Aus einem Brief über die ›Betrogene‹ an Thomas Mann
18. Januar 1954
Heute möchte ich Ihnen Dank und Bewunderung sagen für die skandalöse Parabel. Was haben Sie nicht dem Thema der Verschlungenheit von Eros und Tod an Unvermutetem nochmals abgewonnen; wie konkret und bilderreich ist es nicht geraten. Stets lassen Sie den Gleichnischarakter des Ganzen souverän durchschimmern, ohne anzustreben, was man unter deutschen Ästhetikern Symbolik nennt und was meist darauf hinausläuft, eben das Parabolische, den Überschuß des Gedankens über den Stoff, wie er heute nun einmal unvermeidlich ist, zu verschleiern. Des Rühmens wäre kein Ende im Hinblick auf die Subtilitäten und kondensierten Erfahrungen, die in die Sache eingingen, wie etwa die von der Gebrochenheit des uns allein noch offenen Verhältnisses zur Natur (»wenn die Chausseen poetisch wurden«), oder den Bedacht, mit dem Sie in die große Allegorie eine kleine, wie ein Sekundenzifferblatt in eine Uhr, eingelassen haben, die vom Moschusgeruch des Exkrementhaufens. Kaum je zuvor haben Sie es so verstanden, die Kräfte des Skandalen mit der Sache selbst durch eine kokette Schamlosigkeit in der Behandlung der facts of life, welche die Parabel bilden, zu verbinden – eine Intention, die insgeheim und minutiös das Ganze durchwächst, den stampfenden Klumpfuß der Tochter und das peinliche pardon me des jungen Ken inbegriffen. Selbst ich konnte dieses Mal dem Gedanken an die musikalische Variationstechnik, der Ihnen ja wohl zum Halse herauswächst, mich nicht entziehen – so als hätten Sie Variationen Ihres obstinaten Grundthemas geboten, in denen Licht und Schatten, Forte und Piano und was es sonst an Gegensätzen noch geben mag, genau vertauscht sind; nicht also das todessüchtige Leben kommt hier zu Wort, sondern der lebenssüchtige Tod, und eben dies repräsentiert zugleich das Ungebührliche, Unerfaßte, das die gesellschaftliche Immanenz erschüttert: so sehr, daß vor Ihrem Spätwerk, das dem eigenen Begriff ein Schnippchen schlägt, die Mehrheit Ihrer Leser wie unter dem Stab einer skurrilen Kirke sich in alte Tanten zu verwandeln scheinen und den gladius dei schwingen.
Die bürgerliche Zivilisation hat das, wie Sie es nennen, »Fiese« des Todes verdrängt und entweder veredelt oder mit Hygiene umzäunt. Die Vergeblichkeit des falschen Lebens will man nicht ins Bewußtsein lassen, nicht dulden, daß das Niedrige am Tode sich offenbare – nicht, daß der Tod eine Schande des Menschen ist, die, anstatt im Namen von Tragik gefeiert, abgeschafft werden sollte. Der Schock, auf den Ihre Erzählung zielt, indem sie den Sexus der alternden Frau enthüllt, verletzt alle diese Spielregeln. Damit vollbringt er etwas unendlich Befreiendes. Man kann wohl sagen, daß in dieser Erzählung Ihr altes Schopenhauersches Wahnmotiv, das der Scheinhaftigkeit und Eitelkeit des Lebens, zu einer materialistischen Konsequenz getrieben ist, die den ideologischen Spuk der Verklärung des Daseins dort trifft, wo es am wehesten tut. Der Kontrast dieser aufklärenden Intention und der abenteuerlich artifiziellen Mittel, deren Sie sich dabei bedienen, potenziert womöglich die Wirkung. Die Spannung zwischen der Kultur und dem, was darunter west, treiben Sie bis zum Zerreißen oder, wie ich lieber sagen möchte, bis zum dialektischen Umschlag. Die Überlegenheit über die gesamte humanistische Tradition, die Sie als deren eigenster Träger dabei bewähren, ist großartig. Ich glaube, erst allmählich wird das sich entfalten, was in dieser wirklich inkommensurablen Produktion steckt.
Nicht kann ich es mir verbieten, Ihnen ein kleines Detail zu berichten, das Ihnen vielleicht noch nicht bekannt ist. Rosalies Anregung, die abstrakte Tochter möchte den Duft als solchen malen, hatte sich bereits realisiert, ehe Sie sie mitteilten. Die späteren Arbeiten des ehemaligen Surrealisten Masson, die ich vor ein paar Jahren in Paris betrachten konnte, sehen in meinen in Dingen der malerischen Technik nicht zuständigen Augen so aus, als wäre von Renoir nichts anderes als der Duft übriggeblieben, die Gegenstände aber getilgt; man spricht dortzulande in der Tat von einem Anknüpfen der jüngsten Malerei an impressionistische Tendenzen. Übrigens hat, wenn ich mich nicht täusche, schon Monet am Ende zu einer solchen Auflösung des Gegenständlichen in die eigene Aura tendiert, von verwandten Abenteuern der Musik wie den Jeux von Debussy zu schweigen. Wenn Sie also nach Paris kommen – und ich kann mir kaum vorstellen, daß die Arbeit am Krull eine allzu lange Abwesenheit von dessen phantasmagorischer Wahlheimat zuläßt –, dann versäumen Sie nicht, in die Galerie Leiris zu gehen und sich von meinem herzlich verehrten Freund Kahnweiler jene Massons zeigen zu lassen. Sie werden dann Ihrer Betrogenen den Trost spenden können, daß sie sich schließlich vor Ihnen doch noch avancierter dünken kann als die gestrenge Anna.
Wenn ich ein fragendes Wort anmelde, so nicht um auch nur das leiseste Bedenken gegen das Werk vorzubringen, sondern einem theoretischen Gedanken zuliebe, der mich schon lange intrigiert und der Sie vielleicht nicht allzusehr langweilt. Die Figur des Ken trägt, wenn ich mich nicht irre, alle Zeichen eines Amerikaners aus den späten vierziger oder aus den fünfziger Jahren und nicht aus dem Dezennium nach dem ersten Krieg; Sie wissen das natürlich viel genauer als ich. Nun könnte man sagen, das sei die legitime Freiheit des Gestaltens, und die Forderung nach chronologischer Treue bleibe subaltern, auch wo es um die Akribie der Menschendarstellung sich handelt. Aber ich zweifle, ob dies als selbstverständlich sich aufdrängende Argument wirklich ganze Kraft hat. Wenn Sie ein Werk in die zwanziger Jahre verlegen, es nach dem ersten anstatt nach dem zweiten Krieg spielen lassen, so haben Sie dafür Ihre guten Gründe – der handfesteste ist, daß eine Existenz wie die der Frau von Tümmler heute kaum vorgestellt werden könnte, und in einer tieferen Schicht spielt wohl das Bestreben herein, gerade das Nächste zu distanzieren, in Vorwelt zu verzaubern, jene Vorwelt, mit deren besonderer Patina auch der Krull es zu tun hat. Indessen geht man doch mit solcher Transposition der Jahreszahlen eine Art von Verpflichtung ein, ähnlich wie beim ersten Takt einer Musik, dessen Desiderate man bis zum letzten Ton nicht mehr loswird, der das Gleichgewicht herstellt. Nicht die Verpflichtung äußerlicher Treue zum »Zeitkolorit« meine ich, wohl aber die, daß die vom Kunstwerk beschworenen Bilder zugleich als geschichtliche Bilder leuchten, eine Verpflichtung freilich, die aus ästhetisch-immanenten Motiven von jener äußerlichen nur schwer sich dispensieren kann. Denn irre ich mich nicht abermals, so stößt man auf den paradoxen Sachverhalt, daß die Beschwörung solcher Bilder, also das eigentlich Magische des Kunstobjektes, um so vollkommener gerät, je authentischer die Realien sind. Beinahe könnte man glauben, die subjektive Durchdringung stünde nicht, wie unsere Bildung und Geschichte uns glauben machen möchte, im einfachen Gegensatz zur Forderung des Realismus, die ja in gewissem Sinne durch Ihr ganzes oeuvre hindurchklingt, sondern es wäre, je präziser man sich ans Geschichtliche auch von Menschentypen hält, um so eher die Vergeistigung, die Welt der imago zu gewinnen. Auf derart abwegige Reflexionen bin ich zuerst bei Proust verfallen, der in dieser Schicht mit idiosynkratischer Genauigkeit reagierte, und bei der ›Betrogenen‹ haben sie sich mir wieder aufgedrängt. Im Augenblick kommt es mir vor, als wäre durch jene Art Genauigkeit etwas von der Sünde abzubüßen, an der jegliche künstlerische Fiktion laboriert; als wäre diese durchs Mittel der exakten Phantasie von sich selbst zu heilen. Aber ich weiß nicht, ob es meinem Gestammel auch nur gelingt, das verständlich zu machen, was mir vorschwebt, während ich mich dem Verdacht aussetze, ich sei vor lauter Dialektik am Ende der Stoffhuberei verfallen und bedürfte selber einer Kur, weit dringender als die epische Illusion.
Der Erwählte und die Betrogene, das deutet beinahe schon durch die Titel einen zyklischen Zusammenhang an. Ist wohl gar auf ein drittes Stück dieses Typus zu hoffen, so wie ja Platon, wenn er und Wilamowitz uns nicht betrogen haben, auf den Sophisten und den Staatsmann den Philosophen folgen lassen wollte? Oder sind Sie nun wieder ganz und gar im Krull?
Ihr alter
T.W.A.