Arabesken zur Operette

Da mit aller sicheren mittleren Existenz auch alle mittlere Kunst verfiel, so geht der Blick des deutschen Betrachters vorab auf die Extreme. Oberhalb des anerkannten Kunstraums, isoliert zunächst, in Widerspruch zu Gewöhnung und Publikumsanspruch, gedeihen die radikalen und sachlich verbindlichen Lösungen der gegenwärtigen Situation; unterhalb allen offiziellen Anspruchs, unterhalb von Tragik und Persönlichkeit und Aktualität, wird aufgespeichert, was heut die Menschen unvermittelt trifft: eher trifft als eine Gemeinschaftskunst, die man ihnen aufredet und die sie langweilt, weil sie sich entspannen wollen und leibhaft genießen, was ihnen doch die eigentliche Kunst, wie lange nun schon, verbot. Schönberg hat Lehár einen großen Komponisten genannt, vielleicht darf er ihn so nennen, aber immerhin, es wäre undenkbar, daß er es von einem Konservatorianer sagte, und man braucht die Konservatorianer nicht einmal auf die Konservatorien zu beschränken, sondern mag ihren Umkreis von der biederen Klassik getrost auf die tagesübliche Neuklassik erweitern. In der Operette aber hat sich, ein Bodensatz der Geschichte, niedergeschlagen, was immer an objektiven Typen der Musik sich nicht in einzelmenschlichen Ausdruck verwandeln ließ und wiederkehrt, während der einzelmenschliche Ausdruck sonst einschrumpft: vorab die Wirklichkeit der Leiber, die ein leerer und selbstsicherer Geist allzu umstandlos tilgte. Und die Symbole, ohnmächtig als Wirklichkeit, bewahren darin ihre alte Ursprungsmacht als Schein: die Versöhnung, deren Name der wachen Sprache versagt ist, überflutet hier mit dem Licht der Scheinwerferapotheose die stumm entzückten Gesichter. Die Operette, deren flüchtige Zeitlichkeit seriöse Leute zu bemitleiden nicht müde werden, enthält die negative Ewigkeit des musikalischen Theaters in sich. Sie läßt sich nicht verteidigen, so wie sie's meint, aber sie läßt sich retten, so wie sie, transparent wider ihren Willen, gemeint ist.

Gebrauchsmusik? Aber was gebrauchen wir denn? Spielmusiken für Laien, Musiziermusiken für Junge, die von Berufs wegen jung sind, Schauspielmusiken, die man nicht hört und die nur komponiert werden, um zu verschwinden? Von alldem muß man erst einmal gelesen haben, und selbst wenn man eine Theorie besitzt, die die Leichtverständlichkeit von einer neuen Gemeinschaft ableitet, die es am Ende nicht einmal gibt – selbst dann läuft man Gefahr, es zu vergessen. Wer aber vergäße den Sigismund oder das »Wunderbare«, das nicht von Liszt ist, oder »Dein ist mein ganzes Herz« oder »Die drei Musketiere«? Das reicht bis in unsere Fehlhandlungen hinab, wir kommen unter Autos, weil wir's unachtsam summen, beim Einschlafen verwirrt es sich uns mit den Bildern unserer Begierde, Komponisten können nicht komponieren, weil ihnen stattdessen »Komm mit nach Varasdin« einfällt, und noch die wahre und eigentliche Liebe läßt es sich auf dem Grammophon vorspielen, vielleicht, um nicht dabei reden zu müssen. Seit Offenbach ist der wahre Orpheus in die Operette abgewandert und hat unsere Unterwelt in Besitz genommen; all unsere wache Musik steigt von dort auf; wir schreiben keine Melodie, die nicht die Konfrontation mit jedem Schlager ertragen müßte. Die Operetten allein binden unsere Musik an unsere realen Funktionen, die sie begleiten – verschwänden sie, dann erst wäre jene Einsamkeit vollkommen, die man unserer Musik stets sonst nachsagt. Aber sie werden nicht verschwinden: der feine Rest des Gewesenen aus ihnen wird alles begleiten, was wird, und ihm helfen, daß es etwas werde.

Lächerlich, vom Niedergang der Operette durch die einfallenden Stoffmassen der Revue zu reden. Einmal kann eine Form nicht niedergehen, deren legitimer Ort unten ist. Schlecht sind gerade die gehobenen Operetten; die mit Niveau, die sich um eine Psychologie bemühen, die den Typen nicht ansteht, und um eine kompositorische Form, die schon wegen der Rücksicht auf Faßlichkeit, der Gliederung in Strophe und Refrain sich nicht realisieren läßt. Gewählte Operetten sind Talmi-Opern und als solche überflüssig. Gerade der Einbruch der Revue läßt ein Richtiges einbrechen. Der Schein autonomer dramatischer Form, den die späte Wiener Operette mit den tragischen Finali zum zweiten Akt stets noch festhielt, zerfällt und die Operette schichtet sich aus Assoziationen, so wie ihre Wirkung ohnehin keine Logik kennt, sondern einzig im unbewußten Assoziationsspiel liegt. Das Recht der Persönlichkeit, mit dem in der großen Kunst kein Staat mehr zu machen ist und an das darum die Operette so lange sich hielt – »auch ich war einst ein reicher Csárdáskavalier«, das will sagen, so eine Persönlichkeit –, wird endlich von der Operette preisgegeben und statt dessen anerkannt das Recht einer Dingwelt, der in der Wirklichkeit die menschlichen Verhältnisse untertan sind und die hier, wo nicht dem Recht der Verhältnisse nachgefragt ist, wo sie bloß gespiegelt werden, ihren Einzug hält. In der Revue erkennt die Operette die Verdinglichung der Realität an, in der wir leben; zwar, sie verklärt sie und heiligt sie als Fetisch, aber sie verhüllt sie nicht mit trügender Innerlichkeit, und leicht genug könnten die richtigen Intentionen an den Stoffmassen der Revue sich besser entzünden als am leeren Selbst. Die Revue-Operette ist das offenbare Reich der Fetische. Die Uniformen sind Kriegsgötter, die fixierten Paare archaische Tanzmasken; aber die Fräcke und Abendkleider sind nicht weniger Fetische, solche des bürgerlichen Glanzes nämlich, und die Mädchen, die es doch zu allen Zeiten gab, vollziehen als Girls das Ritual von heutzutage. Hier verschränkt der erotische Fetischismus sich mit dem gesellschaftlichen: sie sind fast nur mehr Trägerinnen ihrer langen Strümpfe und ihrer kurzen Trikots, und fast wäre zu vermuten, daß weniger die Pikanterie des Halbverhüllten dabei entscheidet als eben die Heiligkeit des Kleidungsstückes als Ware, das mehr bedeutet als selbst Menschenwaren – wenn man den Annoncen der illustrierten Blätter folgen darf.

Zum Surrealismus, den man hierzulande noch nicht recht kennt, bietet seit Jahren die Operette unfreiwillig das parodische Seitenstück. Strebte man nach gebildeten Formeln, man könnte da von Supra-Historismus reden, womit freilich das Schicksal der Gattung besiegelt wäre. Die Operetten haben das Erbe der Jamben-Dramen angetreten, und in ihnen erst ist das Pathos einer Weltgeschichte erloschen, die so hartnäckig sich fürs Weltgericht ausgab, bis es über sie erging. Sie haben gleichsam den Urteilsspruch vollzogen, den der Raub der Sabinerinnen über die historische Dramatik sprach. Da ist kein König zu hehr und keine Buhlerin zu verworfen, um nicht mit wächsernem Kopf als Kleiderständer für Revuekostüme zu dienen, und hier erst sind sie ungefährlich geworden, die Pompadour und die Kleopatra und die drei Musketiere und die Dubarry. Wie ein winziger Zettel bleibt der Name der historischen Figur am Operettenmannequin kleben und wird als einziges aufgehoben, während sonst die Figur längst vergessen ist. Die Operette leistet den Ausverkauf der Geschichte: die Dämonen der Vorzeit präsentiert sie handlich als Stoffpuppen, mit denen wir schon spielen, während wir uns noch ängstigen: sie haben keine Gewalt mehr über uns. Sie erreichen uns bloß noch mit dem Choc: daß sie so klein geworden sind, daß wir sie nach Hause tragen können. Die Operette ist der Raum der Verkleinerung schlechthin und was sie rettet, läßt sie zugleich verschwinden.

Manchmal wird auf ihrem Puppentheater rascher tragiert als in der Realität. Dann verschränken sich sonderbar die Zeiten: in den Urfaust gehen Gymnasiasten, und die Erwachsenen hören sich Friederike an. Aber Goethe ist kein Gegenstand für die Operette, so wenig wie Schubert, dessen Melodien ihren kometengleichen Weg auch begonnen hätten ohne die Schändung im Dreimäderlhaus. Die Dubarry als Rokokomodell jedoch: die ist zuständig. Man läßt sie immer wieder auf ihrem Vulkan tanzen und abgehen, als wollten die unbewußten Instanzen in der Wiederholung langer Operettenserien den Schrecken meistern, der sie im Gedächtnis ans einmalige, unwiederholte, wirkliche Schicksal der Dubarry überfällt.

Die negative Ewigkeit der Operette: das ist allemal die des Gestrigen. Was gestern verging, kommt hier heute als Gespenst zurück, und in der Zukunft gibt es sich als Zeichen der Ewigkeit. Echte moderne Operettenmelodien müssen mit impressionistischen Nonenakkorden und Ganztonklecksen harmonisiert sein; echte neue Operettengrafen müssen ins Maxim gehen, und unsere Mode der langen Kleider sieht aus, als wäre sie einzig den Operetten gestohlen, in denen eigentlich heute ihr wahrer Raum wäre. Oder haben die Revenants, im Anschluß an manche Inszenierungen, die Operettenrampe überschritten und sind mitten unter uns?

1932