Einleitung zu Emile Durkheim,
»Soziologie und Philosophie«1
Für Jürgen Habermas
Die deutsche Publikation einer Modellschrift von Emile Durkheim wie seiner »Soziologie und Philosophie« betitelten, in Wahrheit dem Verhältnis von Moral und Gesellschaft gewidmeten Sammlung von Abhandlungen ist fällig*. Er war der einflußreichste französische Soziologe jener Generation, für die in Deutschland Namen wie Max Weber, Simmel, Troeltsch einstehen. In Frankreich faßte er als Schulhaupt Tendenzen zusammen, die dem gleichzeitigen Bergsonianismus opponierten; seine szientifische Gesinnung besetzte die Gegenposition zur intuitionistischen. Durkheims Wirkung zumindest im eigenen Land überdauerte die unmittelbare Schule; noch im gegenwärtigen Strukturalismus sind Motive aufzudecken, die von ihm stammen. Mit Max Weber teilt er, bei prinzipiell schärfstem Gegensatz, das Bestreben, Soziologie als eigenständige, von den Nachbarwissenschaften unabhängige Disziplin zu begründen. Die Begeisterung dafür leuchtet heute, zumal seitdem die Soziologie in den Vereinigten Staaten volle Gleichberechtigung gewann, nicht mehr ein. Sie erklärt sich aus der zwischen 1890 und 1920 in Europa vorherrschenden Neigung, den zudringlichen Spätkommer akademisch draußen zu halten; latent behauptet sie sich stets noch in Vorurteil und Hochmut.
Trotz seines französischen Ruhms jedoch wurde Durkheim zu seiner Zeit in Deutschland kaum ernsthaft rezipiert, obwohl, wie man ihm gern ankreidete, seine Konzeption durchwachsen ist mit Elementen der deutschen Philosophie und Nationalökonomie, besonders der Kathedersozialisten2, und obwohl an ihm wie an wenigen sich abzeichnet, wohin jene Motive unter den Bedingungen des späteren Kapitalismus drängten. Sein œuvre war bis heute nur unvollständig in Übersetzung zugänglich. Die spärliche Sekundärliteratur langt nicht zu; genannt sei das Buch von George Em. Marica, zwar eine brauchbare Übersicht, doch gedanklich und sprachlich auf kläglichem Niveau. Es erhöht keineswegs sich dadurch, daß es mit den vor fünfunddreißig Jahren gängigen Kategorien der Schelerschen und Hartmannschen Wertlehre von außen her, in falscher Souveränität, über Durkheim Gericht hält. Auszunehmen ist wohl nur René Königs gehaltreiche Einleitung zur Neuausgabe der »Regeln« bei Luchterhand.
Das Interesse an Durkheim indessen ist keineswegs bloß dogmen- oder geistesgeschichtlich. Manche Fragen, die in seiner Schule aufkamen, insbesondere die These von der Eigenständigkeit gesellschaftlicher Tendenzen gegenüber individuell-psychologischen, im Buch über den Selbstmord nicht nur exponiert sondern im Material durchgeführt, sind, unter anderem Namen, heute so aktuell wie je. Durkheims Qualität jedoch ist, bei allem Stoffreichtum und bei aller nach der »Division du travail« etwas forcierten Einheitlichkeit, die entwicklungstheoretische Erwägungen zugunsten einer allgemeinen Lehre von der Vergesellschaftung unterdrückte, nur an spezifischen Texten zu vergegenwärtigen. Überdies sind die zahllosen Studien seiner Schule vergraben in den Jahrgängen der »Année sociologique« und einzig Spezialisten zugänglich.
Nach grober Parteiengliederung zählt Durkheim zu den Positivisten3; als solchen hat er sich verstanden. Wissenschaft hieß ihm beobachten, vergleichen, klassifizieren; nur was derart verfuhr, beanspruchte er gelten zu lassen. Mit erheblichem strategischen Geschick vermochte er daraus für seine recht partikulare Methode eine Art von Totalitätsanspruch abzuleiten. Seine Lehre von den sozialen Tatsachen als der einzigen Basis soziologischer Erkenntnis, vorgetragen in der methodologischen Hauptschrift, den »Règles«, prägt sein Programm von Positivismus aus: man solle an die faits sociaux sich halten, sie wie Dinge als schlechthin Gegebenes traktieren, unter Ausschluß jeglicher Spekulation und bloßen Meinung, zumal auch derjenigen, welche eine Gesellschaft von sich selbst hegt. Durch derlei Tabus machte er die französischen Soziologen seiner Periode weithin sich gefügig. Kriterien freilich, nach denen unterschieden werden könnte, was eine Gesellschaft wahrhaft ist und was sie sich dünkt, fehlen. Schuld trägt die zentrale Theorie. Sie rückt anstelle der Objektivität tragender gesellschaftlicher Lebensprozesse die Objektivität der conscience collective. Wird zur Substanz einer Gesellschaft ihr Geist erhoben, ein selbst erst Abzuleitendes, so zerfließt die Distinktion richtigen und falschen Bewußtseins; ähnlich wie Durkheim denn auch Schwierigkeiten hat, das Normale und das Pathogene voneinander abzugrenzen; Schwierigkeiten übrigens, die Freud ebenfalls begegneten. In der Spiritualisierung von Objektivität rächt sich der Subjektivismus, den Durkheim verleugnete und der doch seinem Ansatz unvermeidlich ist. Gegen den zu seiner Zeit gängigen physiologischen Materialismus hat er gleich den Empiriokritizisten von der Unmittelbarkeit der Bewußtseinsdaten her gewettert: »Eine solche Gehirngeographie hat aber eher mit Dichtung zu tun denn mit Wissenschaft.« (58)4 Er wußte sich in der Nachfolge Comtes und attackiert diesen einzig, weil er ihm noch nicht positivistisch genug war, in jenem Abschnitt der Règles, wo er dem alten Vorgänger – charakteristisch genug für Durkheims eigene Periode – vorwirft, jener, geschworener Antimetaphysiker, halte an einem so metaphysischen Begriff wie dem des Fortschritts fest. Zum Metaphysiker wird in der Geschichte des Szientivismus leicht einer dem Nächsten. Durkheim selbst erging es nicht anders; seine Lehre vom Kollektivbewußtsein, vollends der outrierte Enthusiasmus, mit dem er auf dessen Seite sich schlug, waren ungeschützt gegen Angriffe desselben Typus wie der seine auf den Fortschrittsbegriff. Das Kollektiv mit Fähigkeiten und Funktionen auszustatten, die offensichtlich vom einzelmenschlichen Individuum abstrahiert sind, und sie dann als diesem vorgängig zu setzen, ist für den unreflektierten Menschenverstand nicht weniger provozierend als die Kategorie Fortschritt, die an der Entfaltung von Rationalität immerhin ihre mächtige Stütze hat.
Anlaß, Durkheim zu lesen, ist solche Verschränkung des provokatorisch Spekulativen mit dem Positivismus. Darin kündigt implizit dessen Selbstkritik sich an, wie sie in der jüngsten Phase der Debatte durchbrach. Durkheims Begriff der sozialen Tatsache und ihres dinghaften Charakters geht auf seine eigene Erfahrung von der Gesellschaft zurück. Sie hat er mit dem positivistischen Mittel der Statistik verifiziert. Von Anbeginn verband er sie mit Apologie: der Begriff der faits sociaux, die Betonung ihrer Dinghaftigkeit möchte den Zerfall des Kollektivbewußtseins aufhalten, der durch den Konflikt von Kapital und Arbeit drohe. Schon 1887 schrieb er: »Was wir vor allem kennen lernen möchten, sind die Daseinsgründe der nationalen Gefühle und des Patriotismus; ob sie in der Natur der Dinge begründet liegen oder ob es sich dabei, wie so manche Doktrinäre offen oder versteckt behaupten, nur um Vorurteile oder Überreste der Barbarei handelt ... Wieder muß der Professor der Philosophie ihnen (den Menschen) begreiflich machen, daß die psychischen und sozialen Phänomene Tatsachen sind wie andere auch, Gesetzen unterworfen, daß der menschliche Wille sie nicht nach Belieben stören kann und daß folglich Revolutionen im strengen Sinn ebenso unmöglich sind wie Wunder ... Liegt es nicht auf der Hand, daß diese Ideen zu jenen gehören, mit denen junge Menschen vor Eintritt in das Gymnasium ausgerüstet sein müssen? ... Wirklich, ist es nicht verwunderlich, daß wir uns so wenig Mühe geben, die öffentliche Meinung aufzuklären, wo sie doch die höchste Macht bei uns hat?«5 »Es (das Kind) muß das Warum seiner Pflichten kennen. Denn eines Tages wird es sich fragen, teils aus eigenem Antrieb, teils unter dem Druck seiner Umgebung, mit welchem Recht man von ihm Gehorsam verlangt; und wenn dann seine Reflexion nicht von vornherein in die gehörige Richtung gelenkt, wenn sie nicht mit den Leitbildern ausgerüstet ist, wird sie aller Voraussicht nach durch die Komplexität jener Probleme in die Irre geführt werden. Die Gründe für die Moral sind nicht so evident, als daß es genügte, sich selbst zu befragen, um sie zu erkennen. Folglich ist das Kind der Gefahr ausgesetzt, sie nur als eine Phantasmagorie, als Produkt des Aberglaubens zu betrachten, wie es so häufig geschieht; das Kind wird zu dem Glauben kommen, daß es die Regierungen, die herrschenden Klassen waren, die die Moral erfunden haben, um die Völker besser in Schach zu halten. In jedem Fall werden wir es widerstandslos den Einflüssen von vulgärer Polemik und Journalistenargumentation preisgeben. Wir müssen seine Intelligenz also mit soliden Gründen wappnen, die den unvermeidlichen Zweifeln und Diskussionen standzuhalten vermögen.«6 Die Durkheimschen Gegebenheiten, die faits sociaux, sollen Manifestationen seiner obersten Entität sein, des Kollektivbewußtseins. Formelhaft wäre seine Soziologie als positivistischer, auf Bewußtsein eingeschworener Objektivismus zu bezeichnen. Wohl eignet jeglichem positivistischen Denken ein objektivistisches Moment. Subjektive Willkür, bloße, durch Fakten unerhärtete Meinung sollten ausgeschaltet werden. Latent jedoch war und blieb die positivistische Überlieferung insofern subjektivistisch, als sie die sinnliche Gewißheit, über welche nur die einzelmenschlichen Subjekte verfügen, als Wahrheitskriterium instauriert. Darin hat sich vom Humeschen Sensualismus über Mach und die Gegebenheitstheoretiker des späteren neunzehnten und früheren zwanzigsten Jahrhunderts bis zu Carnap nichts geändert. Zu dieser Tradition steht Durkheim quer. Während er das naturwissenschaftliche Ideal, einzig stubborn facts als Rechtsquelle der Erkenntnis zu dulden, von ihr übernimmt, kommt es ihm nicht bei, sie in der sinnlichen Gegebenheit fürs Bewußtsein aufzusuchen. Der Begriff des Tatsächlichen, dem an sich schon, auch im Positivismus, ein antisubjektivistisches, mit dem konstituierenden Einzelich schwer vereinbares Moment innewohnt, kollidiert bei ihm schroff mit jeglicher Individualität. Soziale Tatsache ist ihm gerade das, was vom Individuum schlechterdings nicht absorbiert werden kann, inkommensurabel und undurchdringlich. Seine gesellschaftliche Erfahrung bildet sich nach dem Modell dessen, was weh tut. Als erster wohl führt er sie autoritären Zwecken zu: mit dem Respekt lauterer Wissenschaft vor den Fakten will er verhindern, das vorweg als undurchdringlich Präsentierte mit kritischer Vernunft zu durchdringen. Die gesellschaftliche Tatsache schlechterdings ist ihm die contrainte sociale, der übermächtige, jeglicher subjektiv verstehenden Einfühlung entzogene soziale Zwang. Er fällt nicht ins subjektive Selbstbewußtsein, und kein Subjekt kann mit ihm ohne weiteres sich identifizieren. Die vorgebliche Irreduzibilität des spezifisch Sozialen kommt ihm zupaß: sie hilft ihm dazu, es immer mehr zum Ansichseienden zu machen, es nicht nur dem Erkennenden, sondern auch den vom Kollektiv integrierten Einzelnen gegenüber absolut zu verselbständigen. Die Unmöglichkeit, das, was seiner Begierde nach Begründung der Eigenständigkeit der Gesellschaftswissenschaft und ihrer Methode sozial dünkt, zum principium individuationis zu vermitteln, nötigt ihn zum spekulativen Gewaltstreich der Hypostase des kollektiven Bewußtseins. Er war dadurch dem heute zur fast ausschließlichen Herrschaft gelangten Hauptstrom des Positivismus soweit überlegen, wie er die Phänomene gesellschaftlicher Institutionalisierung und Verdinglichung, die bei jenem hinter den nachträglich als statistische Elemente aufbereiteten Menschen zurücktreten, unvergleichlich viel nachhaltiger hervorhob. Zugleich aber war Verdinglichung sein blinder Fleck, die Formel, auf die sein Werk verhext ist. Kaum erscheinen bei ihm derlei Kategorien als solche. Dafür haben sie Macht über ihn. Die gewordenen, übermächtigen Verhältnisse, Hegels zweite Natur, werden ihm zur ersten; Geschichte zu dem, was sie freilich auch ist, Naturgeschichte, wenngleich einer des Geistes. Bereits in dem Buch über die Arbeitsteilung hat er die Zivilisation unmittelbar, ungebrochen aus dem Kampf ums Dasein abgeleitet und sanktioniert. Wahr daran ist, daß Gesellschaft stets noch subjektlos, naturbefangen den Kampf ums Dasein fortsetzt; das ist das Anti-Ideologische am Durkheimschen Objektivismus. Seine beschreibende und vergleichende Methode jedoch ist alles andere als politisch neutral oder gar kritisch. Reaktiv auf die Marxische Theorie ward sie geschaffen dazu, den verhärteten Charakter der Gesellschaft, auf den sie eingeschworen ist, zu rechtfertigen, gesellschaftliche Entfremdung der Vergesellschaftung schlechthin gleichzusetzen, anstatt sie als Entsprungenes und der Möglichkeit nach Vergängliches zu erkennen. Die kollektiven Bewußtseinsformen und Institutionen, auf die Durkheim und seine Schule alle Energie konzentriert haben, werden selten historisch bestimmt, sondern, bei aller empirischen Differenzierung, tendenziell zu Urphänomenen. Daher die Obsession mit primitiven Verhältnissen: sie sollen prototypisch für alles Soziale sein. Die Dialektik von Kollektiv-Allgemeinem und Individuell-Besonderem in der Gesellschaft wird ignoriert. Wohl hat Durkheim, anders als die empirischen Forscher, doch im Einklang mit der großen philosophischen Überlieferung, erkannt, daß das Individuum selbst eine soziale Kategorie, daß es durch Gesellschaft vermittelt ist. Daß aber diese Vermittlung wiederum auch des Vermittelten bedarf; daß die kollektiven Gebilde ohne individuellen Gegenpol so wenig wären wie dieser ohne gesellschaftlich Allgemeines, verleugnet er krampfhaft. Sein unverkennbarer Hang zur sophistischen Rechthaberei dürfte sich erklären aus der Gewaltsamkeit, mit der er die längste Spanne seines Lebens dem sich verschloß, was er in seiner Frühschrift zugestanden hatte: der Gewalt von Eigentumsverhältnissen. Die abstrakte Negation der gängigen Ansicht von der Gesellschaft als einem Agglomerat von Individuen wird zur gleichermaßen abstrakten Affirmation des ihnen Vorgeordneten. Er mildert sie eben nur peripher durch die Einsicht, Individuation selber sei kollektiv bedingt. Durkheim bietet im wissenschaftlichen Bereich ein eindringliches Modell dessen, was die Freudsche Psychologie Identifikation mit dem Angreifer nennt. Vermutlich sog seine Schule aus solchem Bodensatz von Monomanie ihre sektenhafte Attraktionskraft. Diese erinnert merkwürdig an den ursprünglichen französischen Positivismus. Wollte Comte im Alter die soziologische Wissenschaft mit der Autorität von Religion samt ihren irrationalen Emblemen ausstaffieren, so wurde bei Durkheim zwar nicht geradeswegs seine Wissenschaft, doch deren Substrat, die Gesellschaft und die Formen von Vergesellschaftung, zur Ersatzreligion. Nur durch gekünstelte Beweisführungen vermag er unter ihrem Bann Reste kritischer Vernunft zu konservieren. Seine soziologische These, daß, mit Übertreibung gesprochen, in der Religion die Gesellschaft sich selbst anbete, büßt bei dem späten Bürger den aufklärerischen Oberton ein, den dergleichen Gedankengänge im achtzehnten Jahrhundert und dann bei Feuerbach besaßen. Nicht wird Religion als gesellschaftliche Projektion entzaubert, sondern Durkheims Wissenschaft attestiert der Gesellschaft noch einmal jene Göttlichkeit, die sie ihm zufolge in der Religion nach ihrem Bilde erschuf. Gesellschaft wird, einen Terminus von Marx anzuwenden, mystifiziert; Durkheims Denken läßt sich gleichsam anstecken von dem der unterentwickelten Völker. Nachdem er der Unmöglichkeit der von ihm so genannten »organischen Solidarität« in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Epoche innegeworden war, mochte sein zwangshafter Kollektivglaube nach rückwärts gestaut worden sein wie nachmals in manchen faschistischen Ideologien. Alle Erscheinungen des kollektiven Lebens »sind ausdrücklich obligatorischer Art; die Obligation aber ist der Beweis dafür, daß diese Arten des Handelns und Denkens nicht das Werk des Einzelnen sind, sondern von einer Kraft ausgehen, die über ihn hinausreicht, mag man sie nun mystisch begreifen in Form eines Gottes oder sich einen zeitlicheren und wissenschaftlicheren Begriff von ihr machen« (72).
Der Objektivismus Durkheims mahnt an Hegel, insbesondere an dessen Lehre vom objektiven Geist, die jener kannte7; er war, wie man weiß, etwas lax beim Zitieren seiner Quellen. Doch wäre er der einzige nicht gewesen, der auf eigene Faust Bruchstücke der Hegelschen Konzeption für sich wiederentdeckte, nachdem das System angestrengt vergessen war; Bruchstücke, die dann freilich, von jenem abgesplittert, nicht nur veränderten Stellenwert empfingen, sondern vielfach grotesk sich verzerrten. Recht wohl könnte im dritten Teil der Enzyklopädie oder in der Rechtsphilosophie der Satz stehen: »Die Gesellschaft ist aber etwas anderes; sie ist vor allem eine Gesamtheit von Ideen, Überzeugungen und Gefühlen aller Art, die durch die Individuen Wirklichkeit werden; und den ersten Rang unter diesen Ideen nimmt das moralische Ideal ein, ihr hauptsächlicher Daseinsgrund.« (113) Die Einschränkung des Hegelschen Geistbegriffs, einst der Totalität, auf die Gegenstände der »Geisteswissenschaft«, unter Ausschluß der materiellen Arbeit und ihrer Bedingungen, bahnte Hegel selbst noch an; wie für all seine Diadochen war sie für Durkheim selbstverständlich. Vollends hegelianisch ist der Satz: »Was ich hingegen der Kollektivität entgegensetze, ist die Kollektivität selber, doch eine mehr oder weniger ihrer selbst bewußte.« (121f.) Zwar war Hegels Weltgeist, nach Analogie mit den Einzelwesen, nicht vorweg Bewußtsein seiner selbst, sondern sollte es erst werden. Eine solche Konstruktion mußte Durkheim, sollte er sie gekannt haben, um seines Positivismus willen inakzeptabel sein. Irgendeiner Entität Geist oder Vernunft zuzuschreiben, die nicht selbst unmittelbar vernünftig, eine Art Subjekt gewesen wäre, hätte er als Hirngespinst verworfen. Was ihm absurd dünken mußte, trieb ihn zu größerer Absurdität. Der Kollektivgeist mußte ihm, wider Hegel, zum fait social, zu tatsächlichem Geist werden, zu einem Subjekt sui generis.
Paradox hat er ihn dadurch verdinglicht und jener magischen Ansicht sich selbst angenähert, deren Studium in seinen Schriften mehr und mehr dominiert. Die Insistenz auf sozialen Tatsachen schlägt in wilde Spekulation um, weil die disziplinierte, sich einbekennende und ihrer selbst mächtige Spekulation Hegels verdrängt ist. Der Wahlverwandtschaft mit diesem wirkt Durkheims Mangel an dialektischem Begriff entgegen. Die Verselbständigung des Sozialen wird von ihm registriert in eben der Unmittelbarkeit, in der sie dem deskriptiven Beobachter erscheint. Erstaunlich konsequenzlos für die Durkheimische Gesamttheorie bleiben Einsichten, die so nahe an der Dialektik sind wie: »Denn es ist dieses Aggregat, das denkt, fühlt, will, wiewohl es nur mittels des Einzelbewußtseins wollen, fühlen oder handeln kann.« (73) Freud hat die Genese des Numinosen primitiv-kollektiver Vorstellungen, von Tabu und Totem, entworfen; ungewiß, ob dazu seine am Individuum ausgerichtete psychologische Methode allein ausreicht. Die soziologische Durkheims aber versucht nicht einmal etwas Derartiges; die Theorie resigniert gleichsam zur Verdoppelung der von ihm so genannten kollektiven Gefühle. »Damit aber die moralischen Dinge in solchem Maße über jeden Vergleich erhaben sein können, müssen auch die Gefühle, die über ihren Wert bestimmen, diesen Charakter tragen; auch sie müssen über jeden Vergleich mit den anderen Bestrebungen des Menschen erhaben sein; sie müssen ein Prestige und eine Energie besitzen, die sie jenseits unserer Gefühlsregungen stellen. Dieser Bedingung entsprechen die kollektiven Gefühle. Gerade weil sie in uns das Echo der großen Stimme der Kollektivität sind, sprechen sie in unserem Bewußtsein in einem ganz anderen Ton als die rein individuellen Gefühle; sie sprechen von einer höheren Warte aus zu uns; aufgrund ihres Ursprungs haben sie besondere Kraft und besonderen Einfluß. Man begreift also, daß das, woran sich die kollektiven Gefühle heften, dasselbe Prestige genießt; daß es abgesondert ist und ebensoweit über den anderen Gefühlen steht, wie diese beiden Arten von Bewußtseinszuständen auseinanderliegen.« (112) Unterdessen hat die Geschichte die von Durkheim unterstellte Dignität solcher kollektiven Gefühle, bei ihrer Wiederkunft stets grauenhafter Regressionen, gründlich widerlegt. Den heiligen Charakter der Person bezieht Durkheim aus dem Bildungsschatz allgemein humanitärer Ideale, unbekümmert um sein historisches Schicksal: »Denn der Mensch, der solcherart zum Gegenstand der Liebe und der kollektiven Hochachtung wird, ist nicht das sinnliche, empirische Individuum, das jeder von uns ist, sondern der Mensch in seiner Allgemeinheit, die ideale Menschheit, so wie sie jedes Volk zu jedem Zeitpunkt seiner Geschichte begreift.«8 Was er als Ausfluß der kollektiven Gefühle deutet, und was er als nicht der Person immanent sondern als kollektiv eingebrannt durchschaute, wurde in den Konzentrationslagern vom Kollektiv liquidiert, ohne daß dessen Bewußtes oder Unbewußtes dagegen gar zu sehr aufbegehrt hätte.
Der Mangel an Dialektik im Durkheimischen Denken rächt sich an seinen eigenen Thesen bis in die formalsten Bestimmungen hinein. Er setzt, gewiß nicht ohne Wahrheit, die »Unpersönlichkeit« der wissenschaftlichen Vernunft ihrem Kollektivcharakter gleich (vgl. 130), vernachlässigt aber, woran die Philosophie einen ihrer großen Gegenstände hatte: daß jene unpersönliche Vernunft real wird nur im Bewußtsein menschlicher Individuen, und daß ihre Objektivität ebenso auf diese zurückweist, wie sie in ihnen nicht aufgeht. Der Einwand der Einseitigkeit, sonst billiges Etikett, um unbequem pointierte Theoreme loszuwerden, trifft Durkheim präzis: willentlich läßt er sich von der einen Seite des Sozialen, der kollektiven, so sehr imponieren, daß er die andere, individuelle, als ihrerseits soziale aus dem Blickfeld verliert und sie dann, abgespalten, als eben das Ewige verklärt, das sie gemäß seiner eigenen Erkenntnis ihres Vermitteltseins nicht ist. Nicht minder dogmatisch personalisiert er das Kollektiv: ausdrücklich heißt es bei ihm, »daß die Gesellschaft als eine Person betrachtet werden kann« (87). Die Belehnung des Kollektivsubjekts mit »Bewußtsein« erheischte zumindest, daß ein derart objektiver Begriff von Bewußtsein, eines ohne Bewußtsein also, in seiner Paradoxie artikuliert würde. Für den entfalteten Widerspruch ist bei Durkheim kein Raum; lieber wählt er nackte Mythologie.
Ungeschmälert bleibt sein Verdienst, daß er, wenngleich vergebens, durch seine Lehre vom Kollektivbewußtsein so energisch die Soziologie wider den vulgären Nominalismus impfte. Er hat, parallel zur Husserlschen Phänomenologie, den Begriff der Tatsache als der Einzeltatsache auf den Kopf gestellt. Das Motiv jedoch, das ihn dazu bewog, teilt sein übergeschlagener Positivismus mit dem gängigen subjektivistischen wie mit dem Pathos der offiziellen Philosophie: Aversion gegen den Materialismus. Nicht umsonst ist sein Objektivismus limitiert auf den Geist. Das Buch über Soziologie und Philosophie enthält zahlreiche Invektiven gegen den naturalistischen Materialismus, auch die üblichen Widerlegungen, welche die empirio-kritizistische Erkenntnistheorie der vulgär-materialistischen Interpretation geistiger Phänomene angedeihen ließ (vgl. 46 bis 48, auch 54 bis 57). Unter diesem Aspekt war sein Gegensatz zu Bergson keineswegs so radikal, wie er zu Lebzeiten der beiden erschien. An ihnen bewährt sich die Beobachtung Prousts, à la longue setze die Zeitgenossenschaft sich auch über schroff soziale Differenzen hinweg durch. Der großbürgerlich elegante homme du monde und die rechthaberische Koryphäe, in deren ethischen Vorstellungen Wohltätigkeit eine Hauptrolle spielt, rücken aneinander. Eines der Hauptthemen von beiden ist das Gedächtnis; möglicherweise darum, weil es bereits in ihrer Periode zu zerfallen begann; weil jener Verlust an Kontinuität des Bewußtseins sich abzeichnete, der heute akut ward (vgl. 48f.). Zuweilen findet man bei Durkheim Formulierungen, die man in Matière et mémoire erwartete: »Wenn das psychische Leben zu jedem Zeitpunkt ausschließlich in den momentanen Zuständen des klaren Bewußtseins besteht, kann man ebensogut sagen, daß es in Nichts zerrinnt ... Was uns lenkt, sind nicht die wenigen Ideen, die gegenwärtig unsere Aufmerksamkeit beanspruchen; es sind die Residuen, die unser bisheriges Leben hinterlassen hat.« (50f.) Durkheim mobilisierte als einer der ersten die nach dem Zusammenbruch des Idealismus neuromantisch auferstandene Lehre vom Vorrang des Ganzen vor den Teilen für restaurative Politik; danach ist solches herabgesunkene Kulturgut der geistigen Oberschicht Vulgärweisheit Othmar Spannschen Stils geworden, darin Anti-Individualismus, Antimaterialismus und Ganzheitskult ihre heilig-unheilige Allianz eingehen. Der Kultus des Kollektivs bei Durkheim mag in der Isoliertheit eines jüdischen Intellektuellen aus der Dreyfusperiode entspringen, dem soziale Diskriminierung und Outsidertum als konkrete Gestalt der contrainte sociale angetan wurden, und der, indem er beflissen in das antimaterialistische Geblök einstimmte, denen sich empfahl, die am Materialismus anderes fürchteten als theoretische Unzulänglichkeiten: heute noch schelten die Besitzenden mit Vorliebe die anderen materialistisch. Insgesamt fließt Durkheims Soziologie über von autoritären Elementen; den gleichen, die Marica mit klappernder Phrase den »Kampf um neue Bindung« genannt hat. Schwer ist dessen Konstatierung9 zu bestreiten: »Durkheims Tendenzen waren von vornherein auf eine Befestigung der Autorität gerichtet.« Das ständische Ideal beruflicher Korporation, das, anschließend an die Theorie der Arbeitsteilung, Durkheim wenigstens temporär vertrat, ist dafür der früheste Beleg. Autoritär hat Durkheim auch in der Sexualmoral die Sittlichkeit der Ehe gegen die Unsittlichkeit außerehelicher Beziehungen angepriesen. Der Kern der Sozialfunktion seines Antimaterialismus ist allerdings nicht ein Spiritualismus, dem sein eigener Chosisme in anderem Betracht keineswegs sich einfügt. Vielmehr hält das Motiv bei ihm bereits dazu her, das sozial Daseiende als sinnvoll zu vindizieren. Indem, vermöge des Primats des Ganzen, alles Einzelne, das daran partizipiert, über sich hinausweist, zeigt es sich tatsächlich, formaliter, als ›sinnvoll‹, insofern es jenes Ganze ausstrahlt. Daß solcher Sinn negativ: Ausdruck eines schlechten Ganzen zu sein vermag, wird nach Belieben eskamotiert. Durch die Wendung des das Einzelne durchherrschenden Ganzen in die bejahte Totale verschreibt Durkheim sich der Ideologie. Deutlich die Analogie zu der erst nach seinem Tod in Deutschland voll entfalteten psychologischen Gestalttheorie, so wenig er auch, außer in den nach seiner damaligen Terminologie »sozialpsychologischen« Anfängen, mit Psychologie zu schaffen haben wollte. In der Gestalttheorie wird ebenfalls nach positivistisch-wissenschaftlichen Spielregeln verfahren. Sie beobachtet experimentell das unmittelbar Gegebene, um in diesem an sich, unabhängig von den kategorialen Funktionen des Subjekts, Strukturen zu entdecken. Dadurch wird das Dasein, mit dem Schein der Unwiderleglichkeit, zum objektiv Sinnhaften, polemisch wider bloß subjektive Sinngebung durch den Erkennenden. Nicht zuletzt darum wollte Durkheim Verstehen so schroff aus der Soziologie verbannen, als Organon von Subjektivität jenes Typus, welcher das Ansichsein des Sinnes, Durkheims oberstes Interesse, negiert und potentiell die Gesellschaft samt ihrer Ordnung als sinnlos Chaotisches unterstellt. Dazu neigte Max Weber, obwohl und weil er vom deutschen Idealismus herkam. Seine Soziologie war darin aufgeklärter als die positivistische Durkheims, daß sie methodisch wie inhaltlich die Entzauberung der Welt bezeugte, während Durkheim und seine Schule mit den Mitteln einer nach ihrem Telos zurechtgestutzten Tatsachenforschung am Zauber wiederholend mitweben.
Im Antimaterialismus selbst harmonierte Durkheim mit Weber und mit der gesamten bürgerlichen Soziologie. Die Differenzen und Konvergenzen der beiden sind lehrreich. Gemeinsam ist ihnen vorab das Interesse an der Eigenständigkeit der Soziologie. Sie wird jedoch von beiden in umgekehrter Richtung gesucht. Bei Weber soll die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis durch die Verstehbarkeit sozialen Handelns als eines wesentlich Zweckrationalen verbürgt werden. Die zentrale Stellung der Kategorie der Rationalität bei ihm hat systematisch den Ursprung, daß die subjektive Blickrichtung seiner Soziologie – die durchschnittliche Erfolgschance sozialen Handelns, von der er ausgeht, ist eine subjektive Kategorie – durch den Begriff der ratio quasi objektiviert wird. Rationalität ist die subjektive Verhaltensweise, welche objektive Interpretation des sozialen Handelns über das psychologische Subjekt hinaus gestattet und Subjekte gesellschaftlich vergleichbar macht. Bei Durkheim dagegen wird zum eigentlich Sozialen und von der Psychologie Abgegrenzten gerade die Irrationalität der spezifischen faits sociaux, das, was ihre Übersetzung in subjektives Denken, schließlich auch ihre vernunftgemäße Zueignung verwehrt. An den Phänomenen, auf die seine Aufmerksamkeit sich konzentriert, etwa der Konstanz der Selbstmordziffern über gewisse Perioden hin, haftet ein eigentümlich Blindes, Opakes, insofern ›Irrationales‹. Seiner Konzeption ist nicht äußerlich, daß einer seiner berühmtesten Schüler, Lucien Lévy-Bruhl, Irrationalität, nämlich das nach seiner These prälogische Denken der Primitiven, als Denkform eigenen Rechtes zu konstruieren unternahm. Desto überraschender erscheint auch bei Durkheim, mit denselben Worten, Webers methodologisches Grundproblem, das von »Werturteilen und Wirklichkeitsurteilen« (vgl. 137ff.). Dabei verkehren sich die Positionen. Die verstehende Soziologie kritisiert Durkheim positivistisch; den sogenannten Werten gegenüber neigt er zu einer mit dem Idealismus, zumal Kant, weit kompatibleren Haltung als der Rickertianer Weber, in einfacher Konsequenz aus der normativen Hypostasis des Kollektivgeistes. Weber eifert wider die Werturteile in der Wissenschaft; Durkheim übernimmt die kollektiv sanktionierten Werte, setzt ihre Kollektivität ihrer Objektivität gleich und dispensiert sich damit von der Frage nach ihrer Möglichkeit in der Moral. Andererseits gehören die Analysen, die er selbst Wertproblemen widmet, in weitem Maß jenem Typus wissenschaftlicher Analyse von Wertbeziehungen an, den Weber duldet. Gegen Ende der Schrift über Soziologie und Philosophie kritisiert Durkheim sehr eindringlich den nicht namentlich erwähnten Weber: »Es gibt nicht eine Weise des Denkens und Urteilens für das Setzen von Existenzen und eine andere für die Bewertung.« (155) Er gelangt damit über die starre und schematische Scheidung wertfreier Erkenntnis und dezisionistischen Wertens hinaus, die Weber, Erbschaft des sonderbar vergegenständlichten und zugleich ans Subjekt gefesselten Wertbegriffs der südwestdeutschen Schule, behauptet. So triftig Webers Einspruch gegen den ideologischen Mißbrauch der historischen Wissenschaften für die offizielle Weltanschauung des Wilhelminismus bleibt, so wenig ist, philosophisch-erkenntnistheoretisch und für die soziologische Methodologie, die Trennung von Wert und Erkenntnis zu halten. Der Wertbegriff selbst ist eine heteronome Verdinglichung. Ihn zu bejahen oder zu verneinen partizipiert gleichermaßen am falschen Bewußtsein. Freiheit zum Objekt heißt in der gesamten Tradition von Aufklärung, Hegel Inbegriffen: Loslösung vom Wunsch als dem Vater des Gedankens. Zugleich aber steckt bereits im einfachen logischen Urteil, seinem Anspruch auf Wahrheit und auf die Verwerfung von Unwahrheit, konstitutiv jene Verhaltensweise, welche das Cliché den ihrerseits von ihrem Erkenntnisgrund abgespaltenen Wertungen zumißt. Denken, das die angeblichen Werturteile, wofern sie nicht ohne Begründungszusammenhang gefällt werden, verteufelt, stellt das dem Gedanken immanente kritische Moment still; Wertphilosophie, die nicht minder abstrakt ansichseiende Werte postuliert, überantwortet sich dem Dogmatismus. Zu entscheiden ist im konkreten Erkenntnisprozeß nicht durchs Verdikt über Werte oder ihre Setzung von oben her, sondern durch die Konfrontation der Sache mit dem, was sie von sich aus, ihrem Begriff nach zu sein beansprucht, also durch immanente Kritik. Durkheim hat der gleichen Vergegenständlichung der ursprünglich von der Ökonomie entlehnten Werte sich schuldig gemacht, die in deren Negation durch Weber supponiert ist. Das vor sechzig Jahren in der Soziologie kurrente Wertprobleme hat denn auch, weil es keiner blanken Alternative gehorcht, das Schicksal erlitten, das vielfach Aporien widerfährt; es wurde vergessen und wird nur noch gelegentlich subaltern, unter Anrufung von Notabeln, die mit dem Wertbegriff so oder so operierten, aufgewärmt, am liebsten zugunsten jener administrativen Dichotomie zwischen wissenschaftlicher Soziologie und kritischer Theorie der Gesellschaft, welche dem Impuls der Soziologie ebenso widerspricht wie dem Zug ihrer Erkenntnis. Reflektiert ist Durkheims Wertbegriff so wenig wie der der Wertfreien, vielleicht aus mangelnder Beziehung zur Ökonomie. Sie rächt sich an ihm in Sätzen wie: »Die Luxuswerte sind von Natur aus kostspielig.« (143) Erstaunlich, daß der, welcher als Repräsentant eines radikalen Soziologismus sich verstand, keine Notiz davon nimmt, daß gerade der ökonomische Wertbegriff längst als gesellschaftliches Verhältnis bestimmt, der Wert der Luxusgüter auf ein »natürliches Monopol« zurückgeführt war. Später freilich ändert Durkheim seine Meinung von den Luxuswerten: »Offensichtlich liegt es nicht an der inneren Natur der Perle oder des Diamanten, der Pelze oder der Spitzen, daß der Wert dieser verschiedenen Schmuckstücke mit den Launen der Mode sich wandelt.« (145) Nach der Division du travail überwiegt ein schließlich doch subjektivistischer Wertbegriff; über den Wert einer Sache befinde die conscience publique. Der durchschnittlich notwendigen gesellschaftlichen Arbeitszeit wird nicht gedacht. Subjektivistisch opfert Durkheim denn auch die Lehre von der Idealität der Werte; die Schrift über Soziologie und Philosophie verurteilt den Platonismus, dem er mehr als einmal sich genähert hatte. Den moralischen Wertbegriff hat er so wenig vom ökonomischen distinguiert wie die Relation von beidem erkannt.
So komplex wie sein Verhältnis zu Weber und Marx ist das zu Freud. Primär mochte er gewillt sein, der Psychologie grollend ihre Domäne zu lassen, wofern sie nur der Soziologie die ihre konzediert. Inakzeptabel wäre für den reifen Durkheim erst der tatsächlich problematische Anspruch des alten Freud gewesen, Soziologie sei angewandte Psychologie. Erstaunlicher als die selbstverständlichen Differenzen sind die Berührungen. Gleich Freud übernahm Durkheim von Pierre Janet, »daß viele Handlungen alle jene Symptome zeigen, ohne indes bewußt zu sein« (67). Seinem soziologischen Objektivismus war der Begriff des Unbewußten als Negation rationalistischer Ansichten von der sozialen Motivation trotz seines Bekenntnisses zu Descartes nicht unwillkommen. Dem korrespondiert, daß Freud, vom rechten Flügel seiner Nachfolger zu schweigen, das Es als prä-individuell, dem Ich vorgängig beschreibt und in seinem Kern als kollektive Erbschaft; darin berühren sich die Extreme. Freudisch klingt Durkheims Beobachtung: »Wir meinen, jemand zu hassen, während wir ihn lieben, und die Realität dieser Liebe offenbart sich in Handlungen, deren Bedeutung für einen Dritten außer Zweifel steht, in eben dem Augenblick, da wir uns unter dem Einfluß des entgegengesetzten Gefühls wähnen.« (68) Durchweg reichen die Zurechnungen von Denkern zu Schulen und großen Richtungen nicht an die Fiber ihrer Theorien heran. Durkheims antipsychologische Soziologie dürfte ihrerseits an Psychologie sich gebildet haben: »Auf beiden Seiten aber ist man sich darin einig, daß man im psychischen Leben nur einen dünnen Vorhang von Phänomenen zu sehen hat, der den einen zufolge für den Blick des Bewußtseins transparent ist, den anderen zufolge jeglicher Kohärenz ermangelt. Neue Erfahrungen aber haben uns gezeigt, daß es vielmehr als ein verzweigtes System von Realitäten sui generis begriffen werden muß, das aus einer großen Zahl sich überlagernder geistiger Schichten besteht und viel zu tief und viel zu komplex ist, als daß die bloße Reflexion hinreichte, seine Geheimnisse zu ergründen; viel zu speziell, als daß rein physiologische Erwägungen ihm Rechnung zu tragen vermöchten.« (81) Durkheim und Freud sind d'accord gegen den physiologischen Vulgärmaterialismus. Dem Durkheimschen Kollektivbewußtsein werden dieselben Attribute angeheftet wie dem Freudschen Überich. Verwarf die Freudische Schule in der Folge das Überich keineswegs so, wie sie einmal sich anschickte, so leitete sie dabei ein Begriff des gesellschaftlich Produktiven, den Durkheim gebilligt hätte. Dieser behandelte, wie Freud in Totem und Tabu, Inzestverbot, Exogamie und Totemismus. Das Nachleben des Totemismus in der Moderne entging ihm nicht. Dem hat er einen soziologischen Aspekt abgewonnen, der erst beim späten Freud relevant ward, die Gefährdung fester Ordnung des Eigentums und damit der Gesellschaft durch Lockerung des Inzestverbots. Freud sowohl wie Durkheim sind darauf verfallen, Verhaltensweisen und Institutionen derer, die von nun an Primitive genannt wurden, als Schlüssel für Regressionsphänomene der zeitgenössischen Gesellschaft zu benutzen. Diese korrespondieren sowohl unterm Gesichtspunkt der Neurose wie des kollektiven Zwangs Verhaltensweisen von Naturvölkern; jedenfalls ist die Entwicklung der cultural anthropology, die dergleichen Tatbestände gerade an der auf ihre Errungenschaften stolzen Hochzivilisation herausarbeitet, dem reifen Durkheim und seiner Zeitschrift soviel schuldig wie Freud.
Die kulturkritischen Tendenzen allerdings, die noch im Freudschen Untertitel »Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker« anklingen, liegen Durkheim überaus fern. Der Zwang, den Freud in einem Neurosetyp aufdeckte, und den die Psychoanalyse zumindest ihrer ursprünglichen Absicht nach brechen wollte, wird von Durkheims Theorie verteidigend umgewertet. Es kostet ihn alle Anstrengung, nicht-konformierendes Verhalten der Möglichkeit nach mit seinen Prinzipien in Einklang zu bringen (vgl. 114f.). Soweit er herrschende Moral kritisiert, geschieht es einzig, weil sie dem Kollektivbewußtsein, »dem wirklichen Zustand der Gesellschaft nachhinkt« (88); suspekt ist ihm, nach einem dann in Amerika allgegenwärtigen Schema, das nicht hinlänglich Angepaßte, nie Anpassung selber. Wo er sich gedrängt fühlt, dem Nichtkonformierenden das Seine zu geben, wird zur Rechtfertigung ungebrochen an die gleiche Kollektivität appelliert, die zur Kritik steht. »Zeigte beispielsweise die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu irgendeinem Zeitpunkt die Tendenz, die geheiligten Rechte des Individuums aus den Augen zu verlieren, könnte man sie dann nicht mit Autorität zurechtweisen, indem man sie daran erinnerte, wie sehr die Achtung vor diesen Rechten mit der Struktur der großen europäischen Gesellschaften, mit unserer ganzen Gesinnung verbunden ist, und daß die Verneinung dieser Rechte unter dem Vorwand sozialer Interessen der Verneinung der wesentlichsten sozialen Interessen gleichkommt?« (115) In solchen Passagen geht Durkheims Identifikation mit dem Kollektiv so weit, daß er, wo es seinem dialektischen Gegenpol, dem Individuum ans Leben will, es verabsolutiert, weil seine Erhaltung sozial gefordert sei. Fazit seines Kollektivismus ist die Auferstehung der fragwürdigsten Lehre von Hegels metaphysischer Rechtsphilosophie: »Doch wie dem auch sei, wir können nach keiner anderen Moral streben als nach der, die unser (!) Gesellschaftszustand erfordert.« (116) Als ob nicht ›Moral‹ den Gesellschaftszustand selbst angreifen könnte. Seine Empfehlung verschmilzt er ideologisch mit der Hypostasis des Geistes: »Wer aber könnte bestreiten, daß die Menschheit seit jeher die künstlerischen und spekulativen Werte weit über die ökonomischen gestellt hat?« (143) Das Gegenteil ist wahr; bürgerlich ist der Vulgärmaterialismus. Durkheim selbst gebraucht denn auch den Begriff der gesellschaftlich nützlichen Arbeit schlicht so, wie er in der bürgerlichen Gesellschaft als Norm fungiert, ungedenk des Marxischen Spottes darüber. Marica unterstreicht den Satz aus der Division du travail: »›Mets-toi en état de remplir utilement une fonction déterminée‹ (S. 6).«10 Durkheims soziologischer Objektivismus stiftet Sympathie mit Verdinglichung und verdinglichtem Bewußtsein. Eigentlich erkennt er keine Einspruchsinstanz gegen das sozial Sanktionierte an als die sanktionierende Gesellschaft selbst. Keiner großen Phantasie bedarf es, sich auszumalen, wie ihr Richtspruch ausfällt.
Mehr noch als im gesellschaftlichen Inhalt seiner Lehre manifestiert sich Durkheims Konformismus im Habitus seines Denkens. Der selbst Spekulative verficht in einem Maß Kontrolle durch Methode wie erst nach Jahrzehnten wiederum die Wissenschaft Soziologie. Seine inhaltlichen Grundthesen, denen Kategorien wie die des Chosisme und der contrainte sociale angemessen sind, übersetzt er in Methodologie. Das verschaffte den Adepten das Gefühl, auf unbedingt festem Boden sich zu befinden. Oft wirkt in Wissenschaften weniger der spezifische Wahrheitsgehalt als rigorose Vorschriften. Ihr autoritärer Habitus schweißt die Schule zusammen und schüchtert die Öffentlichkeit ein. Starre Anweisungen lassen ohne viel Risiko und Spontaneität sich anwenden. Unter den Mechanismen der Konformität wissenschaftlichen Denkens dürfte der Zwang von Methode auf Kosten des Inhalts an erster Stelle rangieren. Das Gefühl der Insekurität, in dem reale individuelle Existenzangst und die Ungedecktheit nicht reglementierter geistiger Erfahrung sich mit dem vorbewußten Wissen von dem sich schürzenden gesellschaftlichen Unheil verbinden, wird in vielen beschwichtigt durch die übertriebene und vergötzte zweifelsfreie Gewißheit des Descartes. Weil Erfahrung sie nicht zerrütten könne, werden reinlogische Formen und Methoden in all ihrer Kälte aufs äußerste affektiv besetzt, ohne Rücksicht darauf, daß das absolut Gewisse dadurch zum Nichtssagenden zusammenschrumpft. Das Kriterium des Unbestreitbaren, eines Eigentums, das einem nicht soll entrissen werden können, rückt an die Stelle des Gewichts der Einsicht; ihre Mittel, eben die Methode wird zum Selbstzweck, gemäß einer gesellschaftlichen Gesamttendenz, die dem Für anderes, dem Tauschwert, den Primat über jegliches An sich, jeglichen Zweck verschafft. Trotz aller Bekenntnisse zur Empirie wird neuer, der Erfahrung entstammender Inhalt als Störenfried der Methode empfunden. Ihn wehrt man ab, indem man jene mit puritanischer Reinheitswut exekutiert: um keinen Preis darf etwas methodisch inkorrekt und darum potentiell falsch sein, wenngleich nichts Relevantes anders sich erkennen läßt als in einem Denken, das auch falsch sein könnte. So legitim Methode als Gegenmittel gegen unkritisches Drauflosdenken bleibt, sie wird selbst zum Falschen, sobald sie, bestimmbar, der Wechselwirkung mit dem Gegenstand sich entäußert und sich nach ihren eigenen Maßstäben unverrückbar einrichtet, anstatt in dem sich zu reflektieren, worauf sie geht. Dann nimmt sie etwas Verfügendes, Willkürliches, Beliebiges an, das grell absticht von dem Sekuritätsideal, ihrer Norm. Fragte man den Durkheim der Règles, warum man alle sozialen Tatsachen als Dinge behandeln soll, während es doch offensichtlich soziale Tatsachen nichtdinghaften Charakters: Beziehungen zwischen Menschen, Funktionszusammenhänge, Entwicklungstendenzen gibt, so müßte er die Antwort schuldig bleiben und sich aufs Ideal der Methode selbst, als einer von Geschichte, Ökonomie, Psychologie reinlich abgesonderten, zurückziehen, in einfachem Zirkel. Der von der Methode gering geschätzte Inhalt kehrt verzerrt wieder in Monstrositäten, ohne die keine Theorie jenes Typus auskommt und ohne den sie kaum zum Faszinosum würde; bei Durkheim ist es das Kollektivbewußtsein, an dem alle Qualitäten festgemacht werden, welche die quasi-naturwissenschaftliche Methode sonstwo beseitigt hat; solche Konfiguration des Rigorosen und des Skurrilen produziert das Klima der Sekte. Sie entspringt in der Not begriffsloser Empirie selber: ihr zuliebe entwertet Durkheim den Begriff als flatus vocis und bedarf seiner doch, um überhaupt etwas zu erkennen. Thesen, die ihrerseits nur Spiegelungen der Methode und darum abwegig sind, schmuggeln den objektiven Begriff wieder ein. Erst durch Arbeitsteilung werden die Forschungsgegenstände Durkheims zu rein soziologischen gemacht; an sich enthalten sie andere Dimensionen als die in der Definition der faits sociaux ausgedrückten; darüber konnte auch er schwerlich sich täuschen. Das besondere Cachet des Inhalts seiner Lehre, die Vorgängigkeit des Kollektivbewußtseins, ist eins mit dem methodologischen Anspruch, Soziologie dürfe nichts sein als Soziologie. Indem die Methode sich desinteressiert an gesellschaftlicher Erfahrung, die nicht dem von ihr gesetzten Begriff der sozialen Tatsache genügt, wird übergegangen zum Phantasma von der schlechthinnigen Selbständigkeit des Kollektiven. Manches freilich spricht dafür, daß das Verhältnis beider Momente von Durkheim verkehrt ward; daß er den Primat der Methode, den er aprioristisch darstellt, nach seiner inhaltlich apologetischen Absicht modelte.
Subjektiv äußert sich die Überwertigkeit der Durkheimschen Methode in jener Pedanterie, deren auffälligstes Exempel die Klassifizierung der drei Arten des Selbstmords als der altruistischen, egoistischen und anomischen abgibt. Durkheims intellektueller Gestus schließt Daumen und Mittelfinger zu einem Kreis zusammen und vollführt mit diesem hackende Bewegungen. Sein Lehrvortrag erstickt durch aufzählende Systematik jede Möglichkeit des Ausweichens oder der Ergänzung, schlägt Widerstand nieder. Er hat sich, wohl in Abwehr des zu seinen Lebzeiten gegen ihn erhobenen Vorwurfs eines sturen Positivismus, zum französischen Rationalismus bekannt. Tatsächlich lesen seine Schriften sich zuweilen wie Parodien des Cartesianischen Discours de la méthode. Umständlich ausgeführt werden Zwischenglieder, deren es, innerhalb der Komplexion der gedanklichen Motive, nicht bedürfte; Zeitgenossen Durkheims, die sonst so verschieden von ihm sind wie Simmel, verfuhren analog. Was dem Chemiker ziemt, der seine Reagenzgläser von minimalen Spuren aller Substanzen säubern muß, die nicht zur Versuchsanordnung gehören, wird zum Brimborium dort, wo es keine Reagenzgläser und keine Versuchsanordnung gibt und wo die diskreten Elemente, auf die rekurriert wird, ihrerseits Abstraktionen sind. Nicht minder wahnhaft wird das Cartesianische Postulat der Lückenlosigkeit, sobald der Gegenstand nicht dem Modell eines deduktiven Zusammenhangs entspricht, aus dem bündig die Einzelerkenntnisse folgten, und ebensowenig, wie Durkheim selbst betont, dem von Details, von denen man kontinuierlich zum Ganzen fortschreiten könnte. Reflexion auf das Verhältnis der soziologischen Methode zur Sache war, nach dieser Dimension, Durkheim gleichgültig. Pedanterie ist Methode, die keine solche Reflexion duldet: Stetigkeit des wissenschaftlichen Verfahrens ohne Rücksicht darauf, ob der Gegenstand sie erlaubt oder erheischt; Allergie vollends gegen Denken, das die Möglichkeit von Diskontinuität, gar von Widersprüchen in der Sache erwägt. Durkheims beträchtliches Niveau hindert ihn nicht daran, Sätze über die Feder zu bringen vom Typus: »Im Augenblick brauchen wir diese im übrigen sehr plausiblen Hypothesen nicht zu erörtern, da sie den Grundsatz, den wir aufstellen möchten, nicht berühren.« (69) Er bereits zeigt Symptome jener wissenschaftlichen Haltung, die sich etwas darauf zugute tut, daß sie vor keiner Banalität zurückschreckt. »Einstige Pflichten haben ihre Macht eingebüßt, ohne daß wir schon deutlich oder zuverlässig zu sehen vermöchten, welches unsere neuen Pflichten sind. Divergierende Gedanken scheiden die Geister. Wir stehen in einer Periode der Krise. Daher kann es nicht verwundern, daß wir die moralischen Regeln nicht so zwingend empfinden wie in der Vergangenheit; sie können uns nicht so erlaucht erscheinen, da sie zum Teil nichtexistent sind.« (124f.) Oder: »Die moralische Wirklichkeit stellt sich uns unter zwei verschiedenen Aspekten dar, die deutlich voneinander zu trennen sind: dem objektiven und dem subjektiven Aspekt.« (90) Insistiert wird auf Definitionen, als hätte nie große Philosophie das definitorische Verfahren kritisiert; auch von dem, was Durkheim moralische Wirklichkeit nennt, heißt es bündig, »man muß sie definieren« (92). Während nach dem herrschenden Vorurteil der Geist der Wissenschaft die Philosophie von Vorurteilen und Mythologemen reinigte, verhält es sich in praxi eher umgekehrt: Kategorien, die in der philosophischen Besinnung so problematisch geworden sind wie die der Definition, werden von den Einzelwissenschaften weitergeschleppt, als verbürgten sie Wissenschaftlichkeit. Keiner vollends ist so versessen aufs Definieren wie der Amateur. Pedantisch klingt erst recht, was der Pedanterie sich zu entziehen anschickt; der feiertäglich gehobene, poetisierende Ton als Komplement des kleinlich Alltäglichen. »Namentlich die menschliche Person zeigt sich unter diesem doppelten Aspekt. Einerseits flößt sie uns bei anderen ein religiöses Gefühl ein, das uns von ihr entfernt. Jeder Übergriff auf die Domäne, in der sich die Person eines unserer Mitmenschen rechtmäßig bewegt, erscheint uns als Sakrileg. Sie ist gleichsam von einem Heiligenschein umgeben, der sie absondert.« (100) Zweifel am Heiligenschein der Privatperson selbst im Frankreich vor dem Ersten Krieg hätten dem positivistischen Soziologen am ersten angestanden. Dessen Haltung dafür ähnelt zuweilen der Doréscher Parlamentsredner. »Das also ist – soweit sie im Verlauf einer Aussprache dargelegt werden kann – die allgemeine Konzeption der moralischen Tatsachen, zu der mich meine etwas mehr als zwanzigjährige Forschungsarbeit über diesen Gegenstand geführt hat.« (117) Wenige dürften schlagendere Belege für die Affiliation von wissenschaftlichem Scharfsinn und Borniertheit liefern als Durkheim; der Lobredner der Arbeitsteilung war deren Opfer. Flaubert hätte Prachtstücke seiner Dokumentensammlung bei ihm gefunden. Zur Borniertheit passen logische Fehlleistungen; wer Durkheim mit dessen eigener Pedanterie läse, könnte ihm oftmals genüßlich non sequitur an den Rand schreiben. Gewäsch, die sprachliche Erscheinung des Dummen, wird gezeitigt von der Pedanterie, die auf nichts verzichten mag, was sie der Vollständigkeit wegen für erfordert und kraft der eigenen Autorität für erlaubt erachtet. Zuweilen läßt bei Durkheim die geheime Dummheit der Logik selber sich spüren; so in dem nach seiner Theorie ganz folgerechten Satz, den auch heutzutage manche Philosophen riskierten: »Eine andere Moral wollen, als die der Natur der Gesellschaft innewohnt, heißt die Gesellschaft verneinen und somit sich selbst verneinen.« (88) Den Gedanken, diese Konsequenz sei gar nicht so schreckhaft; kritische Reflexion auf die Gesellschaft brauche auch vorm Individuum, auch vorm je Redenden nicht zu verstummen, hat Durkheim sich nicht gestattet. Psychologisch ist zu argwöhnen, hinter seiner Pedanterie stünde Berührungsangst; in manchen Wendungen offenbart sie sich ungewollt. Der Pedant ergeht sich über die mißlichen Folgen der Verletzung einer Regel: »1. Die einen ergeben sich mechanisch aus dem Akt der Verletzung. Verletze ich diejenige Regel der Hygiene, die mir Vorsicht vor gefährlichen Berührungen gebietet, dann zeigen sich die Folgen dieser Handlung automatisch, zum Beispiel in der Krankheit.« (93) Antipsychologismus braucht nicht so objektiv wissenschaftlich fundiert zu sein, wie er sich geriert; und Berührungsangst gehört zum autoritätsgebundenen Syndrom. Fruchtbarer jedoch, Durkheim auf sein eigenes Feld zu folgen und Pedanterie, auch die seine, als fait social zu analysieren.
Die auf dem Theater von Molière bis zum Notar des Rosenkavaliers heimische Figur des Pedanten macht, nach dem Hinweis von Franz Walter Müller, ihren Auftritt während des Humanismus, also nachdem gesellschaftlich und in der geistigen Reflexion gesprengt war, was man retrospektiv, die vordem schon waltenden Spannungen vernachlässigend, dem Begriff des mittelalterlichen ordo zu subsumieren sich gewöhnt hat11. Viel früher bereits, im späteren Hellenismus, mag der Pedant, und die Kritik an ihm, visiert worden sein; so in Senecas Klage darüber, daß anstelle dessen, was einmal »unsere Philosophie« gewesen sei, die Philologie trat. Fraglos verlockt die philologische Versenkung ins Wort, die des produktiven Blicks fürs Kleinste bedarf, zur Pedanterie, wann immer mikrologische Betrachtung nicht den hermeneutischen Funken aus dem Detail zu schlagen vermag: mit dem Verlust objektiv-theologischen Sinnes nimmt die Chance dazu fortschreitend ab. Keineswegs indessen ist Pedanterie auf die philologische Sphäre eingeschränkt. Ebensoviel Anteil an ihr hat die juridische, das, was man später den Pandektenstaub taufte. Durchweg exponieren geistige Vermittlerberufe sich dem Verdacht des Pedantischen, die irgend an Gesetztes, Vorgegebenes sich halten und vom Monopol leben, daß man es gelernt hat. Der Pedant ist ein Archetyp der bürgerlichen Gesellschaft. Unvereinbar mit dem Habitus von Freiheit und Ungebundenheit, den der Feudalherr sich erlaubt, kontrapunktiert er zugleich den expansiven bürgerlichen Unternehmertypus, der doch wiederum seiner bedarf als der imago der Spielregeln, welche der Geist des Kapitalismus einhalten muß. Pedanterie vertritt dessen apologetisches Moment: auf scheinrationale Weise möchte sie Institutionen und Denkweisen der geschlossenen Gesellschaft von einst konservieren. Sie drückt den horror vacui des zur Macht aufsteigenden Bürgertums aus. Es hat das Bild des Offenen zugleich gewonnen und verneint, ahnend, daß es über seine eigene, noch gar nicht voll realisierte Form hinaustreiben müßte; nur als noch nicht verfestigte bringt sie jenes sie gefährdende Bild hervor. Der Pedant, der die Kraft, die ins Offene drängt, daran wendet, das Offene zu vermauern, gehorcht dem Gesetz des Kapitalismus, demzufolge dieser vermöge des Tauschprinzips, des stets wieder aufgehenden Saldos von give and take trotz all seiner Dynamik zugleich statisch verharrt. Sein Verhalten ist nicht minder kontradiktorisch in sich. Er klammert sich an die Ordnung, welche von seiner eigenen Vernunft aufgelöst ward, und nutzt sein Mittel, Rationalität, zugunsten von deren Widerpart: irrational Gewordenes verficht er mit der ratio. Diese, das formale Prinzip bürgerlichen Wirtschaftens, wird von ihrem formalen Wesen zum Dienst auch an den statischen Normen und vorgegebenen Verhältnissen befähigt, deren Basis zu zerstören sie geholfen hatte. Pedanterie ist exemplarisch dafür, wie Ideologien langsamer sich umwälzen als die materielle Realität. Weil aber ratio ihr paradox restauratives Werk aus eigenem nicht zu vollbringen vermag, wird der Modus ihrer Verfahrungsweisen überwertig, seinerseits irrational. Geschichtsphilosophisch ist der Pedant das Seitenstück des bourgeois gentilhomme. Weitet dessen Vernunft durchs Vorbild ihres Gegenspielers in Einbildung sich aus, so verkümmert die des Pedanten zu nicht weniger pathogener Enge. Das Zwangshafte seines Charakters und seines Verhaltens rührt her von der Vergeblichkeit seiner Bemühung: in mechanischer Wiederholung wird sie stets wieder auf sich zurückgeworfen. Techniken, in denen Rationalität sich ausformte: bürgerliche Rechnungslegung, korrekter Kalkül werden zum Selbstzweck, als ob sie von sich aus das wären, was, dem eigenen Begriff nach, Denken erst begreifen will. Pedanterie antezipiert die universale Verzauberung von Mitteln in Zwecke, die am Ende der bürgerlichen Phase in destruktiven Wahn umschlägt. Sie ist begriffsrealistische Gesinnung im Stande des Nominalismus; fetischisiert die Wissenschaft und modelt sie zunehmend nach ihrer eigenen Fratze. Krampfhaft mutet sie der abgesprengten und verselbständigten subjektiven Vernunft, der Methode, die Kraft zu, objektive Ordnung zu setzen, ohne deren Begriff kritisch zu reflektieren. So weit blieb das bürgerliche Denken seinem Cartesianischen Urphänomen treu. Weder objektiver Ordnung mächtig noch fähig, sie zu transzendieren, verlangt es ein Unmögliches sich ab. Von Veranstaltung wird erhofft, was die Gegenstände der Erkenntnis von sich aus nicht gewähren; Wissenschaft, die, wie man so sagt, im neueren Zeitalter anstelle der Theologie sich installiert, ahmt diese mit hohl gewordenem Ritual nach und artet in magisches Brimborium aus.
Durkheim zeichnet den Zwangscharakter der Gesellschaft fasziniert auf und erniedrigt sich zu dessen Lobredner. Er projiziert den eigenen Zwangscharakter auf die Welt als Surrogat ihres abwesenden Sinnes. Das Freudische anale Syndrom, mit hypertropher Pedanterie, Sauberkeit, Zwangshaftigkeit und mit autoritärem Gehabe, war aber kein privater Defekt sondern der bürgerliche Charakter par excellence, Deformation seine apriorische Regel. Denn wie vordem die feudale ist die bürgerliche Gesellschaft, trotz ihrer rationalen Verfahrungsweisen, hilflos ihren eigenen Bewegungsgesetzen überantwortet, so wie Durkheim begeistert es ihr attestiert. Ihrer Praxis, in gewissem Maß auch ihrer Theorie ist das Wesentliche verstellt, das ihre Einrichtung trügend verheißt. Darum überträgt der pedantische Geist die dem Wesentlichen gebührende und davon abprallende Libido aufs Unwesentliche. Seine Vergeblichkeit ist Abguß der Vergeblichkeit der bürgerlichen Gesellschaft: ihrer Unfähigkeit, jener Verein freier Menschen zu werden, dessen Idee ihr gleichwohl teleologisch innewohnt. Schließlich tritt das schroff hervor. Dürfte man, mit arger Simplifikation, aber nicht ohne Wahrheit, Positivismus im weitesten Sinn den Primat der Methode von Erkenntnis über das zu Erkennende nennen, so wäre er die Rationalisierung der Not des Bewußtseins, welche zur Haltung des Pedanten geführt hat; Pedanterie neigt allemal zum Rationalisieren. Positivismus birgt, was er um jeden Preis verleugnet, Irrationalität. Indem er virtuell Philosophie durch Wissenschaft kassiert, unterschiebt er Pedanterie als Ideal. Die Selbstbesinnung, durch welche Philosophie die Wissenschaften überstieg, schneidet er ab, so wie, prototypisch, Hume Kausalität und Ich leugnete und doch, wie ihm bündig zu demonstrieren ist, in seiner Argumentation voraussetzt. Solcher Mangel an Selbstbesinnung terminiert im Denkverbot. Sieht sich jedoch der Positivismus veranlaßt, auf die eigenen, der Wissenschaft unbesehen entlehnten und in solcher Übernahme versteinerten Spielregeln zu reflektieren, so muß er nicht nur an diesen rütteln, sondern verwickelt sich unweigerlich aufs neue in die Fragen, von denen er, als philosophischen und metaphysischen, das Denken säubern wollte, bis Denken dem Säuberungsprozeß selbst erlag.
Den Unterton des Pedantischen hat das Programm der Durkheimschen Schrift, die es sich vorsetzt, eine »Spezialwissenschaft von den moralischen Tatsachen« als »soziologische Wissenschaft« (128) zu skizzieren. Der Spezialisierungsbegriff wird auf jenen Bereich übertragen, unter dessen Gegenständen doch Kritik von Spezialisierung selber sich findet; Ethik auf just die positive Wissenschaft nivelliert, von der sie kraft der Antithese des Seinsollenden zum Seienden einmal sich scheiden wollte. Das Vertrackte, Antinomische des Versuches ist von Durkheim nicht zu verschleiern. Er hält an der normativen Struktur des Moralischen trotz dessen empirischer Herkunft fest. Dem widerspricht offen seine positivistische und antidialektische These, Entsprungenes müsse seinem Ursprung gleichen. »Da es« – das ›kollektive Leben‹ – »aus ihr« – der ›übrigen Welt‹ – »hervorgeht – denn woher käme es sonst? –, tragen die Formen, die es in dem Augenblick aufweist, da es sich von ihm löst, und die infolgedessen Grundformen sind, zweifellos das Kennzeichen ihres Ursprungs« (78) – ein Reduktionismus, der die von Durkheim verteidigte Selbständigkeit des Moralischen desavouiert. Der Begriff der moralischen Tatsache selbst ist latent paradox: etwas wird zum Gegebenen, bei Durkheim zum fait social, was dem eigenen Anspruch nach mehr als bloß gegeben sein möchte und was, sobald es doch nichts anderes sein soll, seinen emphatischen Anspruch einbüßt. Wohl war jene Paradoxie auch Kant nicht so fremd wie der anti-empirische Zug der Kritik der praktischen Vernunft vermuten läßt. Demgemäß solidarisiert sich Durkheim mit Kant: »Es soll gezeigt werden, daß die moralischen Regeln mit einer besonderen Autorität ausgestattet sind, kraft derer sie befolgt werden, weil sie gebieten. Auf diese Weise werden wir mittels einer rein empirischen Analyse auf den Begriff der Pflicht stoßen und diesem eine Definition geben, die der Kantischen sehr nahekommt. Die Obligation bildet also eines der ersten Merkmale der moralischen Regel.« (85) Die »Obligation« ist das Äquivalent der »Nötigung« aus der Kritik der praktischen Vernunft. Nur leitet der Positivist Durkheim daraus bedenkenlos ab, wozu überzugehen der transzendentale Idealist, der lieber den Widerspruch in Kauf nahm, sich weigerte: das Intelligible wird bei Durkheim, vermöge seines Charakters von »Faktizität«, den in gewissem Sinn auch Kant einräumt, auf die Empirie eingeebnet. Jede Moralregel ist ihm zufolge sozial entsprungen: »Dieser Heiligenschein, der den Menschen umgibt und ihn vor frevelhaften Eingriffen schützt, eignet dem Menschen nicht von Natur aus; er ist die Art und Weise, in der die Gesellschaft den Menschen denkt, die nach außen projizierte und objektivierte Hochachtung, die sie ihm gegenwärtig entgegenbringt.« (113) Zugleich aber werden jene Normen von Durkheim, eben als »geheiligt«, vindiziert. Die Beziehung zu Kant bleibt bloße Ähnlichkeit im Deskriptiven. Der zentrale Begriff von dessen Moral, Autonomie, entfällt. Evident wird das an der sozialen Kategorie, die bei Durkheim das Zentrum von Moralität erobert, der der Sanktion. Sie »ist eine Folge der Handlung, die nicht aus dem Inhalt der Handlung resultiert, sondern daraus, daß die Handlung einer bestehenden Regel nicht entspricht. Weil es eine vorher gesetzte Regel gibt und die Handlung einen Akt der Rebellion gegen diese Regel darstellt, zieht diese Handlung eine Sanktion nach sich.« (94) Konträr zu Kant ist danach die moralische Regel und, wie man interpolieren dürfte, das Sittengesetz selbst, der Vernunft des einzelmenschlichen Bewußtseins von außen vorgegeben, nicht dessen Eigenes, sondern heteronom. Wohl geht Durkheim von dieser Position nicht, nach dem Usus seiner Epoche, zum moralischen Relativismus über. Dafür setzt bei ihm Moralität, als der formale Inbegriff des sozial Sanktionierten, dem Individuum und seinem Bewußtsein unvermittelt, nach Kantischer Sprache dogmatisch, sich entgegen. Die Kantische Moralphilosophie kennt unter den Pflichten des Individuums auch die gegen es selbst, ohne sie freilich zu verabsolutieren. Durkheims Moral, dem »altruistischen Selbstmord« geneigt, duldet das Prinzip des sese conservare seinerseits einzig als Mittel zum Zweck. »Zunächst wird man wahrscheinlich nicht in Abrede stellen, daß das moralische Bewußtsein noch niemals eine Handlung als moralisch angesehen hat, die ausschließlich auf die Selbsterhaltung des Individuums zielte; zwar kann ein solcher Akt der Selbsterhaltung moralisch werden, wenn ich mich für meine Familie oder für mein Vaterland erhalte; erhalte ich mich jedoch nur für mich selbst, dann entbehrt mein Verhalten in den Augen der Allgemeinheit jedes moralischen Wertes.« (102) Die »Augen der Allgemeinheit«, auf die Durkheim sich beruft, sind seine eigenen. Er bestätigt Gewordenes, trotz der Einsicht in seine Gewordenheit, um seines so und nicht anders Gewordenseins willen. Aber gerade wo er so schutzlos der Kritik sich preisgibt, erreicht er, im Gegensatz zum Reduktionismus, zur These, Entsprungenes müsse seinem Ursprung gleichen, die Einsicht in die Verselbständigung der gewordenen Qualität und virtuell die in ihr gegenüber dem Ursprung Anderes. Außerordentlich die Erkenntnis: »Zweifellos kann man unmöglich verstehen, wie der griechische oder der römische Götterhimmel entstanden ist, wenn man nichts über die Bildung der Polis weiß, über die Art, wie die primitiven Clans allmählich miteinander verschmolzen sind, wie die patriarchalische Familie sich organisiert hat etc. Andererseits aber hängt die üppige Vegetation der Mythen und Legenden, alle jene theologischen und kosmologischen Systeme etc., die das religiöse Denken errichtet, nicht unmittelbar mit den bestimmten Eigentümlichkeiten der sozialen Morphologie zusammen. Daß man den sozialen Charakter der Religion so oft verkannte, liegt daran, daß man glaubte, sie entstehe zum größten Teil unter der Wirkung außersoziologischer Ursachen, da man kein unmittelbares Band zwischen religiösen Glaubensinhalten und der Organisation der Gesellschaft bemerkte.« (79) Durkheim wird des Doppelcharakters von Geist gewahr: daß er, gesellschaftlich entsprungen und Moment innerhalb des gesellschaftlichen Lebensprozesses, in der gesellschaftlichen Dynamik dem Dasein, auf das er ihn sonst geflissentlich reduziert, als Neues gegenübertritt und nach eigener Gesetzmäßigkeit sich entfaltet. Der Tatbestand ist entscheidend etwa für die Ästhetik; darüber hinaus maßgebend für jede Ideologienlehre, die nicht in der These von der Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein sich erschöpfen will und darüber den Unterschied richtigen und falschen Bewußtseins eskamotieren. Durkheim hat denn auch inauguriert, was später als Branche Wissenssoziologie sich einrichtete, und Bewußtseinsformen wie Raum, Zeit, Kausalität aus der Gesellschaft, und zwar der Ordnung des Eigentums abgeleitet. Er beeindruckte damit vermutlich auch deutsche Wissenssoziologen wie Mannheim und Scheler weit nachdrücklicher, als allgemein bekannt ist. Jedenfalls übertrafen seine Theoreme durch Fülle der Belege weit die Doktrin Paretos von den Residuen und Derivationen, den ersten ausdrücklichen Entwurf dessen, was dann totaler Ideologiebegriff hieß. Der Zirkel, in den Durkheim dabei gerät: daß seine Deduktionen von Erkenntniskategorien diese offenkundig zugleich voraussetzen, zergeht erst der dialektischen Logik. An den fortgeschrittensten Stellen seiner Spekulation indessen blitzt die Möglichkeit auf, daß das Wahre gesellschaftlich vermittelt sei, ohne daß Wahrheit darüber zerginge. Er formuliert mit Rücksicht auf die Freiheit: »Die Theoretiker mögen nachweisen, daß der Mensch ein Recht auf Freiheit hat; doch welcher Wert solchen Beweisführungen auch immer zukommt, fest steht, daß diese Freiheit nur in und durch die Gesellschaft eine Realität geworden ist.« (109) Durkheim wird, wider die eigene Intention und wider seinen Denkmodus, durch die Objektivität der Sache, deren Primat er kennt, zur Dialektik gedrängt. Unter den Argumenten für diese ist nicht das schwächste, daß sie, vermöge ihres Eigengewichts, Theoretikern sich aufzwingt, die, würden sie darauf aufmerksam, mit Entrüstung dagegen sich verwahrten.
Solche Wendung wäre nicht möglich ohne das Wahrheitsmoment des Positivismus gegenüber losgelassenem, seinen Gegenständen entlaufendem Denken. Durkheim hat es an einer kritischen Stelle bezeichnet, im Hinblick auf die Problematik wissenschaftlicher Diskussion, soweit sie ihre Substanz im Gedanken hat und diesen material nicht erfüllen kann: »Wenn ich nun hier meine Gedanken darlege, ohne ihnen diesen Beweisapparat vorauszuschicken, bin ich also gezwungen, sie gleichsam entwaffnet vorzutragen, und ich werde die hier nicht mögliche wissenschaftliche Beweisführung häufig durch eine rein dialektische Argumentation ersetzen müssen.« (89) Wie sehr auch die Formulierung durch die Nomenklatur »rein dialektische Argumentation« Dialektik verkennt, während im dialektischen Prozeß Subjekt und Objekt durch einander sich vermitteln, er gewahrt eine Schwäche. Sie will der positivistische Impuls korrigieren, und er nähert sich bei Durkheim, vermöge seiner auf die gesellschaftliche Objektivität, nicht auf ihre Manifestationen in Einzelsubjekten gerichtete Tendenz, einer dialektischen Theorie. Kritik an der Gesellschaft interpretiert er als immanente, freilich auf Kosten des dialektischen Salzes und stets dazu versucht, im Geist solcher Immanenz Kritik zu sistieren. Auch insofern ist der Empiriker Nachfahre Hegels: »Das Individuum kann sich den bestehenden Regeln zum Teil entziehen, sofern es die Gesellschaft will, wie sie ist, und nicht, wie sie sich selbst erscheint; sofern es eine Moral will, die dem gegenwärtigen Stand der Gesellschaft und nicht einem historisch überholten gesellschaftlichen Zustand gerecht wird, etc. Das Prinzip der Auflehnung ist also dasselbe wie das des Konformismus.« (120) Die Durkheimsche Version der Immanenz von Kritik wird zur Sabotage an Urteilen darüber, worin ein zu wollender Zustand vom fragwürdigen seienden abweiche, obwohl in dem von ihm urgierten Unterschied zwischen der Wirklichkeit der Gesellschaft und dem Bewußtsein, das sie von sich selbst hat, das Bewegende immanenter Kritik angedacht wird: die Differenz zwischen der Sache und ihrem Begriff.
Die Durkheimsche Variante des Positivismus erweist darin sich als avanciert, daß er die Methoden der empirischen Sozialforschung, die er selbst, im Falle des Selbstmords, mit soviel Effekt verwendete, jener zweiten Reflexion unterwirft, die auf späteren Stufen des soziologischen Empirismus lange unterblieb. Sein Objektivismus hilft ihm dazu, jener Art Objektivität nicht bedingungslos sich zu verschreiben, zu der die statistische Allgemeinheit verlockt: »Im übrigen gibt es einen weiteren Grund, weshalb man objektive und durchschnittliche Bewertung nicht miteinander verwechseln darf: weil nämlich die Reaktionen des durchschnittlichen Individuums individuelle Reaktionen bleiben ... Zwischen den Sätzen Ich mag das und Eine bestimmte Anzahl von uns mag das besteht kein wesentlicher Unterschied.« (141) Allerdings haben solche Einsichten, heute womöglich aktueller als zu Durkheims Zeit, bei ihm ihre Grenze daran, daß er zwar strukturelle Objektivität, als die des Kollektivgeistes, und subjektive soziale Verhaltensweisen, auch als quantifizierte, voneinander unterscheidet, jedoch um das Verhältnis der beiden, ihre Vermitteltheit, nicht sich kümmert, sondern die Dichotomie, treu der vorhandenen Landkarte der Wissenschaften, ein für allemal hinnimmt. Seine polemische Stellung zu jeglichem, nach den Vorstellungen seiner Periode atomistischen Denken verleitet ihn dazu, die Individuen, soweit Soziologie mit ihnen befaßt sei, die Substrate dessen, was er als »individualistische Soziologie« (77) befehdet, unter Benutzung einer wenig einschlägigen naturwissenschaftlichen Metaphorik als »tot« zu schmähen, in flagrantem Widerspruch zu dem Einfachsten, daß in der Gesellschaft von Leben nicht anders kann geredet werden als im Kontext des Lebens der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt: »Wie könnten die Bewegungen des Lebens ihren Sitz in toten Elementen haben? Wie könnten sich zudem die charakteristischen Eigenschaften des Lebens zwischen diese Elemente verteilen? Sie können nicht in allen in gleichem Maße vertreten sein, da die Elemente von verschiedener Art sind; der Sauerstoff kann weder dieselbe Rolle spielen wie der Kohlenstoff, noch dieselben Eigenschaften annehmen. Nicht weniger unzulässig ist die Behauptung, daß jeder Aspekt des Lebens in einer besonderen Atomgruppe verkörpert sei. Das Leben läßt sich nicht derart aufteilen; es ist einheitlich und kann infolgedessen nur die lebende Substanz in ihrer Totalität zum Sitz haben. Es ist im Ganzen, nicht in den Teilen. Wenn also das Leben, will man es begründen, nicht unter die Elementarkräfte verstreut zu werden braucht, deren Resultante es ist, warum sollte es beim individuellen Denken in bezug auf die Gehirnzellen und bei den sozialen Tatsachen in bezug auf die Individuen anders sein?« (76f.) Bei Durkheim kündigt sich an, was nachmals die empirische Soziologie, in der Terminologie von Elisabeth Noelle-Neumann, als Dualismus von Einzahl- und Mehrzahlbereich etablierte. Dabei ist ihm entgangen, oder er hat dagegen sich verstockt, daß die von ihm als Prototypen des spezifisch Gesellschaftlichen herausgearbeiteten faits sociaux, nachdem einmal ihre Beziehung auf die lebendigen Subjekte und deren Motivationen fanatisch ausgemerzt ward, eine Irrationalität annehmen, die nicht sowohl die jener Personen ist als die einer Wissenschaft, welche dort die Antwort versagt, wo sie vorab zu antworten hätte. Durkheims methodologisches Prinzip mahnt an den Fuchs und die sauren Trauben. Er will, mit dem Gestus des unerbittlich strengen Gelehrten, nicht verstehen, sobald die Partikularität der Methode zum Verstehen nicht ausreicht. Geschichte hat darin ihn bestätigt, daß die äußerste soziale Tatsache, Auschwitz, wirklich nicht sich verstehen läßt. Verschmäht aber die Wissenschaft hochmütig oder vermag sie nicht etwa die berühmte Konstanz der Selbstmordzahlen während gewisser Perioden mit den Motivationen der Selbstmörder zu verbinden, dann wird jene Konstanz, auf deren Entdeckung sie soviel sich zugute tut, zu einem Rätsel, an dem auch nichts ändert, daß sie den Selbstmord als fait social durch die mangelnde Integration des Einzelnen in seiner Gruppe erklärt. Für Durkheim liefert die Struktur des Kollektivs das einzige soziologisch relevante Kriterium des Selbstmords. Zu dessen Genese rechnen aber ebenso die psychologischen Mechanismen hinzu; diese freilich sind auch als innerindividuelle weithin gesellschaftlich präformiert. Jenes Moment von Irrationalität in der wissenschaftlichen Verfahrungsweise selbst, das den »Einzahlbereich« ausschaltet ohne Rücksicht darauf, daß der Mehrzahlbereich ohne die Einzahlbereiche gar nicht existierte, mystifiziert dann den Kollektivgeist. Doch auch diese Unzulänglichkeit der Durkheimschen Konzeption, die krasseste, ist nicht durchaus ohne Rechtsgrund. Der Bruch von Gesellschaft und Individuum selbst wirkt als soziales Gesetz, solange die Gesellschaft nicht die der Individuen ist sondern ihre Verhältnisse repressiv ihnen aufbürdet. Soziale und psychologische Gesetze divergieren tatsächlich, aus gesellschaftlichem Zwang, ohne daß sie doch je ein radikal voneinander Verschiedenes würden: denn das psychologisch Autarke und die Form seiner Autarkie sind im Ursprung gleichermaßen gesellschaftlich determiniert. Werden in Durkheims Soziologie die Individuen auf den Status bloßer Atome herabgedrückt, über deren Kopf hinweg das von ihm verherrlichte Ganze sich durchsetzt, ohne daß sie dagegen etwas vermöchten, so ist seine Konzeption realitätsgerecht. Sie nennt die Naturwüchsigkeit, die in der Gesellschaft trotz deren ansteigender Rationalität sich erhalten hat und erhält, bis Rationalität nicht länger mehr bloß eine der Mittel ist sondern eine der Zwecke. Die soziologische Gültigkeit des Gesetzes der großen Zahl ist Durkheim nicht zu widerlegen. Aber sie folgt nicht, wie er sich und seiner Schule suggerierte, aus dem Wesen des Sozialen schlechthin. Ihr Grund ist, daß die Gesellschaft ihrer noch nicht mächtig ward. Die Handlung bewußter Individuen hat bis heute nicht den gesellschaftlichen Prozeß dem heteronomen Schicksal entrissen. Indem Durkheim das verkennt oder verschweigt, macht er sich unvermerkt zum Komplizen des gleichen Mythos, der in den von ihm auf ihren Kollektivgeist befragten Naturreligionen unerhellt waltet. Das ist sein Bündnis mit falschem Bewußtsein; seine Leistung aber, daß er, willentlich oder nicht, ins Licht stellte, wie sehr der alte Bann die moderne Menschheit befängt. Mit tiefem Blick hat er, später Nachfahre Vicos, die Verschworenheit von Mythen und Rationalität erkannt. Mythen sind ihm Rationalisierungen. »Es gibt kaum einen Ritus, so materiell auch immer, der nicht von irgendeinem System von Vorstellungen begleitet würde, die ihn erklären und rechtfertigen sollen; denn der Mensch muß verstehen können, was er tut, auch wenn er bisweilen nur geringe Ansprüche stellt. Oft ist dies der Daseinsgrund der Mythen.« (133) Weder wahr noch bloß unwahr ist Durkheims Soziologie; vielmehr schiefe Projektion der Wahrheit auf ein Bezugssystem, das selbst in den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang fällt.
Fußnoten
1 Der Autor dankt herzlich Frau Inge Hofmann für fruchtbare Kritik und wesentliche Hinweise.
* Vgl. Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie, Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1967. (Anm. d. Hrsg.)
2 Vgl. Simon Deploige, Le conflit de la morale et de la sociologie, Paris 1911.
3 Vorgebracht kann werden, der Terminus sei, wie es auf Neudeutsch heißt, allzu global gebraucht; fraglos gilt er für Durkheim nicht in der Bedeutung, die er im Wiener Kreis und dann der sogenannten analytischen Philosophie hatte, und von der wiederum Wittgenstein differiert. Legitim mag er sein nach dem einfachen Wortsinn des Positiven als des Vorhandenen, faktisch Gegebenen. Wohl liegen Varianten vor, die von jenem Wortsinn nicht gedeckt werden. Aber wie problematisch auch dergleichen umfassende Begriffe nach dem Kriterium der Gültigkeit ihrer Definition sein mögen, das Verbot, mit ihnen umzugehen, läuft vielfach auf die Apologie des von ihnen Gemeinten hinaus, indem es daran verhindert, es überhaupt zu nennen. Trotz aller Divergenzen seiner Anhänger hat der Begriff Positivismus einen Kern. Er ist zwar schwer dingfest zu machen; wird aber auf ihn verzichtet, so lassen die kontroversen Standpunkte kaum sich erörtern.
4 Die Seitenangaben beziehen sich auf Durkheims Text [in der oben angegebenen Ausgabe].
5 Durkheim, La philosophie dans les universités allemandes, Revue internationale de l'enseignement, Tome 13, 1887, S. 439f.
6 Diskussionsbeitrag Durkheims, Société Française de Philosophie, Séance du 20 mai 1909; L'efficacité des doctrines morales, Bulletin de la Société Française de Philosophie, Année 9, 1909, S. 220.
7 Vgl. Durkheim, Leçons de Sociologie, Paris 1950, S. 66f. Zugrunde liegen Vorlesungen, die Durkheim 1896–99 in Bordeaux hielt: ihre sozialkritische Tendenz war noch die seiner Jugend.
8 Durkheim, Le Suicide, Paris 1960, S. 382.
9 George Em. Marica, Emile Durkheim. Soziologie und Soziologismus, Jena 1932, S. 87.
10 Marica, a.a.O., S. 43.
11 Nach Abschluß des Textes wird der Autor auf eine Stelle bei Blumenberg aufmerksam gemacht, die ebenfalls Pedanterie zum Thema hat. Von einem übrigens auch bei Spengler angezogenen Entwurf Goethes heißt es: »Die eigentümliche Ungeschichtlichkeit des anthropologisch aufgefächerten Schemas verdeckt die geschichtliche Logik, in der Einstellungen des Glaubens und Aberglaubens ihre eigene Stufe der dogmatischen Pedanterie erreichen und durch den Anschein der systematischen Vollständigkeit und Stabilität den Ausblick auf das versperren, was das System gefährden könnte. Neugierde, Forschungstrieb, empirische Unbefangenheit erwachsen aber gerade gegen den Tabuierungszwang des dogmatischen Systems, das seinen Anhängern nicht nur bestimmte Fragen und Ansprüche abschneiden muß, sondern ihnen diese Entsagung mit einer besonderen Angemessenheit und Verdienstlichkeit aus dem System begründet.« (Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966, S. 380f.) Die Verwandtschaft dieser Sätze mit Motiven des vom Autor Entwickelten ist frappant. In gänzlich unabhängig voneinander Denkenden löst die gleiche objektive Situation – hier: die nachgerade erstickende Pedanterie wissenschaftlicher Zensur – die gleichen Überlegungen aus. Blumenbergs Hinweis auf das pedantische Moment bereits in Glauben und Aberglauben widerspricht der geschichtsphilosophischen Konstruktion des Textes nur scheinbar; denn Pedanterie, als Ersatzhaltung eines in seinem Bedürfnis blockierten Bewußtseins, ist regressiv wie eine kollektive Zwangsneurose und fördert längst Vergangenes wieder zutage, freilich, durch methodische Rationalität, der inneren Zusammensetzung nach qualitativ verändert.