Die stabilisierte Musik
Zwar aus der Nähe will es scheinen, als sei die Veränderung des musikalischen Bewußtseins gelungen: als sei Musik heute so fortgeschritten wie nur die Zeitsituation insgesamt. Die Macht der psychologischen Ausdrucksmusik und ihrer zivilisierten Reflexe im Impressionismus ist, wo nicht gebrochen, immerhin doch erloschen; die Tradition der bürgerlichen Musikübung des neunzehnten Jahrhunderts hat ihre letzte verbindliche Macht eingebüßt, die Komponisten sind freizügig geworden in der Wahl ihres Standortes und verfügen ungebunden über die Mittel; kein Werk gleicht dem anderen, keine Komponiernorm bleibt verpflichtend, und in der Nähe solcher ausgebreiteten Mannigfaltigkeit zweifelt niemand an der Verwirklichung der Freiheit. Und so wollen in der Tat die Werke von sich aus gesehen sein; sie meinen sich einmalig und inkommensurabel und möchten nur dem nahen Auge ihre verschlungenen Kurven offenbaren; in der Nähe ihrer wechselfältigen Unvergleichlichkeit sind sie geschützt vor der Konfrontierung miteinander und der Entzifferung der geheimen Lineatur, die sie gemeinsam, sehr gegen ihren Willen, bilden und aus der am Ende als wahres Zeichen der Zeit abgelesen werden könnte, was die einzelnen Werke niemals zugestehen möchten. Es läßt sich nun aber nicht einsehen, warum der Aspekt der Nähe, in dem der Anspruch der Werke auf konkrete Geltung so trefflich gedeiht, in dem die Illusion der gewonnenen Freiheit so sicher geschützt ist, hartnäckig festgehalten werden soll, während allein die Distanz, sei es immer auf Kosten des Konkreten, das eigentliche Bild der musikalischen Zeitlage ergibt. Es mag dabei die räumliche Distanz, die Amerika von Europa trennt, das rechte Mittel zur geistigen Distanzierung abgeben; man wird in Amerika, wo man nicht in die zwangvolle Dialektik der musikalischen Geschichte Europas verstrickt ist, eher die Problematik der Zeitsituation überschauen und für diese Problematik Chiffren verstehen, die in Europa nur als Vergewaltigung der Vielfalt durch abstrakte Prinzipien genommen würden, während man sie in Amerika als Formeln der Entzauberung eines vermummten Unwesens deuten kann. So werden nicht absichtslos hier, gerade mit Rücksicht auf Amerika, Folgerungen aus der Totalität des Vereinzelten gezogen, die derart unumwunden ausgesagt dem Autor in Europa unweigerlich den Vorwurf der Konstruktion eintrügen, während er hoffen darf, man wisse in Amerika, daß Konstruktion allein es vermag, heute die gestaltlose Masse dessen zu durchdringen was ist.
Es wurde gesagt: Freiheit der Komponisten sei realisiert, denn die Komponiernormen seien unverbindlich geworden. In der Tat, keiner wird mehr auf die Tonalität vereidigt, keiner mehr auf symmetrische Rhythmik, keiner auf die Sonatenform, keiner auf den sinnlich erfüllten Orchesterklang. Aber bedeutet das zugleich auch, daß die Komponisten von sich aus beginnen und mit der Sprengkraft der Phantasie und der unerbittlichen Kontrolle des freigesetzten Bewußtseins produzieren? Wer dem Wahrscheinlichkeitsbeweis mißtraut, daß nicht angenommen werden kann, es werde jener gewaltige Effort der Vereinzelung, den ehemals allein ein Vortrupp leistete, heute von allen aufgebracht, der ist an ein soziologisches Moment zu erinnern. Der fortgeschrittenste Stand der Musik ist anarchisch und setzt eine Ordnung der Dinge voraus, in der verpflichtende gesellschaftliche Formen nicht mehr bestehen, sondern die Menschen sich unmittelbar zueinander verhalten und als Verein von Freien die Wahrheit besitzen, die ihren Werken innewohnt. Dem ist indessen die gesellschaftliche Lage keineswegs angemessen; vielmehr sind die herrschenden Mächte der gesellschaftlichen Ordnung stärker als je zuvor, und von ihnen müßte seinem Bewußtsein nach sehr unabhängig sein, wer mit der Freiheit produzieren wollte, die die Signatur des musikalischen Zeitstiles scheint. Es läßt sich das spezifischer fassen. Die Entwicklung, die die Auflösung der Komponiernormen mit sich brachte, ist keineswegs gesellschaftlich revolutionär gewesen. Sie vollzog sich durchaus im Rahmen eben der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, deren Musikübung sie schließlich zersetzte. Träger der Emanzipation der Musik von ihren objektiven Normen ist nicht etwa eine aufrührerische Klasse, sondern das Individuum, das die bestimmende Macht der herrschenden Klasse ist; das Individuum, wie es ökonomisch im freien Konkurrenzkampf der liberalistischen Wirtschaftsweise sich durchsetzt und wie es ideologisch als autonome Persönlichkeit sich verklärt. Wie der liberalistische Produzent sich nicht in seine Unternehmungen hereinreden läßt, so möchte der private Künstler, der in der Luft des beginnenden Hochkapitalismus gedeiht, seinen Besitz an Gefühl und Innerlichkeit ungehemmt aussprechen. Wenn Wagner die offene Bresche in die Formwelt der abendländischen Musik schlug, so geschah es allein in der Intention, dem expressiven Zug der Mitteilung seiner individuellen Emotionen Luft zu schaffen; nicht etwa in der Absicht, den Grund der gesellschaftlichen Ordnung irgend anzutasten, in der seine um süchtige Erotik gruppierte Naturanlage so wohl gedeiht. Alle Auflösung der Formobjektivitäten des neunzehnten Jahrhunderts aber ist dialektisch aus Wagners Beginnen hervorgegangen und bleibt kraft ihres Ursprunges selbst dort, wo sie anarchisch sich gibt, an den bürgerlichen Idealismus gebunden. Einzig die letzte dialektische Konsequenz aus jenem Prozeß, wie Schönberg und seine Nächsten ihn zogen: nämlich alle Brücken der Verständlichkeit hinter der monologischen Musik abzubrechen, damit sie vom bürgerlichen Geltungsraum zu emanzipieren, indem das Prinzip des bürgerlichen Individualismus bis zu seinem Umschlag getrieben wird, und damit Raum zu schaffen für die Konstruktion aus Phantasie in Freiheit – einzig diese letzte, in ihrer Tiefe und Gewalt kaum nur geahnte Konsequenz trägt das Bild einer zukünftigen Gesellschaft in sich und ist vom Diktat der bestehenden im Entscheidenden unabhängig. Alle andere Musik aber gehört dem bürgerlichen Raum zu, enthält so viel an vorgegebenen Formen in sich, wie in der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung noch gegenwärtig sind, und unterliegt der gleichen Problematik wie die gesamte Ideologie einer Gesellschaft, die nicht mehr zu glauben ist.
Das liegt jetzt erst völlig deutlich zutage. Den Frühwerken der Neuen Musik wohnte eine innertechnische Sprengkraft inne, die über ihre soziale Gebundenheit hinweghalf, und es ist zuzugestehen, daß die Frühwerke eines künstlerischen Stiles stets Elemente des Aufruhrs in sich tragen, die ihre soziale Zuordnung nicht ohne weiteres gestatten. Hinzu kommt, daß die Wendung zur Neuen Musik in ihren entscheidenden Vorstößen in den ersten Nachkriegsjahren erfolgte und aus Sphären kam, die politisch in der Tat als erschüttert gelten mußten; aus dem Umkreis der besiegten mitteleuropäischen Staaten und des russischen Emigrantentums; aus jener Sphäre der Unsicherheit also, die in Dichtung und Malerei den expressionistischen Stil auskristallisierte. Um jener Herkunft wegen mochte man denn die Bewegung der Neuen Musik weit revolutionärer verstehen, als sie ihrem Gesamtumfang nach zu verstehen gewesen wäre. Schließlich zeigt sich in der Neuen Musik tatsächlich auch gesellschaftliche Veränderung an. Die bürgerliche Gesellschaft ist nicht in sich geschichtslos, und die Veränderungen, die sie durchmacht, lassen sich auch am künstlerischen Bewußtsein der Zeit ablesen. Der Übergang von der nationalen zur Weltwirtschaft hat seine genauen Reflexe in der Musik. Es ist dabei nicht sowohl an den musikalischen Exotismus zu denken, der dem Impressionismus zuzählt und mehr ein Ferment der innermusikalischen Bewegung abgibt, als daß er bereits Zeichen der Neuen Musik wäre. Entscheidend ist die Relativierung des tonalen Tonsystems selbst, an dessen Notwendigkeit und Naturgegebenheit kein Glaube mehr ist und das rationell durch beliebig viele andere Bezugssysteme ersetzt werden kann, deren manche zur Darstellung der musikalischen Ereignisse weit geeigneter sein mögen als das tonale, auf die harmonische Kadenzfunktion gegründete Schema. Die Relativität in der Wahl der musikalischen Bezugsschemata, nicht ohne Zusammenhang mit der Relativitätstheorie der Physik, entspricht genau der Freiheit in der Wahl des wirtschaftlichen Standortes, die der Imperialismus für sich in Anspruch nimmt; die neuen Tonsysteme, auch wenn es nicht etwa romantisch-exotische, sondern rational konstituierte sind, haben als Kolonialland der Tonalität weit eher zu gelten, als daß es gelungen wäre, vom tonalen Mutterland radikal sie zu scheiden, das durchwegs als ihr bereicherter Nutznießer sie ausbeutet, auch wo den neuen Tonsystemen einige Selbstverwaltung gewährt wird; und der Streit um die Ordnungsschemata der Neuen Musik erinnert im kleinsten an die Kämpfe, die fortgeschrittenere und zurückgebliebenere Staaten um ihre Absatzmärkte ausfechten. Kurz: man sieht, daß zwar ernstliche und weittragende Veränderungen mit der Musik sich zutrugen; daß aber diese Veränderungen durchaus in den Raum der bestehenden Ordnung der Dinge fallen und keineswegs eine Loslösung der Musik vom Grunde der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung bedeuten. Weit evidenter wird das noch, wenn man die Situation überblickt, wie sie heute, nach Konsolidierung der europäischen Verhältnisse, sich darstellt. Denn die Flut der musikalischen Geschichte, die die Dämme der Gesellschaft überflutet hatte, ebbt von jenen Dämmen zurück, nachdem sie ihre exponiertesten Werke dort draußen abgesetzt hat, wo sie nun einsam bleiben; der Strom aber hat ins alte Bett zurückgefunden. Die Musik hat sich stabilisiert und den Forderungen der ebenso frisch stabilisierten Gesellschaft unterworfen; zwar hat sie die gesellschaftliche Entwicklung eingeholt und von der kleinbürgerlichen Privatheit des neunzehnten Jahrhunderts ebensowohl sich befreit wie von der undynamischen Starrheit seines Musiksystems; die stabilisierte Musik von heutzutage verhält sich zur stabilen des neunzehnten Jahrhunderts nicht anders als die fortgeschrittenste Grenznutzentheorie zur klassischen Ökonomik. Jedoch im Rahmen solcher Veränderung ist alles beim alten geblieben.
Leicht läßt sich der Umkreis der stabilisierten Musik – der, wir wiederholen es, Schönberg, auch mit der Zwölftontechnik; weiter vor allem Alban Berg und Anton von Webern nicht zugezählt werden dürfen – überschauen. Sie scheidet sich in zwei große Gruppen, die hier, grob schematisch, die klassizistische und die folkloristische heißen mögen. Soziologisch ist der Klassizismus als die Form der Stabilisierung in den fortgeschritteneren, rational aufgehellteren Staaten zu verstehen, während die rückständigeren, wesentlich agrarischen Länder – übrigens, kurios genug, auch Sowjetrußland – und weiter die Staaten der faschistischen Reaktion dem Folklorismus zuzählen.
Der Klassizismus ist einheitlich allein im Willen, auf alte Formen zurückzugreifen; worin sich die Unmöglichkeit aussprechen mag, neue Formen von der Art zu finden, daß sie von der bestehenden Gesellschaft apperzipiert werden könnten; weiter in der Absage an die psychologische Ausdrucksmusik und in der Betonung des Spielcharakters; die Kritik des privaten Individualismus, zugunsten eines kollektiven, spricht sich darin aus und zugleich die Absicht (die unbewußte, wohlverstanden), von dem krisenhaften Ernst der fortschreitenden Entwicklung durch unentwegte Heiterkeit abzulenken; endlich das Luxusbedürfnis der neuen Bourgeoisie, der mit Innerlichkeit nicht mehr gedient ist. Über diese soziologischen Bestimmungen hinaus ist, wie es bei dem unverändert individualistischen Ausgangsgrund der Bewegung nicht Wunder nehmen kann, der Klassizismus nicht einheitlich zu denken. Auf seiner höchsten und zeitgemäßesten Stufe, als Neoklassizismus, bei Strawinksky also vor allem, mit dessen vor wenigen Tagen in Berlin uraufgeführtem lateinischen Oedipus der Neoklassizismus sein repräsentatives standard-work gefunden hat, ist die Unmöglichkeit, der alten Formen unmittelbar und positiv habhaft zu werden; die Unmöglichkeit des fröhlichen Spiels in einer wenig fröhlichen Wirklichkeit; die Unmöglichkeit, als ungebundenes Individuum in objektiver Verbindlichkeit sich mitzuteilen, bereits einkalkuliert. Sein Klassizismus ist gebrochen; dieser Klassizismus weiß von der Unrealisierbarkeit seiner selbst und spricht sie aus, indem er jeden Augenblick bereit ist, sich grinsend als Schein zu enthüllen oder derart steinern sich zu vermummen, daß keiner ihn mehr für wirklich nimmt. Wenn trotzdem schließlich Strawinsky, der der Wahrheit näher kommt als irgendein anderer der klassizistischen Komponisten, als richtunggebend für den Klassizismus sich erweist, so darum weil er den Spielcharakter stets und stets wahrt und auch seine Selbstenthüllung niemals so groß und verbindlich gerät, als daß sie nicht im Cabaret belacht werden könnte, während andererseits die Tendenz der Maskierung bei Strawinsky immer mehr anwächst und im Oedipus fast bis zur völligen Verdrängung der Ironie geführt hat, an deren Stelle die starre Ausformung der ungeglaubten Formen tritt. – Ganz anders jener Objektivismus, wie er, von Strawinsky immerhin vielfältig angeregt, etwa bei Hindemith und Honegger exemplarisch ausgebildet und zum Vorbild fast allen mittleren, flüchtig auf Aktualität bedachten Komponierens wurde. Die motorische Energie von Spielmusik etwa wie der Regerschen (bei Hindemith) oder der Pantomime (Honegger) werden ernstlich, unironisch und ungebrochen in objektiven Formen aufgefangen; sei es, daß Gebrauchsmusik deren Anwendung regelt, sei es, daß sie sich selbständig machen und als realer gültiger Ausdruck einer ›sachlichen‹ Generation genommen sein wollen, deren Sachlichkeit darum ihre objektive Form finden mag, weil in ihr keine Sachgehalte angelegt sind, die zu formen wären; die aber im Sport immerhin ein Gemeinsames besitzt, daß sich allem musikalischen ›Spiel‹ zugrunde legen läßt. Krenek, der nicht ohne weiteres hierher zählt, hat allerdings in seinen stärksten Werken jene Sachlichkeit bis zur fremden und bedrohlichen Stummheit dämonisch gesteigert und damit dem Spiel immerhin eine Grenze erwirkt, die es in Hindemiths sinnlich weit sichererer Sphäre nicht findet. – Endlich ist mitzuzählen der romantisch-ästhetische Klassizismus der Busonischule, der, genährt an dem Nietzscheschen Ideal der serenen, südlich leichten und tanzhaften Musik, ohne Absicht der Aggression, ohne Sport und ohne mechanische Dämonie friedlich den Glanz einer vergangenen, gemeinschaftsmäßig vorgezeichneten, bestätigten Musik im Abbild zu reproduzieren trachtet, ohne damit allzu tief in die Aktualität zu dringen.
Die Kunst des Folklorismus stabilisiert sich, indem sie auf die naturalen Quellen des Musizierens zurückgreift, die ihr ewig frisch erscheinen; hier will der Individualismus am Nationalismus sein Korrektiv finden, der vom gleichen Stamme ist wie er selber. Wo die Differenzierung des modernen Lebens nicht gar so weit drang, läßt sich das mit einiger Chance unternehmen; Bartók, eine große und originale Komponierbegabung, hat in seinen besten Werken eine Höhe erreicht, die zwischen objektiver Volksmusik und subjektiver Kunstmusik den steilen Grad bildet, ohne sich freilich auf solcher Höhe zu halten; sein paradoxes Gelingen zerfiel ihm bereits wieder zwischen allgemeinem europäischen Klassizismus und ungebrochenem Folklore. Auch Janácek hat der spröden Erde einiges Beständige abgezwungen. Sonst aber ist der Folklorismus, selbst in seinen begabtesten Vertretern wie Kodály, kaum nur in die Aktualitätsschicht gedrungen und in seiner faschistischen Färbung in Italien und Spanien rasch genug zu kostümfestlichem Kunstgewerbe entartet. Allein in seiner niedrigsten und unmythologischsten Gestalt, als Jazz, konnte das Folklore ernstlich in die Dialektik der großen europäischen Musik eindringen; freilich auch er rasch genug als kunstgewerblicher Spaß gehandhabt, aber doch mit Möglichkeiten, wie sie Kurt Weill in »Mahagonny« jüngst eröffnet hat. Der Jazz allerdings ist bereits so weit von aller naturwüchsigen Bodenständigkeit distanziert, daß seine Wirkung wesentlich ins Bereich der spielenden und mechanistischen Klassizität fällt. Es dürfte dem guten Folklore eigentümlich sein, daß es kein Folklore bleibt.
So, grob und gewalttätig gezeichnet, die Situation der stabilisierten Musik, die die Produktion quantitativ beherrscht und wohl geraume Zeit noch beherrschen wird. Es bleibt nur abzuwarten, ob das Stabilisierte bestehe.
1928