Gershom G. Scholem
Scholem spricht in den »Loeb Lectures«
Auf die Vorträge von Gershom Gerhard Scholem, Professor der Jüdischen Mystik in Jerusalem, über Kabbala in Safed, die im Philosophischen Seminar der Universität am Freitag, den 12. Juli, von 16 bis 18 Uhr, am Montag, den 15. Juli, von 16 bis 18 Uhr und am Mittwoch, den 17. Juli 1957, von 14 bis 16 Uhr stattfinden, darf die Frankfurter Öffentlichkeit weit über den Kreis der religionshistorisch und judaistisch Interessierten hinaus mit allergrößtem Nachdruck hingewiesen werden. Scholem ist ohne Frage der bedeutendste heute lebende Kenner der Kabbala, nicht nur ein Gelehrter von Weltruf, sondern zugleich eine philosophisch-spekulative Kraft außerordentlichen Ranges. Die Entdeckung des Autors des berühmtesten kabbalistischen Textes, des Buches Sohar, ist ihm zu danken; die Kontinuität zwischen mystischen Tendenzen des Judentums wie des Sabbatianismus, Chassidismus und Frankismus ist von ihm mit größter Evidenz herausgearbeitet worden. Durch sein in englischer Sprache unter dem Titel »Major Trends in Jewish Mysticism« erschienenes Hauptwerk, wurde zum ersten Mal das dem talmudisch-rationalen Wesen entgegengesetzte, gnostischspekulative Element der nachchristlichen jüdischen Religionsgeschichte als historische Einheit begriffen und dabei in all seiner Differenziertheit dargestellt.
Dies Werk ist dem Andenken Walter Benjamins gewidmet, mit dem Scholem aufs engste befreundet war. Bei der nachhaltigen Wirkung, welche Benjamins Denken in Deutschland auszuüben beginnt, seitdem der Suhrkamp Verlag die zweibändige Ausgabe seiner Werke vorgelegt hat, dürften Scholems Gedankengänge von besonderem Interesse für die philosophisch Gerichteten sein. Zentrale Positionen theologischer Art, die bei Benjamin kaum je offen ausgesprochen, aber stets latent wirksam geblieben sind, gehören dem Bereich jener Mystik an, die zu ›erzählen‹ zugleich Scholems eigene metaphysische Intention bildet, und die beide in ihrer Jugend gemeinsam erfahren haben.
Es darf angemerkt werden, daß die Vorlesungen Scholems im Rahmen der Loeb Lectures stattfinden, die es der Frankfurter Philosophischen Fakultät ermöglicht haben, Vorlesungen und Vorträge über Geschichte, Religion und Philosophie des Judentums abzuhalten. Diese Vorlesungen, von Max Horkheimer in die Wege geleitet, sind unterdessen zu einer ständigen und weithin beachteten Institution des Frankfurter akademischen Lehrbetriebes geworden, ohne daß die Teilnahme an diesen Veranstaltungen auf den Studenten- und Hörerkreis im mindesten beschränkt wäre. Sie ergänzen die Vorlesungen und Seminare über katholische und protestantische theologische und philosophische Lehren innerhalb der Philosophischen Fakultät. Indem sie die in Deutschland rasch verschüttete Kenntnis jüdischen Geistes wieder ins Bewußtsein heben, erfüllen sie zugleich eine geisteswissenschaftliche und eine im höheren Sinne geistespolitische Funktion. Dozenten wie der verstorbene Leo Baeck, der Oxfordtheologe Daube, H.G. Adler, der Autor des großen deutschen Werkes über Theresienstadt, E. Voegelin, der neue Ordinarius für politische Wissenschaften an der Münchener Universität, jüngst der Scholemschüler I.G. Weiß, haben sich, neben zahlreichen anderen, an den Loeb Lectures beteiligt. Eine Vorlesung von Martin Buber über »Züge des biblischen Gottesbildes« steht unmittelbar bevor.
Gruß an Gershom G. Scholem
Zum 70. Geburtstag: 5. Dezember 1967
Meine älteste Erinnerung an Scholem geht auf die frühen zwanziger Jahre zurück. Mir war wohl schon seine Freundschaft mit Benjamin bekannt. Das würde das Datum später als 1923 fixieren; doch mag ich mich täuschen und ihn ganz unabhängig von Benjamin getroffen haben. Überhaupt dürfte mein Gedächtnis daran viel Rückphantasie enthalten. Jedenfalls war der Schauplatz das Frankfurter Bürgerhospital; mir will scheinen, dessen Garten. Er trug einen Bademantel, wofern ich diesen nicht nachträglich hinzuerfand, in Assoziation zum Eindruck eines Beduinenfürsten, den er mir mit seinen brennenden Augen machte, zu einer Zeit, da mir die Verhältnisse im vorderen Orient selig unbekannt waren. Solcher Ahnungslosigkeit war zuzuschreiben, daß ich ihm naseweis sagte, ich beneidete ihn wegen seiner bevorstehenden palästinensischen Reise – es war nicht weniger als die Auswanderung –; ich stellte mir die arabischen Mädchen, mit kupfernen Ketten um die schlanken Fußgelenke, so reizvoll vor. Scholem antwortete mir, in jenem wahrhaft bodenständigen Berlinisch, das er auch in den fünfundvierzig Jahren Zion sich bewahrte und dem der große Hebraist, einem on-dit zufolge, selbst in seiner hebräischen Aussprache die Treue hält: »Na, dann könnten Sie leicht ein Messer zwischen die Rippen kriegen.« Es war meine erste Information über den Konflikt, von dem heute die Welt widerhallt. Scholem hatte keine Angst vor ihm: Beweis des ebenso unerbittlichen wie unpathetischen Ernstes, mit dem er seine theologisch-politischen Positionen zu denen seines empirischen Daseins machte. Fraglos verzichtete er dabei auf ungezählte Möglichkeiten, die seine glanzvolle Begabung ihm bot. In ihr finden Scharfsinn, abgründig spekulativer Hang und Breite der gelehrten Kenntnis einzigartig sich zusammen. Seine Kenntnisse dürften ihresgleichen suchen; sie erstrecken, über den jüdischen Gesamtbereich hinaus, sich auf die Orientalistik und ebenso auf die Mathematik, übrigens ohne daß er darum am zahlenmystischen Aspekt der jüdischen Esoterik viel Interesse nähme.
Von jenem ersten Treffen brachte ich das Gefühl einer paradoxen Einheit des unbestechlich Sachlichen und des metaphysisch Bewegten mit, das dann immer reicher mir sich entfaltete; nicht weniger aber das eines Menschen von so reinem Willen, wie er mir kaum an einem anderen begegnete. Danach habe ich ihn fünfzehn Jahre nicht gesehen. Wir wechselten keine Briefe; er hatte keinen Anlaß, den blutjungen Studenten zu beachten. Immerhin erfuhr ich stets wieder einiges über ihn durch Benjamin, wohl auch durch Kracauer, der bei jenem ersten Treffen zugegen gewesen war. Während der Emigration schließlich kündigte mir Benjamin aus Paris seinen Besuch in New York an. Über die erste Zusammenkunft dort habe ich Benjamin in einem Brief vom 4. Mai 1938 berichtet, dessen Schreibmaschinendurchschlag sich erhielt. Aus ihm möchte ich einige Passagen zitieren, die gewiß der wahren und verantwortlichen Kenntnis entraten, gleichwohl indessen etwas von jenem Zum ersten Mal bewahren, das zuweilen über die Geschichte einer Beziehung entscheidet. Wir waren eingeladen bei Paul und Hannah Tillich, zusammen mit Kurt Goldstein und dessen zweiter Frau, und ich wußte das folgende zu sagen:
»Der antinomistische Maggid war zunächst sehr zurückhaltend und sah in mir offenbar eine Art von gefährlichem Erzverführer; ich hatte das seltsame Gefühl, mit Brecht mich identifiziert zu finden. Überflüssig zu sagen, daß von all dem kein Wort fiel, und daß Scholem mit viel schnoddriger Grazie die Fiktion aufrecht erhielt, von mir sozusagen nicht mehr zu wissen, als daß ein Buch von mir im Verlag des seligen Siebeck erschienen ist. Irgendwie ist es mir dann aber gelungen, den spell zu brechen, und er faßte eine Art Zutrauen zu mir, das nach meinem Eindruck anwächst. Wir haben zwei Abende mit einander gehabt, wie Sie vermutlich am Klingen Ihrer Ohren mittlerweile verifiziert haben werden; den einen allein, mit einem Gespräch, das einesteils sich auf unser letztes in San Remo über Theologie bezog, andernteils auf meinen Husserl, den Scholem sehr genau las wie eine Art von intelligence test« (wohlverstanden, ich meinte einen meiner Intelligenz). »Den zweiten Abend verbrachten wir mit Max Horkheimer, und Scholem, in sehr großer Form, berichtete uns zusammenhängend von der sabbatianischen und frankistischen Mystik die erstaunlichsten Dinge .... Nicht leicht für mich, meinen eigenen Eindruck von Scholem wiederzugeben. Es ergibt sich ein Schulfall des Konflikts von Pflicht und Neigung. Meine Neigung ist aufs stärkste dort im Spiel, wo er sich zum Anwalt des theologischen Motivs Ihrer, und vielleicht darf ich auch sagen meiner, Philosophie macht, und es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß eine Reihe seiner Argumente gegen die Aufgabe des theologischen Motivs, wie vor allem jenes, daß es in Wahrheit durch die Methode bei Ihnen so wenig wie bei mir eliminiert sei, mit meinen San Remeser Exkursen übereinkommt; vom Stein der Weisen und des Anstoßes in Dänemark« (ich spielte auf den Einfluß von Brecht auf Benjamin an) »ganz zu schweigen. Sogleich aber tritt die Pflicht in Aktion, und zwingt mich zuzugestehen, daß Ihr Gleichnis vom Löschblatt und Ihre Intention, die Kraft der theologischen Erfahrung anonym in der Profanität mobil zu machen, mir doch vor den Scholemschen Rettungen alle entscheidende Beweiskraft voraus zu haben scheint, und so habe ich mich denn auf der zwischen uns in San Remo festgestellten Generallinie gehalten, will sagen, ihm zwar das Moment des ›Fremdkörpers‹ zugestanden, das Eindringen des Fremdkörpers jedoch als Notwendigkeit verteidigt. Daran ist nun zum Teil mitschuld die Gestalt, welche die Theologie bei Scholem selber angenommen hat. Einmal ist ihre Rettung sonderbar gradlinig und romantisch: wenn er etwa den Gegensatz von ›Gehalten‹ und deren Genesis in den Vordergrund stellt und dem Marxismus Vorwürfe macht, er käme nur an die letztere, nicht aber an die Gehalte selber heran, so fühle ich mich an Kracauer oder auch Theodor Haecker erinnert. Sieht man sich dann aber die Dinge an, die er selber präsentiert – und ich jedenfalls vermöchte nicht die Gehalte seiner Mystik von ihrem geschichtlichen Schicksal zu trennen, so wie er selber es erzählt –, so scheint es deren wesentlichste Eigentümlichkeit zu sein, daß sie ›explodieren‹. Gerade er insistiert auf einer Art von radioaktivem Zerfall, der von der Mystik, und zwar fensterlos in allen ihren historischen Ausprägungen gleichermaßen, zur Aufklärung treibe. Es scheint mir von der tiefsinnigsten Ironie, daß die Konzeption der Mystik, die er urgiert, sich geschichtsphilosophisch als eben jene Einwanderung in die Profanität darstellt, die er an uns für verderblich hält. Wenn nicht seine Gedanken, dann sind jedenfalls seine Erzählungen eine strikte Rechtfertigung genau der Alterationen Ihres Denkens, an denen er sich stößt. Die geistige Leidenschaft und Kraft ist ungeheuer, und er gehört ohne Frage zu den ganz wenigen Menschen, mit denen über ernsthafte Dinge zu reden sich überhaupt noch verlohnt. Seltsam nur, wie manchmal seine Kraft für bestimmte Strecken aussetzt, und das Vorurteil und die banale Anschauung unangefochten frei gibt. Das gilt etwa auch für seine Art der historischen Interpretation, wenn er die ›Explosionen‹ der jüdischen Mystik in Zwi und vollends Frank ausschließend innertheologisch ableitet und die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die sich einem unabweislich aufdrängen, aufs heftigste fortweist. Es wird mit ungeheurer Kunst ein Rettungsboot losgelassen; aber die Kunst besteht hauptsächlich darin, es mit Wasser zu füllen und zum Kentern zu bringen. Ich für meinen Teil halte mit Ihnen dafür, daß bei einem Untergang des ganzen Schiffes mit Mann und Maus die Chancen besser sind, daß wenn schon nicht von der Mannschaft, so von der Fracht einiges übrig bleiben wird. Trotzdem bin ich, und Felicitas« (Gretel, meine Frau) »nicht minder, sehr fasziniert, und es besteht sogar ein wirklicher Kontakt, der zuweilen die Form einer gewissen Zutraulichkeit annimmt, vergleichbar der, die sich auf einer Kaffeevisite eines Ichthyosaurus bei einem Brontosaurus einstellen mag oder, um mehr zur Sache zu sprechen, bei einer, die der Leviathan dem Behemoth abstattet. Mit einem Wort, man ist unter sich. Es wäre noch hinzuzufügen, daß Scholem offenbar affektiv in einem unvorstellbaren Maße an Sie gebunden ist und zunächst einmal alles, was in der Gegend nur auftaucht, ob es nun Bloch, Brecht oder wie immer sonst heißt, unter die Feinde rechnet. Ich glaube, daß er, was mich anlangt, besänftigt ist .... Max hat sehr positiv reagiert, und ich möchte annehmen, daß die Begegnung, die übrigens in einer New Yorker Bar stattfand, auch insofern ihren guten Sinn hatte, als Max einen neuen Blick auf gewisse Dinge bei Ihnen gewann, die vor seiner Zeit liegen. Dagegen weigert sich Scholem beharrlich, ins Institut zu kommen und hat auch unsere Einladung, dort einen Vortrag zu halten, abgelehnt, was vermutlich damit zusammenhängt, daß er Löwenthal und Fromm noch in ihrer zionistischen Periode kannte.«
Soweit die auf Scholem bezüglichen Sätze des Briefes. Wieviel, durch die Geschichte der Freundschaft zwischen ihm und mir, an dem darin Gesagten sich modifizierte, zumal an meinem eigenen, damals noch sehr rudimentären Verständnis, ist evident. Auffällig jedoch, daß der Brief bereits den Grundriß der späteren Erfahrung an Scholem, wie immer auch in der Form unverbindlicher Impression, aufzeichnet. Er verhält sich zu dem, was dann sich auskristallisierte, vergleichsweise wie die Phase des Mühlespiels, in der die Steine aufgesetzt werden, zu der, in welcher man sie zieht. Da aber von jener ersten Phase so viel abhängt, so wird mir vielleicht der Siebzigjährige das an Irrtum und Vorschnellem verzeihen, was ich damals dem gemeinsamen Freund mitteilte, zu dessen Gedächtnis wir dann zusammen wirkten. Auch das Handicap wird er mir vergeben, an dem nichts sich änderte: meine Unkenntnis nicht nur der Kabbala, der Tradition der jüdischen Mystik, sondern der Hebraistik insgesamt, von der ich nie mehr lernte, als was ich in Scholems Schriften, insbesondere in dem großen Werk über die Hauptströmungen der jüdischen Mystik, las, und, vorher, aus dem Reflex jener Spekulationen bei Benjamin; Spekulationen freilich, die auf den deutschen Idealismus bedeutenden Einfluß ausgeübt hatten und mir darum philosophisch wiederum vertrauter und näher waren, als es bei meinem Mangel an philologischer und historischer Kenntnis zu erwarten gewesen wäre. Trotz meiner Unzuständigkeit gegenüber dem Kern dessen, was Scholem geleistet hat, mag es darum nicht ganz unbillig sein, wenn ich der ersten Impression spätere Reflexionen hinzufüge, die zwar sachlich gewiß nicht legitimierter sind, aber dem geistigen Phänomen Scholem selbst, und auch der Person, näher kommen mögen als das vor bald dreißig Jahren Wahrgenommene.
Er selbst, sonst keineswegs verschlossen, pflegt von seinen wahren Intentionen mit äußerster Zurückhaltung, allenfalls ein wenig geheimnisvoll zu reden; Momente direkter religiöser Mitteilung sind auch in seinen Schriften, nimmt man etwa die Thesen über Messianismus aus, selten. Das trug ihm gelegentlich den Vorwurf ein, er habe in einem Bereich, der seinem Begriff nach die äußersten Ansprüche an die subjektiven Erfahrungen und Spekulationen dessen stellt, der darin sich bewegt, auf die Position des distanzierten Gelehrten sich zurückgezogen. Wer mit dem œuvre Scholems, und gar mit ihm selbst, vertraut ist, weiß die Ungerechtigkeit jener Vorwürfe. Die Versenkung in eine Literatur, die zu der Zeit, da er mit ihr sich zu beschäftigen begann, weithin, auch innerhalb des Judentums, als apokryph verrufen war, ist nicht anders vorstellbar, als daß ihn die kabbalistischen Texte zentral betrafen. Alles spricht dafür, daß sein eigenes Naturell angelegt war auf die exponiertesten Theologumena hin; der mystische Funke muß in ihm selbst gezündet haben. Daß er nur widerstrebend unmittelbar sich äußert, hat gewiß seinen Grund auch in einer geisteswissenschaftlichen Situation, in der der Existentialismus, zumal dessen jüdische Variante, das subjektive Moment religiöser Erfahrung so sehr betonte. Nachgerade fiel es schwer, Theologie von purer Lebensphilosophie zu unterscheiden. Der objektive Gehalt dessen, woran gerade einem wie Scholem bis ins Innerste Ergriffenen alles liegen mußte, schien gefährdet durch rhetorische Insistenz auf Ergriffenheit. Abneigung gegen das allzu verfügbare existentielle Vokabular, gegen das Gesalbte der Rede von Ich und Du, mochte ein Übriges dazu beitragen, daß Scholem den kabbalistischen Schriften wie Stoffen gegenübertrat, um nicht ihren Wahrheitsgehalt an Kommunikation und kunstgewerbliche Neureligiosität zu verraten. In seiner Reaktionsweise lebt etwas von der brummigen Keuschheit, die zuweilen Musiker an den Tag legen, wenn sie gezwungen werden, von dem zu sprechen, was sie bewegt und was dem Wort widerstrebt. Diese Haltung steigert sich bei Scholem kraft eines Fonds ursprünglicher, sehr gütiger Unfeierlichkeit. Sie mag zusammenhängen mit seinem parti pris für Heterodoxes gegenüber dem Etablierten, auch gegenüber offizieller Religiosität; politische Impulse seiner Jugend sind wohl in dieser Haltung sublimiert. Darüber hinaus aber waltet in ihr objektiver Zwang. Scholems Werk hat einen seiner Schwerpunkte in der Darstellung des Säkularisationsprozesses der Mystik, ihrer Affinität zur Aufklärung. Sein tiefes Wissen, das nie auf die engste Fühlung mit den Sachgehalten verzichten mochte, konnte nicht gegen die Logik solcher Säkularisation sich verblenden. Der mystische Unterstrom der jüdischen Überlieferung, dem seine gesamte Arbeit gilt, ist vermöge der Konzeption der Gottheit als dessen, was Baader esoterischen Prozeß nannte, in sich selbst eminent geschichtlich. Einem Denken, das gespeist wird von Wahlverwandtschaft mit jenem Strom, hätte es am letzten angestanden, sei es um der Idee unvermittelter Transzendenz, sei es um der der Religiosität der je einzelnen Person willen, Geschichte und Wahrheit als indifferent gegeneinander zu setzen. Darin dürften seine Gedanken bis zum Ende, über alle Differenzen sogenannter Standpunkte hinweg, mit denen Benjamins zusammengestimmt haben. Wie dieser so strengt Scholem gegen den Mythos einen Prozeß an, der ihm untrennbar ist vom historischen Prozeß selbst. In jenem Prozeß wird aber nicht der Mythos verworfen, er ist keiner von ›Entmythologisierung‹, sondern eher einer, der den Mythos versöhnt. Dem unterdrückten Unteren widerfährt jene Gerechtigkeit, die verhindert wird von dem Recht, das die Geschichte hindurch waltet, und solche Gerechtigkeit wird auch dem Mythos zuteil. Irre ich nicht gar zu sehr, so ist Scholem deshalb der Historiker der Kabbala – das Wort selbst heißt Überlieferung, impliziert also Geschichte – geworden, weil er ihren Gehalt als geschichtlichen Wesens verstand und glaubte, von ihr nicht anders reden zu dürfen denn geschichtlich. Solche geschichtliche Wahrheit kann nur in der äußersten Ferne von ihrem Ursprung ergriffen werden, eben in vollendeter Säkularisierung. Ähnlichen Sinnes ist eine chassidische Legende, die Scholem an erhobener Stelle anführt: »Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditationen versunken, Gebete – und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: ›Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen‹ – und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: ›Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Walde, wo all das hingehört, und das muß genügen.‹ – Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloß auf seinen goldenen Stuhl und sagte: ›Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.‹ Und – so fügt der Erzähler hinzu – seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen.«1
Es ist, als erhoffte Scholems Denken, indem es das Bilderverbot noch auf die Hoffnung, und auf sie vorab, ausdehnt, das Rettende sich allein in äußerster Distanz von jenem Ursprung, der einzig als Ziel vorzustellen bleibt. Medium solcher Bewegung war für Scholem das Judentum; darum wurde er Zionist und zog früh die ganze Konsequenz daraus. Jener Einzug von Mystik in die Profanität jedoch, den ich aus Unkenntnis vor Dezennien gegen Scholem glaubte urgieren zu müssen, berührt sich in dessen Interessenrichtung merkwürdig mit antinomistischen Konzeptionen der Kabbala. Scholem wird denn auch angezogen von der Nachtgeschichte der Juden, im Gegensatz zu all dem, wofür die Philosophie des Maimonides exemplarisch ist; vielmehr von dem, was den Haß und den Verfolgungswahn der anderen auf sich zog und was innerhalb des Judentums selbst von Orthodoxen wie von Liberalen eifernd verketzert ward. Dem universalen jüdischen Gelehrten, dem Denker des Judentums tut kein Unrecht an, wer ihn in Beziehung setzt zu einer mystischen Lehre des Christentums, die dort nicht minder anathema ist, aber in der Ostkirche, schließlich in der großen russischen Literatur den mächtigsten Einfluß ausübte: zu der von der Apokatastasis, von der endlichen Erlösung auch der absolut Bösen. Die geschichtliche Figur, die Scholem entwirft, ist die eines Messianismus, der um des Namens willen kaum nur den Namen mehr nennt; einem Äußersten sinnt er nach in äußerster Sprödigkeit gegen das, worum es ihm geht.
Scholems würdig ist die Paradoxie seiner Wirkung: heute, da er siebzig Jahre alt wird, hat der Ordinarius der Universität Jerusalem bei allen Menschen, denen nicht nur am Geist des Judentums sondern am Überleben der Juden selbst etwas gelegen ist, die Autorität des Weisen gewonnen. Großartig widerspricht sie dem antiautoritären Zug seines Lebens und des von ihm Interpretierten. Seine Nüchternheit gewinnt heilsame Kraft, nicht nur gegen ideologisches Pathos sondern auch in einer Realität, in der nach wie vor die Juden, unter den schmählichsten Vorwänden, mit Vernichtung bedroht werden. Am Ende ist es Scholems Gewalt, daß er nicht apologetisch die Kräfte der Vernichtung, drinnen und draußen, verleugnete, sondern daß er ihnen seine Erkenntnis vorbehaltlos öffnete, mit einem Mut, den nur die Allerstärksten aufbringen. Wie kein Zweiter hat er die Würde der Idee des mystischen Nihilismus hergestellt.
Vor einiger Zeit träumte ich einen Traum, der mir keine schlechte Parabel scheint für Scholem, dem ich mit unzulänglichen Worten ein langes und glückvolles Leben wünsche. Er hätte mir erzählt: »Es gibt eine alte nordische Sage, in der ein Ritter ein Mädchen über eine seidene Strickleiter entführt; daran schließen allerhand Schwierigkeiten sich an. Diese Sage liegt dem deutschen Volkslied ›Fuchs du hast die Gans gestohlen‹ zugrunde.«
Fußnoten
1 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1967, S. 384.