimmen Heidegger und Jaspers überein. Arglos bekennt dieser die Neutralisierung der Existenz gegen Kierkegaard: »Ich ... spürte in seinen negativen Entschlüssen ... das Gegenteil von allem, was ich liebte und wollte, zu tun bereit und nicht bereit war.«16 Selbst der Jaspers'sche Existentialismus, der in der Konstruktion des Seinsbegriffs nicht vom pater subtilis sich hat anstecken lassen, hat sich von Anbeginn als »Frage nach dem Sein«17 verstanden; beide konnten, ohne sich untreu zu werden, vor dem sich bekreuzigen, was in Paris, im Zeichen von Existenz, für ihren Geschmack allzu rasch von den Hörsälen in die Keller drang18 und dort weniger respektabel sich anhörte. Solange freilich Kritik bei der These der Nichtontologisierbarkeit des Ontischen stehenbleibt, ist sie selbst noch Urteil über invariante Strukturverhältnisse, gleichsam zu ontologisch; das war das philosophische Motiv von Sartres Wendung zur Politik. Die Bewegung nach dem zweiten Weltkrieg, die sich existentialistisch nannte und avantgardistisch aufführte, hatte etwas Unkräftiges, Schattenhaftes. Der Existentialismus, den das deutsche Establishment als subversiv beargwöhnt, sieht den Bärten seiner Anhänger ähnlich. Sie kostümieren sich oppositionell, Jugendliche als Höhlenmenschen, die beim Schwindel der Kultur nicht mehr mitspielen, während sie doch nur das aus der Mode gekommene Emblem der patriarchalen Würde ihrer Großväter sich ankleben. Wahr am Existenzbegriff ist der Einspruch gegen einen Zustand von Gesellschaft und szientifischem Denken, der unreglementierte Erfahrung, virtuell das Subjekt als Moment von Erkenntnis austreibt. Kierkegaards Protest gegen die Philosophie war auch der gegen das verdinglichte Bewußtsein, in dem, nach seinem Wort, die Subjektivität ausgegangen ist: er nahm gegen die Philosophie auch deren Interesse wahr. Das wiederholt sich anachronistisch an den existentialistischen Schulen in Frankreich. Die unterdessen real entmächtigte und inwendig geschwächte Subjektivität wird isoliert und – komplementär zur Heideggerschen Hypostasis ihres Gegenpols, des Seins – hypostasiert. Die Abspaltung des Subjekts nicht anders als die des Seins läuft, unverkennbar beim Sartre von L'être et le néant, auf die Illusion der Unmittelbarkeit des Vermittelten hinaus. So vermittelt Sein durch den Begriff und damit durchs Subjekt, so vermittelt ist umgekehrt das Subjekt durch die Welt, in der es lebt, so ohnmächtig und bloß innerlich auch seine Entscheidung. Solche Ohnmacht läßt das dinghafte Unwesen über das Subjekt siegen. Der Existenzbegriff bestach viele als Ansatz von Philosophie, weil er Divergierendes zu verbinden schien: die Reflexion auf das Subjekt, das jegliche Erkenntnis und damit jegliches Seiende konstituiere, und konkrete, jedem Einzelsubjekt unmittelbare Individuation seiner Erfahrung. Die Divergenz von beidem irritierte den subjektiven Ansatz insgesamt: dem konstitutiven Subjekt konnte vorgehalten werden, es sei vom empirischen bloß abgezogen und darum untauglich, es und irgendein empirisches Dasein zu begründen; dem Individuum, es sei ein zufälliges Stück Welt und entbehre der wesenhaften Notwendigkeit, deren es bedarf, um das Seiende zu umspannen und womöglich zu stiften. Existenz oder, im demagogischen Jargon, der Mensch, scheint sowohl allgemein, das allen Menschen gemeinsame Wesen, wie spezifisch, insofern dies Allgemeine anders als in seiner Besonderung, der bestimmten Individualität, weder vorgestellt noch auch nur gedacht werden kann. Vor aller Erkenntniskritik jedoch, in der einfachsten Besinnung auf den Begriff Mensch in intentione recta verliert dies Heureka seine Evidenz. Was der Mensch sei, läßt sich nicht angeben. Der heute ist Funktion, unfrei, regrediert hinter alles, was als invariant ihm zugeschlagen wird, es sei denn die schutzlose Bedürftigkeit, an der manche Anthropologien sich weiden. Die Verstümmelungen, die ihm seit Jahrtausenden widerfuhren, schleppt er als gesellschaftliches Erbe mit sich. Würde aus seiner gegenwärtigen Beschaffenheit das Menschenwesen entziffert, so sabotierte das seine Möglichkeit. Kaum taugte eine sogenannte historische Anthropologie mehr. Zwar begriffe sie Gewordensein und Bedingtheit ein, aber rechnete sie den Subjekten zu, unter Abstraktion von der Entmenschlichung, die sie zu dem machte, was sie sind, und die im Namen einer qualitas humana toleriert bleibt. Je konkreter Anthropologie auftritt, desto trügerischer wird sie, gleichgültig gegen das am Menschen, was gar nicht in ihm als dem Subjekt gründet sondern in dem Prozeß der Entsubjektivierung, der seit unvordenklichen Zeiten parallel lief mit der geschichtlichen Formation des Subjekts. Die These arrivierter Anthropologie, der Mensch sei offen – selten fehlt ihr der hämische Seitenblick aufs Tier –, ist leer; sie gaukelt ihre eigene Unbestimmtheit, ihr Fallissement, als Bestimmtes und Positives vor. Existenz ist ein Moment, nicht das Ganze, gegen welches sie ersonnen ward und von dem sie, abgesprengt, die uneinlösbare Prätention des Ganzen an sich riß, sobald sie zur Philosophie sich stilisierte. Daß nicht sich sagen läßt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie sondern ein Veto gegen jegliche.
Während Kierkegaard, nominalistisch, die Existenz gegen die Essenz ausspielt, als Waffe der Theologie gegen die Metaphysik, wird von ihm, schon nach dem Dogma der Gottesebenbildlichkeit der Person, Existenz, der Einzelne unmittelbar, mit Sinnhaftigkeit bedacht. Er polemisiert gegen Ontologie, aber das Seiende, als Dasein »jener Einzelne«, saugt deren Attribute auf. Nicht viel anders als in den Ausgangsreflexionen der ›Krankheit zum Tode‹ wird auch in ›Sein und Zeit‹ Existenz ausgezeichnet; die Kierkegaardsche »Durchsichtigkeit« des Subjekts, Bewußtsein, ist der Rechtstitel ihrer Ontologisierung: »Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz«19, oder buchstäblich: »Dasein ist auf dem Grunde seiner Existenzbestimmtheit an ihm selbst ›ontologisch‹.«20 Der Begriff Subjektivität schillert nicht minder als der des Seins und ist darum beliebig auf diesen abzustimmen. Seine Mehrdeutigkeit gestattet es, Dasein einer Seinsweise des Seins gleichzusetzen und die ontologische Differenz wegzuanalysieren. Ontisch heißt dann Dasein kraft seiner raumzeitlichen Individuation, ontologisch als Logos. Dubios ist in Heideggers Schluß von Dasein auf Sein jenes »Zugleich«, das Heideggers Rede vom »mehrfachen Vorrang« des »Daseins« »vor allem anderen Seienden« impliziert. Dadurch, daß das Subjekt bestimmt ist durch Bewußtsein, ist nicht auch das an ihm gänzlich Bewußtsein, durchsichtig, ›ontologisch‹, woran Bewußtsein unablöslich haftet. Kein Etwas, nur Sätze könnten überhaupt ontologisch sein. Das Individuum, das Bewußtsein hat, und dessen Bewußtsein nicht wäre ohne es, bleibt raumzeitlich, Faktizität, Seiendes; nicht Sein. In Sein steckt Subjekt, denn es ist Begriff, nicht unmittelbar gegeben: in Subjekt aber steckt einzelmenschliches Bewußtsein und damit Ontisches. Daß dies Seiende denken kann, genügt nicht, es seiner Bestimmung als eines Seienden zu entkleiden, als wäre es unmittelbar wesenhaft. Gerade nicht »an ihm selbst« ist es »ontologisch«, denn diese Selbstheit postuliert jenes Ontische, das die Doktrin vom ontologischen Vorrang aus sich eliminiert.
Zur Kritik steht aber nicht bloß, daß der ontologische Existenzbegriff das Nichtbegriffliche extirpiert, indem er es zu seinem Begriff erhöht, sondern ebenso der Stellenwert, den das unbegriffliche Moment darin erobert. Nominalismus, eine der Wurzeln der Existentialphilosophie des protestantischen Kierkegaard, verschaffte der Heideggerschen Ontologie die Attraktionskraft des nicht Spekulativen. Wie im Existenzbegriff das Existierende falsch verbegrifflicht wird, so wird komplementär dem Existierenden ein Vorrang vor dem Begriff zugesprochen, von dem dann wieder der ontologische Existenzbegriff profitiert. Ist das Individuum gesellschaftlich vermittelter Schein, so auch dessen erkenntnistheoretische Reflexionsform. Warum das individuelle Bewußtsein des je Redenden, der bereits in der Partikel ›mein‹ eine sprachliche Allgemeinheit voraussetzt, die er durch den Primat seiner Besonderung verleugnet, irgendeinem anderen vorgängig sein soll, ist unerfindlich; das Zufällige, das ihn daran bindet, mit seinem Bewußtsein anzuheben, in das er nun einmal eingewachsen ist, wird ihm zum Grund von Notwendigkeit. Dabei ist, wie Hegel früh erkannte, in der Limitation auf das ›mein‹ a priori die Beziehung auf jenes andere impliziert, das dadurch ausgeschlossen werden soll. Gesellschaft ist vor dem Subjekt. Daß es sich verkennt als vor der Gesellschaft Seiendes, ist seine notwendige Täuschung und sagt bloß Negatives über die Gesellschaft. In dem ›mein‹ hat sich das Eigentumsverhältnis sprachlich verewigt, ist fast zur logischen Form geworden. Das reine tode ti ist ohne das Moment des Allgemeinen, auf welches das Mein deutet, indem es davon sich unterscheidet, so abstrakt wie das Allgemeine, das vom isolierten tode ti leer und nichtig gescholten wird. Der philosophische Personalismus Kierkegaards, etwa auch sein Buberscher Aufguß, witterte im Nominalismus die latente Chance von Metaphysik; konsequente Aufklärung jedoch schlägt zurück in Mythologie an der Stelle, wo sie den Nominalismus verabsolutiert, anstatt auch seine These dialektisch zu durchdringen; dort, wo sie im Glauben an ein letzthin Gegebenes die Reflexion abbricht. Solcher Abbruch der Reflexion, der Positivistenstolz auf die eigene Naivetät, ist nichts anderes als die zum sturen Begriff gewordene, besinnungslose Selbsterhaltung.
Den Begriff des Existentiellen, dem Heidegger das bereits ontologisierte Existential Dasein qua Sein vorzieht, beherrscht die Vorstellung, es sei das Maß der Wahrheit nicht deren wie immer geartete Objektivität sondern das pure so Sein und so sich Verhalten dessen, der denkt. Die subjektive Vernunft der Positivisten wird veredelt, indem man sie ihres Vernunftmoments entkleidet. Jaspers folgt darin umstandslos Kierkegaard; Heideggers Objektivismus unterschriebe zwar schwerlich den Satz, die Subjektivität sei die Wahrheit; in der Analyse der Existentialien aus ›Sein und Zeit‹ indessen klingt er durch. Zu seiner deutschen Beliebtheit trägt bei, daß der radikale Gestus und der geweihte Ton mit einer auf die Person gemünzten Ideologie des Kernigen und Echten sich zusammenfinden, Qualitäten, die Individuen im Geist des Privilegs mit schlauer Tumbheit sich selbst vorbehalten. Löst Subjektivität, durch ihr von Kant als funktional bezeichnetes Wesen, die festen vorgeordneten Substanzen auf, so beschwichtigt ihre ontologische Affirmation die Angst davor. Subjektivität, der Funktionsbegriff kat' exoxhn, wird zum absolut Festen, wie es übrigens schon in Kants Lehre von der transzendentalen Einheit angelegt war. Aber Wahrheit, die Konstellation von Subjekt und Objekt, in der beide sich durchdringen, ist so wenig auf Subjektivität zu reduzieren, wie umgekehrt auf jenes Sein, dessen dialektisches Verhältnis zur Subjektivität Heidegger zu verwischen trachtet. Was wahr ist am Subjekt, entfaltet sich in der Beziehung auf das, was es nicht selber ist, keineswegs durch auftrumpfende Affirmation seines Soseins. Hegel hat das gewußt, den Schulen der Repristination ist es lästig. Wäre Wahrheit tatsächlich die Subjektivität, wäre der Gedanke nichts als Wiederholung des Subjekts, so wäre er nichtig. Die existentielle Erhöhung des Subjekts eliminiert diesem zuliebe, was ihm aufgehen könnte. Damit überantwortet sie sich dem Relativismus, über den sie erhaben sich dünkt, und bringt das Subjekt herunter auf seine undurchsichtige Zufälligkeit. Solcher irrationale Existentialismus wirft sich in die Brust und hetzt gegen die Intellektuellen, indem er als Auch Einer sich bekennt: »Der Philosoph aber wagt das Gerede, in dem es keine objektive Unterscheidung zwischen echtem Sprechen aus philosophierendem Ursprung und leerer Intellektualität gibt. Während der Mensch als Forscher für seine Ergebnisse jeweils allgemeingültige Kriterien und in der Unausweichlichkeit ihrer Geltung seine Befriedigung hat, hat er als Philosoph zur Unterscheidung des leeren vom existenzerweckenden Sprechen nur das jeweils subjektive Kriterium seines eigenen Seins. Daher ist ein in der Wurzel anderes Ethos des theoretischen Tuns in den Wissenschaften und in der Philosophie.«21 Bar des ihr Anderen, zu dem sie sich entäußert, verschafft Existenz, die derart sich als Kriterium des Gedankens proklamiert, autoritär ihren bloßen Dekreten Geltung wie in der politischen Praxis der Diktator jeweils der Weltanschauung. Durch die Reduktion des Gedankens auf die Denkenden wird dessen Fortgang stillgestellt, in dem er erst zum Gedanken würde und in dem Subjektivität allein lebte. Sie wird, als festgestampfter Boden der Wahrheit, verdinglicht. Dem Klang des altmodischen Wortes Persönlichkeit war all das schon anzuhören. Denken macht sich zu dem, was der Denkende vorweg schon ist, zur Tautologie, einer Form regressiven Bewußtseins. Statt dessen wäre das utopische Potential des Gedankens, daß er, vermittelt durch die in den einzelnen Subjekten verkörperte Vernunft, die Beschränktheit der so Denkenden durchbräche. Es ist seine beste Kraft, den schwachen und fehlbaren Denkenden zu überflügeln. Sie wird – seit Kierkegaard zu obskurantistischen Zwecken – vom existentiellen Wahrheitsbegriff gelähmt, Borniertheit als Kraft zur Wahrheit propagiert; darum blüht der Kultus der Existenz in der Provinz aller Länder.
Längst hat die Ontologie die Opposition des Existenzbegriffs gegen den Idealismus kassiert. Das Seiende, das einmal gegen die Weihe der von Menschen gemachten Idee zeugen sollte, ist mit der weit ambitiöseren Weihe von Sein selber versehen worden. Ihr Äther adelt es vorweg gegenüber den Bedingungen der materiellen Existenz, die der Kierkegaard des ›Augenblicks‹ meinte, als er die Idee mit der Existenz konfrontierte. Durch die Absorption des Existenzbegriffs im Sein, ja bereits durch dessen philosophische Aufbereitung zum diskussionsfähigen Allgemeinbegriff wird die Geschichte wiederum eskamotiert, die bei Kierkegaard, der über die Linkshegelianer nicht gering dachte, unter dem theologischen Signum der paradoxalen Berührung von Zeit und Ewigkeit in die Spekulation eingebrochen war. Die Ambivalenz der Seinslehre: von Seiendem zugleich zu handeln, und es zu ontologisieren, also es durch Rekurs auf seine characteristica formalis all seines Unbegrifflichen zu enteignen, bestimmt auch ihr Verhältnis zur Geschichte[7]. Auf der einen Seite wird durch deren Transposition ins Existential der Geschichtlichkeit das Salz des Geschichtlichen entfernt, der Anspruch aller prima philosophia auf eine Invariantenlehre ausgedehnt über das, was variiert: Geschichtlichkeit stellt Geschichte still ins Ungeschichtliche, unbekümmert um die geschichtlichen Bedingungen, denen innere Zusammensetzung und Konstellation von Subjekt und Objekt unterliegen[8]. Das erlaubt dann das Verdikt über die Soziologie. Sie verzerrt sich, wie zuvor die Psychologie bei Husserl, zur der Sache selbst äußerlichen Relativierung, welche die gediegene Arbeit des Denkens schädige: als ob nicht reale Geschichte im Kern alles dessen aufgespeichert wäre, was zu erkennen ist; als ob nicht jede Erkenntnis, welche im Ernst der Verdinglichung widersteht, die erstarrten Dinge in Fluß brächte, eben dadurch in ihnen der Geschichte gewahr würde. Andererseits wieder gestattet es die Ontologisierung der Geschichte, der unbesehenen geschichtlichen Macht Seinsmächtigkeit zuzusprechen und damit die Unterordnung unter historische Situationen zu rechtfertigen, als werde sie vom Sein selbst geboten. Diesen Aspekt der Heideggerschen Ansicht von der Geschichte hat Karl Löwith hervorgehoben[9]. Daß Geschichte je nachdem ignoriert oder vergottet werden kann, ist eine praktikable politische Folgerung aus der Seinsphilosophie. Zeit selber, und damit Vergängnis, wird von den existentialontologischen Entwürfen als ewig ebenso verabsolutiert wie verklärt. Der Begriff der Existenz, als der Wesenhaftigkeit von Vergängnis, der Zeitlichkeit des Zeitlichen, hält Existenz fern durch ihre Nennung. Wird sie einmal als phänomenologischer Problemtitel abgehandelt, so ist sie schon integriert. Das sind die jüngsten Tröstungen der Philosophie, vom Schlag des mythischen Euphemismus; falsch auferstandener Glaube, der Bann des Natürlichen wäre dadurch gebrochen, daß man ihn beschwichtigend nachmacht. Das existentiale Denken verkriecht sich in die Höhle der vorvergangenen Mimesis. Dabei willfahrt es gleichwohl dem verhängnisvollsten Vorurteil aus der von ihm wie überflüssige Angestellte abgebauten Philosophiegeschichte, dem Platonischen, das Unvergängliche müsse das Gute sein, womit nicht mehr gesagt ist, als daß die jeweils Stärkeren im permanenten Krieg recht hätten. Pflegte indessen Platons Pädagogik die kriegerischen Tugenden, so hatten diese doch, dem Gorgias-Dialog zufolge, vor der Idee der Gerechtigkeit, der höchsten, sich zu verantworten. Am verfinsterten Himmel der Existenzlehre aber leuchtet kein Gestirn mehr. Existenz wird geweiht ohne das Weihende. Von der ewigen Idee, an der das Seiende teilhaben oder durch die es bedingt sein sollte, ist nichts übrig als die nackte Affirmation dessen, was ohnehin ist: Bejahung der Macht.
Fußnoten
1 [*] Die Subjekt-Objekt-Relation im Urteil, als rein logische, und das Verhältnis von Subjekt und Objekt, als erkenntnistheoretisch-materiales, sind zunächst strikt zu unterscheiden; der Terminus Subjekt bedeutet dort und hier fast Kontradiktorisches. In der Urteilstheorie ist er das zugrunde Gelegte, von dem etwas prädiziert wird; gegenüber dem Urteilsakt und dem in der Urteilssynthesis Geurteilten in gewisser Weise Objektivität, das, woran Denken sich betätigt. Erkenntnistheoretisch aber meint Subjekt die Denkfunktion, vielfach auch jenes Seiende, das denkt und das aus dem Begriff Ich nur um den Preis auszuschließen ist, daß er nicht länger bedeutet, was er bedeutet. Aber diese Distinktion involviert trotz allem enge Verwandtschaft des Distinguierten. Die Konstellation eines vom Urteil getroffenen Sachverhalts – in der Sprache der Phänomenologie des »Geurteilten als solchen« – und der Synthesis, die ebenso auf jenem Sachverhalt beruht, wie ihn herstellt, mahnt an die materiale von Subjekt und Objekt. Diese unterscheiden sich ebenso, sind nicht auf die reine Identität der einen oder anderen Seite zu bringen, und bedingen sich dort wechselfältig, weil kein Objekt bestimmbar ist ohne die Bestimmung, die es dazu macht, das Subjekt, und weil kein Subjekt etwas denken kann, das nicht ein ihm gegenüber Stehendes wäre, das Subjekt selbst nicht ausgenommen: Denken ist an Seiendes gekettet. Die Parallele zwischen Logik und Erkenntnistheorie ist mehr als bloße Analogie. Das rein logische Verhältnis zwischen Sachverhalt und Synthesis, das sich ohne Rücksicht auf Existenz, auf raum-zeitliche Faktizität weiß, ist in Wahrheit eine Abstraktion von der Subjekt-Objekt-Relation. Diese wird unter den Blickpunkt reinen Denkens gerückt, aller besondere ontische Sachgehalt vernachlässigt, ohne daß doch diese Abstraktion Macht hätte über das Etwas, das die Leerstelle von Sachhaltigkeit okkupiert und das, mag es jene noch so allgemein benennen, Sachhaltiges meint, nur durch Sachhaltiges zu dem wird, was es selbst bedeutet. Die methodologische Veranstaltung der Abstraktion hat ihre Grenze am Sinn dessen, was sie als reine Form in Händen zu halten wähnt. Unauslöschlich ist dem formal-logischen »Etwas« die Spur des Seienden. Die Form Etwas ist nach dem Modell des Materials, des tode ti gebildet; sie ist Form des Materialen und insofern ihrer eigenen reinlogischen Bedeutung nach jenes Metalogischen bedürftig, um das die erkenntnistheoretische Reflexion als um den Gegenpol zum Denken sich mühte.
2 [*] »Das Sein als Grundthema der Philosophie ist keine Gattung eines Seienden, und doch betrifft es jedes Seiende. Seine ›Universalität‹ ist höher zu suchen. Sein und Seinstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens schlechthin. Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt. Jede Erschließung von Sein als transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendentalis.« (Heidegger, Sein und Zeit, 6. Aufl., Tübingen 1949, S. 38.)
3 [*] Daß sie, trotz ihres Kontakts mit Hegel, vor der Dialektik ausbiegt, verleiht ihr den Appell erlangter Transzendenz. Feuerfest gegen die dialektische Reflexion, die sie doch unablässig berührt, hält sie mit der traditionellen Logik haus und bemächtigt sich, nach dem Muster des prädikativen Urteils, des Charakters von Festigkeit und Unbedingtheit dessen, was dialektischer Logik bloßes Moment wäre. So etwa soll, einer anfänglichen Formulierung zufolge (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 13), Dasein jenes Ontische, Existierende sein, das den – uneingestanden paradoxen – Vorzug habe, ontologisch zu sein. Dasein ist eine deutsche und verschämte Variante von Subjekt. Heidegger entging nicht, daß es sowohl Prinzip der Vermittlung wie unvermittelt ist, als Konstituens das Konstitutum Faktizität voraussetzt. Der Sachverhalt ist dialektisch; ihn übersetzt Heidegger auf Biegen oder Brechen in die Logik der Widerspruchslosigkeit. Aus den einander widersprechenden Momenten des Subjekts werden zwei Attribute gemacht, die er ihm gleichwie einer Substanz anheftet. Das aber hilft der ontologischen Würde: der unentfaltete Widerspruch wird Bürgschaft eines Höheren an sich, weil er sich den Bedingungen der diskursiven Logik nicht fügt, in deren Sprache er übersetzt ist. Vermöge dieser Projektion soll die Substanz, Sein geheißen, als Positives sowohl über dem Begriff wie über der Tatsache sein. Ihrer dialektischen Reflexion hielte solche Positivität nicht stand. Dergleichen Schemata sind topoi der gesamten Fundamentalontologie. Transzendenz über Denken wie über Tatsache zieht sie daraus, daß dialektische Strukturen undialektisch, als wären sie einfach zu benennen, ausgedrückt und hypostasiert werden.
4 [*] »Das Übermaß an Objektivität, das ihm« – dem Sein – »zugesprochen wird, läßt diese in ihrer ganzen Leerheit hervortreten: ›als leere Meinung von allem schlechthin‹. Nur vermöge eines quid pro quo: indem nämlich moderne Ontologie die Bedeutung, die dem Sein als Gemeintem zukommt, ihm selbst unterschiebt, ist Sein auch ohne meinende Subjekte bedeutend. Willkürliche Abspaltung, Subjektivität also, erweist damit sich als ihr principium vitale. Ontologie vermag das Sein anders denn als vom Seienden her gar nicht zu konzipieren, aber sie unterschlägt eben diese seine Bedingtheit.« (Karl Heinz Haag, Kritik der neueren Ontologie, Stuttgart 1960, S. 69.)
5 [*] Heideggers Lehre vom Vorzug des Daseins als des Ontischen, das zugleich ontologisch sei; von der Anwesenheit des Seins, hypostasiert Sein vorweg. Nur wenn Sein, wie er es möchte, als ein dem Dasein Vorgängiges verselbständigt ist, empfängt Dasein jene Durchsichtigkeit aufs Sein, die doch wiederum dieses erst freilegen soll. Auch insofern ist die vorgebliche Überwindung des Subjektivismus erschlichen. Dem reduktiven Plan Heideggers zum Trotz wurde durch die Lehre von der Transzendenz des Seins ins Seiende eben der ontologische Primat von Subjektivität wiedereingeschmuggelt, dem die Sprache der Fundamentalontologie abschwört. Heidegger war folgerecht, als er später die Daseinsanalyse im Sinn des ungeschmälerten Primats von Sein umwendete, der aus Seiendem nicht begründet werden kann, weil ihm zufolge Sein gerade nicht ist. Freilich entfiel damit alles, wodurch er gewirkt hatte, aber jene Wirkung war bereits in die Autorität des Späteren eingegangen.
6 [*] »... wenn anders zur Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein nie west ohne das Seiende, daß niemals ein Seiendes ist ohne das Sein«. (Heidegger, Was ist Metaphysik?, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1949, S. 41.)
7 [*] »Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann, das heißt nur Seiendes, das als zukünftiges gleichursprünglich gewesen ist, kann, sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ›seine Zeit‹. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, das heißt eigentliche Geschichtlichkeit möglich.« (Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 385.)
8 [*] An ihrer Sprachgestalt ist die Fundamentalontologie eines geschichtlichen und gesellschaftlichen Moments zu überführen, das nicht seinerseits wiederum auf die reine essentia von Geschichtlichkeit zu bringen wäre. Die sprachkritischen Befunde im ›Jargon der Eigentlichkeit‹ sind darum solche wider den philosophischen Gehalt. Die Beliebigkeit, welche Heidegger im Begriff des Entwurfs mitschleppt, unmittelbare Erbschaft der Phänomenologie seit ihrem Übergang zu einer materialen Disziplin, wird flagrant in den Ergebnissen: die spezifischen Bestimmungen von Dasein und Existenz bei Heidegger, das, was er der condition humaine zurechnet und als Schlüssel einer wahren Seinslehre betrachtet, sind nicht stringent, wie er es unterstellt, sondern deformiert von zufällig Privatem. Der falsche Ton übertäubt das, und gesteht es gerade dadurch ein.
9 [**] »Die Anführungszeichen, in die Heidegger in dem obigen Zität ›seine Zeit‹ setzt, sollen vermutlich darauf hinweisen, daß es sich dabei nicht um einen beliebigen ›Einsatz‹ für ein sich momentan aufdrängendes zeitgenössisches Heute handelt, sondern um die entscheidende Zeit eines echten Augenblicks, dessen Entscheidungscharakter sich aus dem Unterschied von vulgärer und existenzialer Zeit und Geschichte ergibt. Aber wie vermag man im gegebenen Fall eindeutig zu unterscheiden, ob die Zeit der Entscheidung ein ›ursprünglicher‹ Augenblick ist oder nur ein aufdringliches ›Heute‹ im Lauf und Verlauf eines Weltgeschehens? Die Entschlossenheit, die nicht weiß, wozu sie entschlossen ist, gibt darauf keine Antwort. Es ist schon mehr als einmal geschehen, daß sehr Entschlossene sich für eine Sache einsetzten, die den Anspruch erhob, schicksalhaft und entscheidend zu sein, und die doch vulgär und des Opfers nicht würdig war. Wie soll man überhaupt innerhalb eines durchaus geschichtlichen Denkens die Grenze ziehen können zwischen dem ›eigentlichen‹ Geschehen und dem, was ›vulgär‹ geschieht, und eindeutig unterscheiden können zwischen dem selbstgewählten Schicksal und den nicht gewählten Geschicken, die über den Menschen hereinbrechen oder ihn zu einer momentanen Wahl und Entscheidung verführen? Und hat sich nicht die vulgäre Geschichte an Heideggers Verachtung für das bloß heute Vorhandene deutlich genug gerächt, als sie ihn in einem vulgär entscheidenden Augenblick dazu verführte, unter Hitler die Führung der Freiburger Universität zu übernehmen und das entschlossene eigenste Dasein in ein ›deutsches Dasein‹ überzuführen, um die ontologische Theorie der existenzialen Geschichtlichkeit auf dem ontischen Boden des wirklich geschichtlichen, das heißt politischen, Geschehens zu praktizieren?« (Karl Löwith, Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt am Main 1953, S. 49.)