Zur Deutung Kreneks
Aus einer Rundfunkrede
Wenn Sie in aller Eile die Vorstellungen zusammenraffen, die sich Ihnen ergeben, sobald Sie den Namen Ernst Krenek hören, so finden Sie – mögen Sie nun seine Musik selbst kennen oder nicht – merkwürdig Verschiedenes vor. Zunächst haben Sie das Bild eines ungestümen, dumpfen, höchst angriffswilligen Autors, dessen Musik im Zeichen völlig rücksichtsloser Kontrapunktik steht; sie wird selbst der genauesten Kennerschaft über weite Strecken hin in der Gesetzmäßigkeit ihres Soseins nicht deutlich, aber es geht seltsam bedrohliche Gewalt von ihr aus, die zwar der kompositorischen Kritik nicht gewachsen sein mag, aber dafür die Kritik niederschlägt. Diese frühen Werke von Krenek sind Maelstrom-Musik; ganz unerhellt, bar jeder faßlichen Intention, aber voll einer unmenschlichen und erschreckenden Kraft, mit der sie ihre Flut durch die Zeit wälzt. Der Ruhm dieses ersten Krenek war ein interner Musikerruhm und stand, fast möchte man sagen, im Zeichen der Angst. Dann gibt es einen zweiten Krenek, von dem Sie alle wissen: den von »Jonny spielt auf«, den der ersten deutschen Jazzoper, der ersten Oper, in der die Dingwelt der Zivilisation mit Bahnhof und Luxushotel und Sommerfrischenalpen musikfähig wird und in der Amerika als Land ursprünglicher Lebenskraft und technischer Lebensbeherrschung zugleich ungebrochen, drastisch, sinnfällig und geheimnislos verherrlicht wird. Endlich wissen Sie von einem dritten Krenek, der, völlig überraschend und in der Breite der gegenwärtigen Musikbewegung auffällig isoliert, einer Art von neuen Romantik zustrebt; der in einem großen Liederzyklus bewußt und offenkundig auf die Reisezyklen Schuberts, Winterreise und Müllerlieder, stofflich, stimmungsmäßig, auch musikalisch-technisch zurückgreift; der das traditional-österreichische Moment heraushebt; der sich zugleich um eine Regeneration der Großen Oper müht, wie sie aus der romantischen Zeit stammt; dessen Arbeit in allen Stücken orientiert ist an der Idee der Natur, des Natürlichen als des Reiches der Ursprünge, wie sie dem romantischen Geist sich darstellt. Von den Werken des Abends gehört das Quartett gänzlich diesem dritten Krenek an; Bilder natürlichen Lebens sind es auch, um die sich die Kraus-Lieder gruppieren, deren Musik freilich abermals eine neue, kaum schon sicher benennbare Sphäre zu erschließen scheint. Nehmen Sie dazu den polemisch schlagkräftigen und sprachbewußten Schriftsteller Krenek, der an der Prosa des gleichen Karl Kraus sich härtete, dessen Lyrik er hier ins Dämmer des nächtlich ungewissen Klanges geleitet; erfahren Sie schließlich, daß er bereits vor jenen aggressiven Werken der Frühzeit andere, wie die erste Klaviersonate, schrieb, in denen der romantische Stil von heute aufs genaueste vorgebildet ist – und Sie finden sich, bei dem einen Menschen Krenek, einem Figurenspiel der verschiedensten Gesichter gegenüber, die sich keinesfalls bequem auf den Generalnenner bringen lassen und die man auch nicht durch den üblichen Begriff der Entwicklung zusammenfassen kann. Ich möchte nicht mehr versuchen, als einzig Ihnen den geistigen Zusammenhang deutlich zu machen, der sich im wunderlichen Wechsel der Stile bei Krenek verbirgt.
Lassen Sie mich von einer der ersten Erfahrungen und bis heute der wichtigsten ausgehen, die ich machte, als mir Kreneks Musik begegnete; damals, beim Kasseler Tonkünstlerfest 1923, jene Zweite Symphonie, die mir noch in allen Teilen gegenwärtig ist, obwohl ich niemals die Noten sah: mit dem beunruhigenden Celestaklang der Einleitung, irgendeiner Episode der gedämpften Hörner im Scherzo, vor allem aber dem Finale, einem Adagio schlechthin einziger Art, mit mächtigen, einstimmigen Rezitativen der Geigen, die klingen, als spräche einer in der Sprache eines unbekannten Sternes, und mit einem Schluß, dessen niemals vorher und nachher gehörtes Fortissimo, in einem Grauen, für das Worte fehlen, sich heranwälzt, als komme jener Stern, in Monaten des Entsetzens, auf die Erde zu, nehme den ganzen Himmel ein, öffne sich in nächster Nähe wie ein Schlund – im Augenblick der Katastrophe, auf der Höhe der Angst, reißt die Musik ab, so wie man seinen eigenen Tod nicht träumen kann. Nicht umsonst vergleiche ich diese Musik Träumen und mein Gleichnis soll Ihnen nicht ein gegenständliches Programm nahelegen, sondern allein die Traumtiefe beleuchten, aus der diese Musik aufsteigt. Kompositorisch steckt das Werk voller Mängel, die keiner besser kennt als der heutige Krenek: es ist möglich, daß nicht einmal der Kometenklang von ihm vorgestellt ward; daß er die Symphonie gleichsam taub schrieb, daß er selbst den Traum nicht erreichte, aber er brach aus ihm aus: aus einer Schicht tief unter aller Innerlichkeit, unter allem Ausdruck; aus einem Abgrund des Unbewußten, aus dem, das darf ernstlich behauptet werden, kaum je Musik so unverwandelt, darum auch so fremd und unverständlich aufstieg wie die des ersten Krenek. Kein Erwachen vermöchte die Schätze der Angst zu bergen, die die Traumtiefe umschließt. Darum gibt es keine Entwicklung bei Krenek, die Zug um Zug das Gewesene ins Werdende umsetzt. Die Geschichte seiner Werke gehorcht anderem Rhythmus. Es ist der von Vergessen und Einholen. Der Gewalt jener Tiefe darf das wache Komponieren gehorchen bloß, indem es von ihr abstößt; nicht indem es ihre Trümmer mitschleppt, die im Wachen nur als Gespenster umgingen, solange nicht die ganze Tiefe beschworen ist. Kreneks Kraft des Vergessens ist der der Angst ebenbürtig. Jonny bezeichnet den Augenblick des Erwachens, nachdem vorher schon, etwa im Klavierkonzert, die Tiefe des Schlafs sich gelöst hatte und frühes Oberlicht die geschlossenen Lider traf. Nur als Vergessen der Traumtiefe, als Beherrschung der Angst können sie den Jonny richtig einschätzen – niemals als Kundgabe jenes vorgeblichen Lebenswillens, wie er sonst zur Zeit des Jazz proklamiert ward und über keine bessere Natur verfügte als über die barbarisch dumme der Foxtrots. Die Banalität des Jonny ist allein die Gebärde des Vergessens, die den Traum solange aus der Stirn streicht, bis er vielleicht, unvermerkt, im Hellen wiederkehrt und gemeistert wird; die Bogenlampen des Jonny werfen ihr Licht auf die gleiche Dingwelt, deren übergroße Schatten die Figuren seiner Traumregion ausmachten. Ihr grelles Licht hat sein Maß allein an der Tiefe der Schatten. Darum ist es nicht Untreue und wendiges Geschick, wenn Krenek den Stil des Jonny preisgab, während die anderen den Erfolg imitierten. Die Kraft des Vergessens, die zum zweiten Male eingreift, vollzieht, was die trügende Helle des Jonny mit seinem sicheren Orchester selbst fordert. Sie gehorcht aber zugleich der anderen Forderung aus Kreneks Taglandschaft: der des Einholens. Nur indem er einholt, was immer im Tagraum verging, ohne daß er darum wußte; nur indem er die Sprache der Väter redet, lernt er das Schweigen mobilisieren, das in ihm selbst beschlossen liegt. Seine kompositorische Geschichte ist die von einem, der sich selber einholt, indem er einholt, was vor ihm war. Die Grenze von Wachen und Traum versperrt ihm den unmittelbaren Zugang zu seinem Tiefenraum; so wird ihm der Umweg über die Stile zum Serpentinpfad in den Abgrund der eigenen Musik, der anders tödlich ihn bedrohte. Das ist der wahre Grund seiner Romantik und darum hält seine Romantik stets und stets sich ans fremde Vorbild. Sich selbst kann er gewinnen nur, indem er sich vergißt. Den Traum der anderen bildet er auf dem Weg zum bilderlosen Traum seiner selbst. Krenek ist, wenn Sie mir die extreme Formulierung gestatten wollen, ein Epigone aus Tiefe: einer Tiefe, so furchtbar abgetrennt, daß sie nicht unvermittelt laut wird, sondern indirekt in den Gestalten der Oberfläche erobert werden will. Es ist möglich, dies rätselhafte Epigonentum vom Stand unseres kompositorischen Materials aus zu kritisieren und ich selber habe, im Gespräch mit Krenek vor Ihnen*, die kritische Haltung eingenommen. Aber es wäre oberflächlich, die allgemeine Einsicht hier umstandslos auf den besonderen Gegenstand zu übertragen und zu übersehen, wie gerade hier die rätselhafte Fremdheit des Beginns und die rätselhafte Vertrautheit des Fortganges sich durchdringen: wie in Kreneks Doppeldeutigkeit die Doppeldeutigkeit der musikalischen Natur selber sich mitteilt. Irre ich mich nicht, so ist der Prozeß des Einholens und Vergessens heute bei Krenek zu einem entscheidenden Punkt gelangt: dorthin nämlich, wo die Figuren der Oberfläche, mit anderen Worten die kompositorische Ausformung der Probleme, die in Kreneks wachem Raum lagern, in die längst vergessenen Figuren seiner Ursprungszeit umschlagen: das Bewußtsein holt den Traum selber ein, von dem es abstieß, so jedenfalls klingen die Lieder »Durch die Nacht« an die unverständlichen frühen Lieder an, die sie zugleich erhellen: und die Kraft des Vergessens richtet sich hier erstmals gegen die romantischen Modelle selber. Darum ist vielleicht der rechte Augenblick, das Gesetz aufzusuchen, das je und je mit dem Übergang von einem Werk zum anderen im kompositorischen Leben des heute erst Einunddreißigjährigen sich bildet.
In dieser Musik kennt das Gewesene und das Werdende keinen Übergang; sie bewegt sich zwischen den Polen des dicht verschlossenen, unkonstruierbaren, blinden Traumes und des überdeutlichen wachen Rückgriffs aufs Vergangene. Aber das Vergangene ist ihr bloß der Stoff, an dem die feindliche Flamme des Werdenden sich entzündet, und was in ihr wird, ist nichts als das Traumgesicht dessen, was von je war. Das wollte ich Ihnen zum Verständnis von Kreneks Musik sagen.
Fußnoten
* Vgl. jetzt GS 19, s. S. 433ff.