Kriterien der neuen Musik
Meinem lieben Eduard Steuermann
zur Erinnerung an den Juli 1957
Die Frage nach Kriterien der neuen Musik verlangt Besinnungen, die sich nicht unmittelbar auf jene sondern auf die Methode ihrer Erkenntnis beziehen, wofern sie nicht standardisierter Abwehr begegnen will. Kaum aber ist dabei von Methode vorweg und prinzipiell zu reden. Denn sie läßt nicht als ein Fertiges und der Sache Äußerliches von dieser sich trennen, sondern erzeugt sich in der Wechselwirkung mit dem Gegenstand. Vorab das meint der Ausdruck Dialektik, sobald er auf Musik: auf ihre immanente Entfaltung wie auf das Bewußtsein von ihr, angewandt wird. Man hat das Wort aufgegriffen, um zu diskreditieren, was es meint, als wäre Dialektik ein intellektuelles Spiel, das Philosophen von ihrem sogenannten Standpunkt aus mit der Kunst anstellen, ohne sie recht zu erfahren. Demgegenüber hat Hegel die Dialektik nicht als Standpunktsphilosophie verstanden sondern als den insistenten Versuch, der Bewegung der Sache selbst sich zu überlassen und ihr zum Wort zu verhelfen. Können gleichwohl Erwägungen über Kriterien nicht stets und unmittelbar in Viertel und Kreuze übersetzt werden, so darum, weil die Entwicklung der Musik selber, wo immer sie ernst zu nehmen ist, das naive Verhältnis zu einem vorgegebenen Material gesprengt hat. Reflexion ward auch in der kompositorischen Praxis zum integralen Moment der Sache. Was dem Physiker recht ist, der über Kraft, Materie, Kausalität nachdenkt, muß mittlerweile auch dem Musiker billig sein. Darüber zu klagen und der verlorenen Naivetät nachzutrauern stünde nicht an. Anstatt die Bewußtwerdung der Musik, ihre immanente Rationalität zu verleugnen, sollten spontane Subjekte sie steigern, bis sie der ästhetischen Qualität beisteht. Wer seine musikalische Unschuld noch nicht verlor, dem ist nichts Besseres zu wünschen, als daß er sie schleunigst verliere.
Die Frage nach musikalischen Kriterien ist einstweilen in eine ebenso problematische wie unfruchtbare Alternative eingespannt. Auf der einen Seite finden sich jene, die an feststehende, starre, von außen her postulierte Werte, eine Hierarchie etwa im Stil des mittleren Scheler, appellieren und, durch Konfrontation mit solchen Werten, musikalische Entscheidungen treffen wollen. Einer solchen Invariantenlehre widerspricht gründlich die Geschichte der Musik, die stets wieder, was pysei sein möchte, dessen überführt, daß es bloß tesei sei. Seit einigen Jahrzehnzehnten nennen sich die statischen Wertsysteme gern Ontologie. Je willkürlicher sie erdacht sind, je weniger sie der Bewegung des Gegenstandes gerecht werden, je mehr sie dem subjektiven Wunsch oder Machtwillen sich verdanken, desto gewalttätiger beanspruchen sie absolute Geltung und ungebrochene Autorität. Ihnen steht gegenüber der vulgäre Relativismus, die Ansicht, über die Qualität von Kunstwerken lasse nichts Verbindliches sich aussagen, über den Geschmack lasse sich nicht streiten, obwohl doch zu denken geben sollte, daß die Menschen immer wieder darüber streiten, und gar, daß es so etwas wie Kunstunterricht gibt. Hätte jener Relativismus recht, so verkündeten die Gymnastikmädchen die tiefste Wahrheit, welche sich weigern, die Technik des Tanzens zu erlernen, um ihre Persönlichkeit nicht einzubüßen. In Wahrheit ist es denn auch den Relativisten gar nicht so ernst. Sie urteilen recht wohl, vielfach mit kaum geringerer Verstocktheit als die Apologeten der Ewigkeitswerte, und meinen nur, durch die abstrakte Bekundung ihrer skeptischen Gesinnung der Verantwortung für ihre Urteile auszuweichen. Die dialektische Betrachtungsweise von Musik nun will über jene Alternative hinaus vermöge der Arbeit und Anstrengung, dem nachzugehen, was der Musik selbst als Forderung und Tendenz innewohnt; will sie mit den in ihrer objektiven, konkreten Zusammensetzung wirkenden Begriffen von Wahr und Falsch konfrontieren, wie sie in jedem Takt, jeder musikalischen Lösung dem prüfenden kompositorischen Ohr gegenwärtig sind. Man intellektualisiert die Musik nicht, wenn man ihr bewußt gegenübertritt. Im übrigen war lebendige Kunst kaum je so frei von intellektiven Momenten, wie die Philosophen behaupten, die sie aus Kunstfremdheit der bloßen Anschauung vorbehielten. Nie ist sie aufgegangen in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Phänomens, wo sie mehr war als bloß Genußmittel, und danach muß auch das Verhalten zu ihr sich richten. Sobald man überhaupt Musik diskutiert, begibt man sich ins Medium des Gedankens, und diesen stillzustellen hat keine Macht der Welt das Recht. Ist auch die theoretische Reflexion auf das Kunstwerk nicht zu verwechseln mit dem künstlerischen Produktionsprozeß, so spielt doch selbst dieser heute nicht so sich ab, wie Operettenkomponisten ihren Mozart sich ausmalen.
Daß die vorgegebene Sprache der Musik Reflexion erheische, problematisch geworden sei, meint etwas überaus Triftiges; keineswegs bloß, daß etwa die traditionelle Tonalität aus der Mode gekommen wäre und daß, wer sich für up to date hält, sich geniere, mit jenen Mitteln zu komponieren. Sondern sie sind objektiv falsch geworden. Man kann von dem Bewußtseinsstand der Epoche nicht absehen. Hat irgend jemand in Krähwinkel noch nicht gehört, was mit der Tonalität geschah, so ist, was er schreibt, nicht integer sondern brüchig und unstimmig in allen Elementen: so die Symphonik von Sibelius, vielleicht das letzte tonale Produkt innerhalb des westlichen Kunstbereichs, das nachdrücklichere Ansprüche anmeldet. Die Konsequenz daraus aber reicht weit hinaus über das bloße Verbot tonaler Melodien und Akkorde. Wie in einen Wirbel zieht die Tonalität in ihr Schicksal Kategorien hinein, die man einmal für unabhängig von besonderen Kompositionsmaterialien hielt, deren Wesen aber doch mit der Tonalität sich verschränkt. Das sind vor allem die der musikalischen Sprache und Syntax: die überkommenen formbildenden Mittel. Ihre Vertrautheit verführt dazu, sie einer allgemeinen musikalischen Logik, gar nicht bloß der Tonalität zuzurechnen. Dennoch sind sie nicht aus dem tonalen in den neuen Materialbereich ungebrochen zu übertragen. Der Hinweis auf das wichtigste traditionelle Schema, das der Sonatenform, gibt davon eine erste und rohe Vorstellung. Die Proportion der Formteile in der Sonate war wesentlich eine im Verhältnis der Tonarten zueinander, eine modulatorische, eine der harmonischen Perspektive. Sobald die Sonatenform ihre Substanz im harmonischen Inhalt einbüßt, hängt sie gewissermaßen in der Luft, Konstruktion in dem fragwürdigen Sinn, daß sie aus den Materialvorgängen selbst nicht mehr zwingend folgt, nicht einsichtig mit ihnen zusammenhängt oder gar zusammenstimmt, sondern den Tonkomplexionen wie aus der Erinnerung, von außen her, aufgeprägt wird, um sie zu organisieren. Das berührt aber die kleinsten Zellen der Formgestaltung, buchstäblich das Sprachgefüge der Musik, das mit Tonalität so durchtränkt ist wie, etwa, das Verhältnis von Vorder- und Nachsatz dem von Dominante und Tonika sich anschmiegt. Kaum ist darum die Behauptung übertrieben, alle irgend musikalischen Sinn stiftenden Kategorien hätten ihre Selbständigkeit verloren, müßten aufs neue durchdacht und formuliert werden. Was musikalisch heute überhaupt sich zuträgt, hat den Charakter des Problems in der unverwässerten Bedeutung des Wortes; den einer zu lösenden Aufgabe; einer zudem, der von vornherein die Schwierigkeit der Lösung eingeschrieben ist. Der Musik gegenüber dialektisch verfahren heißt, diesem Stand sich unterwerfen. Wer den Gedanken schilt, der so sich verhält, wirft dem Betrachter vor, was diesem der Gegenstand diktiert.
Worum es eigentlich bei der Kriterienfrage heute geht, nahm eine schwierige und keineswegs ganz eindeutige These der Kritik der Urteilskraft vorweg zu einer Zeit, da an der künstlerischen Praxis solche Perspektiven nicht abzusehen waren; wie denn überhaupt bei Kant die Versenkung ins Medium des Gedankens die Erfahrungen weit überflügelte, die er an den Materialbereichen hätte machen können, um die seine Philosophie sich bemühte. Er lehrt, das Geschmacksurteil besitze den Charakter der subjektiven Allgemeinheit, ja eine Art von ›Nötigung‹. Das ästhetische Urteil tritt auf, als folgte es einer Regel, als stünde das Denken dabei unter einem Gesetz. Aber das Gesetz, die Regel selbst, deren Idee das künstlerische Urteil mit sich führt, ist, dürfte man den Gedanken von Kant ein wenig paraphrasieren, nicht gegeben sondern unbekannt; geurteilt wird wie im Dunkeln und gleichwohl mit dem gegründeten Bewußtsein von Objektivität. Nicht viel anders als mit solcher Paradoxie: der einer Erfahrung von Notwendigkeit, die Zug um Zug sich aufdrängt und doch auf kein durchsichtig Allgemeines sich berufen kann, wäre nach dem musikalischen Kriterium heute zu suchen. Eigentlich verfehlt man es bereits, wenn man, wie es doch der Sprache unvermeidlich ist, jene in die konkreten Monaden der Werke eingeschlossene Erfahrung des Zwanges auf allgemeine Begriffe bringt, also dort doch etwas wie Regeln aufstellt, wo gar keine Regeln sein können, sondern eine unendlich zarte und zerbrechliche Logik, eben eine von Tendenzen, keine handfesten Normen für das, was zu tun und zu lassen sei.
Der Schein ästhetischer Relativität zergeht, sobald man in die Werke selbst und ihre Disziplin wie in Goethes Kapelle einmal eintritt. Aber auch dort darf man, eben jenem Kantischen Theorem folgend, die Objektivität der ästhetischen Urteile nicht als etwas Fertiges, Dinghaftes sich vorstellen. Die Zumutung, welche die dialektische Betrachtungsweise an die übliche Denkgewohnheit richtet, ist es, daß sie genau das verweigert. Ästhetische Objektivität selber ist ein Prozeß, und ihrer wird inne, wer das Werk als Kraftfeld begreift. Dazu bedarf es nicht irgendwelcher dogmatischer Orientierungspunkte, sondern des Einsatzes jener subjektiven Erfahrung, deren Ausschaltung durch generelle Normen die gängige Anschauung befiehlt. Gleichwohl läßt der Zwang in der Sache: warum also in einer Komposition etwas so ist und nicht anders sein kann, sich nachvollziehen, ist nicht auf die individuelle Zufälligkeit beschränkt. Über ihn läßt sich urteilen nach dem Modell eines Komponisten, der, wofern er sinnvoll und vernünftig verfährt, präzis übers Richtige entscheidet. Gewiß duldet dessen Idee einige Variationsbreite: es mag jeweils mehrere richtige Lösungen geben. Doch scheint solche Variationsbreite des Richtigen heute, im Vergleich etwa mit Mozart, einzuschrumpfen. Das künstlerische Individuationsprinzip hat sich unterdessen so verstärkt, daß es das Werk in all seinen Momenten beansprucht; daß jedes Werk, jedes seiner Momente ein Einziges sein muß und nicht mehr die Fülle von Abweichungen gewährt, welche eine Objektivität stiftende allgemeine musikalische Sprache duldete, ja verlangte. Für die neue Musik wird es zentral auf jenen Begriff von Richtigkeit ankommen; darauf, ihn nicht mit irgendwelchen vorkünstlerischen, vorgeistigen Materialbestimmungen, mit abstrakten Ordnungen der Tonvorgänge zu verwirren. In der Tat herrscht Überfluß an Kompositionen, die nach dem Maß handfest kontrollierbarer Ordnungen richtig sind, künstlerisch aber unrichtig oder unsinnig; Musik hat viele Schichten von Richtigkeit. Neuerdings wird auch im engeren Umkreis der seriellen Schule zunehmend auf die Differenzierung und Vergeistigung des Begriffs des Richtigen gedrängt.
Unter den heute mit Rücksicht auf musikalische Kriterien verbreiteten Denkgewohnheiten jedoch sind einige fatal. So bündig die Forderung geworden ist, daß ein jedes Werk sich in sich selbst durch Ansatz und Folgerichtigkeit legitimiere, und so entschlossen die irgend ernst zu nehmenden Komponisten dieser Forderung sich unterstellen, so fremd ist sie doch noch dem herrschenden Bewußtsein. Das ›cultural lag‹ zwischen Produktion und Rezeption, das in der jüngsten Phase sich vergrößert hat, bis die Einheit dessen, was man musikalische Kultur zu nennen pflegt, darüber zerbrach, bezieht sich nicht nur auf die unmittelbare musikalische Erfahrung sondern auch auf die Maßstäbe. Von dem Konsumenten, der beteuert, daß er ein neues Werk nicht verstünde, weil er nichts von Harmonielehre wisse, während ihm das Wissen von deren abstrakten Anweisungen gegenüber der Konkretion dessen, was er hört, auch nicht viel hülfe, reicht ein Kontinuum abgestandenen Gebildetseins bis zu jenen Kritikern, die immer noch sich nicht abgewöhnen können, mit der Rede von einer meisterhaft gearbeiteten Fuge wichtig zu tun oder an dem schillernden Orchestergewand sich zu begeistern, in das ein Komponist seine Musik, die dann meist danach ist, gekleidet habe. Musikalisches Metier heute setzt zwar mehr als je die traditionellen Fähigkeiten voraus, welche die Musikhochschulen, ehe sie vom Gemeinschaftsethos verwüstet wurden, übermittelten. Aber die erworbenen Kenntnisse ergeben nicht, nach dem Wunsch des Bildungsphilisters, zusammen mit zusätzlichen Eigenschaften wie Einfallsreichtum und Originalität bedeutende Musik, sondern sind dieser inkommensurabel geworden. Die prompte Anwendung etwa der Fugentechnik, die von der konstruktiven Funktion tonaler Verhältnisse nicht weniger als die Sonate abhing, verbietet sich heute ebenso wie ein ›Instrumentieren‹, das die Farbe nachträglich, gleich der anreizenden Verpackung eines Standardprodukts, hinzufügt und damit das Prinzip durchgebildeten Komponierens negiert. Die Fugen aus dem ›Wozzeck‹, von höchst pointierter dramaturgischer Absicht, sind wahrhaft Ausnahmen, welche die Regel bestätigen, und was es an Fugen von Schönberg gibt, ist entweder, wie in der Kantate ›Der neue Klassizismus‹, virtuose Parodie, oder, wie in der Streichersuite, didaktisches Kunststück. Kaum ein Banause würde sich mehr getrauen, einen Schriftsteller um seines glänzenden Stils willen zu loben; die geistigen Manieren jedoch, die gegen dergleichen Denkgewohnheiten sich sträuben, bleiben in einer Rezeptionsweise von Musik erst zu erwerben, die noch diesseits von Croces ästhetischem Nominalismus sich hält. Können ist nicht länger mehr das, wofür es einmal galt und was es in Wahrheit nie war, ein Schatz angeeigneter Verfahrungsweisen, der vom Talent ausgemünzt wird, sondern besteht darin, daß jeder Zug des Gebildes, vom Kleinsten bis zur Totale, ohne Rücksicht auf überkommene Fertigkeit, aus der tragenden Anschauung der spezifischen musikalischen Sache herausspringt; und umgekehrt, daß jegliche musikalische Anschauung, alles subjektiv Unwillkürliche sich umsetzt in die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens, das rückläufig das selbst ergreift, was genetisch als irrationaler Ursprung sich darstellt. Nur durch solche Besonderung hindurch, als Kraft, die zu dieser sich zusammenzieht, findet das Allgemeine am Kunstwerk noch sein Recht; nur in der Disziplin des übergreifenden Zusammenhangs, in den es vermöge des eigenen Impulses tritt, erhält sich das Besondere. Kriterien, welche dahinter zurückbleiben, sind anachronistisch und laufen fast unvermeidlich darauf hinaus, das Laxe oder das Pedantische als das Gute zu unterschieben.
Dessen macht zumal der ästhetische Pluralismus sich schuldig. Er wähnt, daß alle möglichen Typen von Musik gleichen Rechts nebeneinander herliefen, Schönberg und seine Nachfolger, Strawinsky, am Ende auch Britten. Verwiesen wird dabei auf die scharf voneinander abgehobenen kompositorischen Profile aus früheren Zeiten. Wer nicht an all dem seine Freude haben könne, sei doktrinär; ihm fehle der Blick für die gegenwärtig so strapazierte Vielschichtigkeit der Kunst. Die aber ist zunächst qualitativ. Vielschichtig, also keine simple ›Aussage‹, ist jedes einzelne Kunstwerk, das eines ist, in sich; kaum aber die Kunst insgesamt, derart, daß Hohes und Niederes, Gestaltetes und Plätscherndes, Reiches und Armseliges, etwa deshalb, weil es auch jeder dieser Kategorien entsprechende Menschentypen und Konsumenten gebe, friedlich nebeneinander vegetieren könnten. Die Pluralität, an der man sich heutzutage erlabt, ist die Parodie jener, die einmal, in einer hochentwickelten musikalischen Formensprache wie der des Wiener Klassizismus, die Differenzen von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert sanktionierte, obwohl selbst ihre Werke nicht so tolerant gegeneinander sind; obwohl etwa Schubert dort, wo er den Beethovenschen Kriterien nacheifert, fragwürdig wird. Die gegenwärtige Mannigfaltigkeit aber ist nicht die des Reichtums kommensurabler, auf gleichem Niveau voneinander sich abhebender Produkte sondern eine von Disparatem. Sie verdankt sich der Inkonsequenz. Einige Komponisten treiben die im Materialstand prädisponierten Neuerungen allseitig weiter, ohne irgendwelche ›Parameter‹ beim alten zu lassen, während andere nur jeweils einen Sektor anfassen und andere behandeln, als wäre nichts geschehen; manche schließlich beschwören mehr oder minder literarisch das Altertümliche und tasten zugleich es an. Solcher Reichtum ist falsch, und ihm hat das Bewußtsein zu widerstehen, nicht ihm nachzulaufen. Er liegt vor der Schwelle einer Disziplin, an der substantieller Reichtum, der des nicht in seinen groben Merkmalen sich Erschöpfenden, sich erst zu bewähren hätte. Die Mannigfaltigkeit, die in der Schönbergschule Raum hat und von Schönberg, Berg und Webern über die zweite Generation bis zu den verantwortungsvollen unter den seriellen Komponisten sich erstreckt, scheint verbürgter als das chaotische Nebeneinander von Musikfest-Autoren, die zur gleichen Zeit historisch verschiedene Positionen verkörpern und deren synkretistisches Nebeneinander nur das Stilgemenge aus dem neunzehnten Jahrhundert fortsetzt, über das sich zu mokieren heute so billig geworden ist. Mannigfaltigkeit gibt es nur in der Einheit, nicht als Agglomerat von ›Stilen‹ –, was für jede Komposition in sich gilt, gilt auch für das Verhältnis aller zueinander. Der Gestus souveräner Weite, der darüber hinweggleitet und überall sein Gutes findet, gehört in die Sphäre der beflissenen Information, nicht die des kritischen Bewußtseins. Daß alle möglichen Arten von Kunst gleichzeitig gedeihen; daß sie alle irgendwie – das scheußliche Wort stimmt zur scheußlichen Sache – auch die Zeit ausdrücken, legitimiert so wenig das, was da ist, wie bloße Existenz irgend etwas legitimiert. Sonst wäre die sicherlich dem Wilhelminischen Zeitalter höchst angemessene Siegesallee geschichtsphilosophisch oder ästhetisch auf die gleiche Stufe zu stellen mit den Bildern von Monet, Pissarro und Renoir. Die administrativ sanktionierten zwei Ebenen von Musik heute, ernste und leichte, sind vollends nichts anderes als Male einer antagonistischen Gesellschaft, in ihrer Notwendigkeit aus ihr abzuleiten, nicht als solche zu verteidigen. Jene Vielfalt, in der die Kunst ihr Leben hat, ist erst die, welche sich an der musikalischen Konsequenzlogik mißt, an der notwendigen Bezogenheit aller Momente aufeinander, am integralen Werk. Individualität, die dem sich entzieht, den Engpaß nicht durchschreitet, ist ohnmächtig privat, bloßes Relikt. Kaum irgendwo versagt das bloße Geschmacksurteil so gründlich wie in dieser Zone. Findet eine Zuhörerschaft ein zeitgenössisches Stück mit wohligem Schauer besonders hübsch, weil es angenehm klingt oder glatt abschnurrt oder durch ähnliche Qualitäten besticht, so steckt darin meist nur dumpfer Wiederholungszwang, der Genuß bloßen Wiedererkennens: ein Regressionsphänomen, ein Stück unaufgelöster Kindheit, das Gegenteil von deren ästhetischer Rettung.
Ergänzt wird die begriffslose Weite durch den hohlen Anspruch von Zuständigkeit. Heutzutage verfügen viele, die durch keine andere Bildung als die musikhistorische dazu qualifiziert sind, über Autorität und Einfluß aufs musikalische Urteil. Die ihnen nicht gleichen, gelten ihnen vielfach für Experimentatoren, die von vorgeblich höherer Warte sich darüber belehren lassen müssen, daß auf jede Revolution eine Reaktion zu folgen habe; daß, was angerichtet ward, wieder in Ruhe und Ordnung gekommen sei; daß die Berufung aufs Vergangene, wenn man nur philologisch einigermaßen damit umzugehen weiß, dazu tauge, die Musik ›heil‹ zu machen. Dieser Gesinnung gebührt nicht Verteidigung sondern Angriff. Wer, einer unterhöhlten Tradition vertrauend, im Stil des neunzehnten Jahrhunderts weiterwurstelt oder gar aus Weltanschauung Stile längst vergangener sozialer Voraussetzungen kunstgewerblich kopiert und die Ergebnisse mit Klassizität verwechselt, ist nicht im mindesten gesicherter als das letzte präparierte Klavier. Die sich selbst affichierende Tradition gefährdet sich bis zum äußersten; neue Geborgenheit verhöhnt bloß ihre eigene Idee. Darüber hinaus ist der Glaube, die Geschichte bringe die Urteile von selbst in Ordnung; ein nachlebender approbierter Dummkopf werde einmal mehr verstehen als ein Zeitgenosse mit offenen Ohren und mit Vernunft, Köhlerglaube. Er wird lanciert lediglich, damit solche, die zur Sache selbst kein spezifisches Verhältnis haben oder nicht mitkamen, dank ihres Status doch mitreden können. In der Musik sind, im Gegensatz zu den visuellen Künsten, Kompositionen, die vor einem gewissen Zeitpunkt liegen, überhaupt kaum mehr der unmittelbaren Erfahrung offen, sondern von einer Aura des Archaischen umhüllt, die Mißverständnisse stiftet, sobald man sie, wie die Phrase lautet, zu erneuern hofft oder irgendwelche Normen aus ihnen herausliest. Gerade wer des inneren geschichtlichen Zwangs im musikalischen Phänomen sich bewußt ist, entschlägt sich der Illusion, es habe die Übersicht über geschichtliche Verläufe unmittelbar etwas mit Wahrheit zu tun. An dieser freilich ist dem musikalischen Historismus nicht allzu viel gelegen. In dem für die historistische Gesinnung prototypischen Spätwerk Wilhelm Diltheys über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften heißt es einmal: »Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Inhalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe. Der Geist wird souverän allen Spinneweben dogmatischen Denkens gegenüber. Jede Schönheit, jede Heiligkeit, jedes Opfer, nacherlebt und ausgelegt, eröffnet Perspektiven, die eine Realität aufschließen. Und ebenso nehmen wir dann das Schlechte, das Furchtbare, das Häßliche in uns auf, als eine Stelle einnehmend in der Welt, als eine Realität in sich schließend, die im Weltzusammenhang gerechtfertigt sein muß.« Mit ungewollter Schärfe wird in diesen Tiraden von dem arriviertesten deutschen Geisteswissenschaftler ausgeplaudert, worum es der historischen Gesinnung, dem Absud Hegels, geht: die Rechtfertigung des Schlechten. Sie verschreiben sich dem, was gewesen ist, kapitulieren davor: sanktionieren das historisch Gewordene, die Macht der Tatsachen. Der ästhetische Historismus ist die wissenschaftliche Maske des Relativismus. Je nach Belieben kann er mit Argumenten aus der Rumpelkammer das Neue abwehren; wie mit dem Hinweis darauf, all das habe es schon einmal gegeben, man habe in der Florentiner ars nova ebenso wild darauflos kontrapunktiert, während doch die moderne Gesellschaft von den Zuständen, welchen die musikalische Historie sich zu widmen pflegt, sich so radikal unterscheidet, daß jeder Analogieschluß romantisch impotent bliebe. Andere unterstellen das Ältere, das nicht einmal so alt zu sein braucht, als ursprungsmächtig und höhere Wahrheit; oder spielen sich als Fachleute für die Kräfte des Volkes auf; oder benutzen schließlich den zusammenraffenden Überblick über die Geschichte, der einem zeigen soll, wie anfechtbar musikalische Urteile von je gewesen seien, dazu, die Nichtigkeit und Vergeblichkeit des Urteils überhaupt zu demonstrieren und damit, »frei vom Erkennen durch Begriffe«, die dumpfe Anerkennung des Bequemsten, zur Hand Liegenden zu fördern. Wohl bedarf es des Wissens um die geschichtlichen Kraftfelder der Musik. Aber der Schauplatz solchen Wissens sind die Werke, nicht die historischen Koordinaten, auf denen sie sich eingetragen finden; auch nicht die Abfolge der Stile. Man braucht die Errungenschaften der Musikwissenschaft nicht zu unterschätzen und wird doch kaum bestreiten können, daß sie das Entscheidende, das strukturelle Verständnis der Werke selber, bis heute kaum anfaßte. Diejenigen ihrer Exponenten, denen es darum ging, wie Heinrich Schenker und Ernst Kurth, hat sie zum Außenseitertum verurteilt. Unmöglich jedenfalls, von geschichtlichen Phänomenen wie auch immer aufs Heutige zu schließen. Erkenntnis gilt der Figur des aus dem Gewesenen hervortretenden noch nicht Gewesenen, nicht der fatalen Wiederkehr des Gleichen.
Die Abwehr von Surrogat-Kriterien genügt nicht der Frage nach legitimen. Nicht ohne weiteres ist das Neuere, nicht einmal selbst das Konsequentere das Bessere, und Konsequenz kann in sich eine Dialektik enthalten – jene, die in der ›Dialektik der Aufklärung‹ dargestellt ward –, die zur Regression tendiert. Der immanenten Stimmigkeit der Sache nachgehen, involviert nicht notwendig Identifikation mit der abstrakten Bahn des Fortschritts. Wohl sind alle ästhetischen Fragen, alle, die darüber entscheiden, ob eine Musik ein Kunstwerk sei, technische Fragen, solche der Verfahrungsweise. Sie sind aber in eins damit immer zugleich auch übertechnische, geistige. Nichts taugt ästhetisch, was nicht, wie Kolisch es einmal nannte, seine genauen technischen Korrelate hätte. Gleichwohl ist der Begriff des technischen Stimmens1, der der integralen Organisation des Kunstwerks den Kanon vorschreibt, nur Träger des Künstlerischen, nicht das Künstlerische unmittelbar. Das Problem des Kriteriums wäre danach zu präzisieren: wie verhalten sich konkret die technischen Maßstäbe von Stimmigkeit und Konstruktion zum Kunstwerk als einem Geistigen? Ästhetische Objektivität selber ist zunächst immer ein Scheinen, keine buchstäbliche Faktizität. Konstruktion in der Kunst heißt primär nichts anderes, als den Schein hervorzubringen, das Gebilde sei ein in sich Objektives, allgemein Verpflichtendes, Notwendiges, Authentisches; etwas, das nicht anders sein kann, als es ist. Nicht ist das Kunstwerk krud einem Ding gleichzusetzen, das die Logik seines Gefüges, wie etwa eine Zweckform mit Beziehung auf ihren Zweck, handgreiflich unter Beweis stellen könnte. Jene ästhetische Brechung des Konstruktionsbegriffes muß erst einmal erfahren sein. Wird ein Artefakt nur wie ein nach naturwissenschaftlicher Regelhaftigkeit exakt funktionierendes Ding hergestellt, so ist es noch kein Kunstwerk. Es dafür anzusehen macht das regressive Moment am jüngsten Fortschritt aus, den Rückfall aus dem ästhetischen Bereich in Stoffhuberei, das Gegenteil des bei Reaktionären so beliebten Begriffs des ›Intellektualismus‹. Die Entwicklung neuer Klangmaterialien und Konstruktionsprinzipien ist nicht zu inhibieren, sondern über den Drang zum bloßen Basteln hinauszutreiben; über eine bestimmte Weise von Infantilität, besonders verführerisch, wo sie mit positivistischer Wissenschaft oder ihrer Terminologie sich fusioniert, die von vornherein gegen das Moment des Sinns im Kunstwerk, des objektivierten Geistes darin, sich verstockt. Blindheit gegen den Sinn, oder Verzicht auf Sinn überhaupt gegenüber bloßem Tun, hat mittlerweile derart sich verbreitet, daß an Sinn überhaupt zu erinnern sich dem Verdacht romantischer Rückständigkeit aussetzt, wo in Wahrheit auf die raison d'être von Kunst reflektiert wird. Jene Regression aber, das Vergessen, daß Kunstwerke nichts Wörtliches sondern Träger eines Geistigen sind, lockt darum so sehr, weil sie sich verbindet mit intransigenter Vernunft in der Rationalisierung der Verfahrungsweisen. Vorkünstlerische Gebilde vermögen dank der in ihnen geronnenen technologischen Arbeit den Eindruck äußerster Sublimierung zu erwecken. Sie orientieren sich an einer primitiven Ansicht vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst. Selbstverständlich hat Kunst von je am wissenschaftlichen Fortschritt teil; so töricht, wie beides unmittelbar in eins zu setzen, wäre der nach amerikanischem Sprachgebrauch ›escapistische‹ Glaube, daß die Kunst, je mehr Wissenschaft und Technologie fortschreiten, sich um so mehr auf die Welt des vorgeblich reinen Gefühls zurückziehen solle und den wissenschaftlichen Geist ignorieren. Eine solche Zurücknahme der Kunst in sich selber nähme sie in Wahrheit nur in die eigene Vergangenheit zurück. Aber durch die legitime und unumgängliche Rezeption wissenschaftlicher Verfahrungsweisen und Techniken wird weder das Kunstwerk ästhetisch garantiert, noch wird sein Unterschied von der empirischen Realität, aus der jene Verfahrungsweisen stammen, aufgehoben. Auch die Malerei des französischen Impressionismus hat mit psychologischen und physiologischen Analysen des Perzeptionsmechanismus gearbeitet und sie der Technik des Malens zugebracht. Aber es ging dabei objektiv nicht darum, daß das Kunstwerk so organisiert werde wie Vorgänge auf der Netzhaut; daß Bilder sich in sinnesphysiologische Dokumente verwandeln. Sondern man hat die Wissenschaft dazu benutzt, malerisch selber neu sehen zu lernen, und danach hat wiederum auch die Welt anders ausgesehen. Die Dynamisierung und Funktionalisierung der Wahrnehmung, ein Geistiges, Geschichtliches, dem fortschreitenden Subjektivierungsprozeß bis ins Innerste Verbundenes, hat jene Funde magnetisch herbeizitiert; weil es ihrer bedurfte, um die neue Erfahrung eines bewegten Boulevards mit Omnibussen und Bäumen zu registrieren, hat man das Objekt in Tupfen zerlegt, nicht, um der optischen Wissenschaft zu gehorchen, welche analoge Vorgänge auf der Retina entdecken mag. Kurz, die Aufnahme der neuen technologischen Elemente lag selber im Zug der künstlerischen Intention. Man wollte subliminale Schichten der Erfahrung dem Kunstwerk zugänglich machen, die anders als durch jene Techniken es nicht geworden wären. Wohl war das den impressionistischen Malern keineswegs gegenwärtig; wohl haben viele von ihnen so bewußtlos wie viele Komponisten heute der technischen Aufgabe sich überlassen. Aber die Beziehung zwischen der Technik und jenen Erfahrungen ist als objektiver Gehalt ihrer Bilder evident. Von Analogem kann sicherlich nicht durchweg in der jüngsten musikalischen Produktion die Rede sein, die ja in der Tat theoretisch zumindest zeitweise die These verfocht, das Kunstwerk stünde schlechterdings außerhalb des Subjekts, ohne doch damit der Frage zu entrinnen, ob Musik ›gehört‹ ist oder vom imaginativen Moment sich losreißt und zum Fetisch wird. ›Gehört‹ ist dabei keine psychologische Kategorie sondern eine objektive, eine der Sache selbst, nämlich die Beziehung von Musik auf ihr klangliches Erscheinen, so wie das erfahrene Ohr zunächst etwa an der Instrumentation, dann an allen kompositorischen Schichten sie registriert. Gerade dies Objektive aber, das, was nach Cézannes Wort »réalisé« ist, weist wie auch immer auf subjektive Vermittlung zurück, sei es die glücklich adäquate Vorstellung, sei es mühsam erprobende und nachvollziehende Kontrolle.
Indessen ist beim Widerspruch zwischen der ästhetischen Objektivität als einem Scheinen und der buchstäblich dinghaften nicht stehen zu bleiben. Nicht minder fiele hinter den gegenwärtigen Stand zurück, wer gut bürgerlich Geist und Technik in der Kunst einander entgegensetzte, als wer beide schlicht identifiziert, geistige Fragen für gänzlich reduktibel auf solche der Hantierung des Materials hält. Wo das Kunstwerk material keine volle Stimmigkeit erreicht, ist es auch ästhetisch betroffen. Das geschärfte Sensorium heute wird von Wirkungen ohne Ursache bestürzt, weit über den Umkreis des bloßen Effekts hinaus, den Wagners Diktum meinte. Die fünfstimmige Tripelfuge in cis-moll aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers enthält, gegen Ende, eine sogenannte pseudozehnstimmige Engführung, also die Aufeinanderfolge zehn imitatorischer Einsätze, obwohl der Satz nur fünf Stimmen zur Verfügung hat. Bach – und darin war er das, was sonst die historistische Phrase der Musik des siebzehnten und früheren achtzehnten Jahrhunderts zu Unrecht nachsagt, barock – verfuhr ein wenig wie jener mythische Regisseur, dem nur wenige Komparsen zur Verfügung stehen und der, wenn ein pompöser Heeresaufmarsch über die Bühne zieht, die Soldaten hinter der Szene zurückeilen und abermals auftreten läßt, um die Illusion von Masse zu erwecken. Wohl ist der Eindruck jener Stelle bei Bach, vor allem dank zusätzlich raffender rhythmischer Mittel, überaus zwingend. Aber man wird doch, bei angespanntem Bewußtsein, von einem gewissen Gefühl von Täuschung ergriffen, wie es in der Architektur längst vertraut ist gegenüber dekorativen Lösungen des Barock, welche konstruktive bloß vorspiegeln, wie es aber in der Musik heute erst dämmert und an alle möglichen Details zumal der Wiener Klassik sich heftet. Das gegenwärtige integrale Kompositionsideal ist wohl auch der Versuch, dieser neuen Empfindlichkeit gerecht zu werden, Musik also zu schreiben, bei der die ästhetische Objektivität koinzidiert mit der technologischen. Der Widerspruch ist kein geringerer als der, daß Kunst heute wie stets ein Scheinen ist und daß doch das bloß Scheinhafte in ihr unerträglich wurde. Alle neue Musik laboriert daran, ob und wie weit es gelingt, ihn zu bewältigen. Die Ahnung eines Widerkünstlerischen am Moment des Scheins in der Kunst, die einmal in der Kritik sich anmeldete, die Adolf Loos am Ornament übte, ist heute bis zum prinzipiell ornamentalen Wesen von Kunst selber vorgedrungen. Ästhetische Sensibilität beschwört am Ende die Gefahr des Widerkünstlerischen herauf, eine Art von Vulgärmaterialismus zweiten Grades, der vergebens triumphiert, es stimme schon, wenn es stimme, während man eigentlich nur soviel weiß, daß es nicht stimmt, solange es nicht auch stimmt.
In allzu blanker Antithese von Einst und Jetzt ließe sich sagen, die traditionelle Musik hätte gefragt, wie Sinn im ästhetischen Phänomen zu objektivieren sei; die neue, jedenfalls in ihrem jüngsten Stadium, danach, wie eine objektiv determinierte musikalische Gestalt Sinn empfinge. Dabei ist der Begriff des musikalischen Sinns nicht definitorisch vorwegzunehmen; wohl aber zu konkretisieren. Vordergründig jedenfalls brauchte sich die traditionelle Musik nicht darum zu sorgen, wie weit sie sinnvoll sei, insofern das vorgegebene Idiom einen Sinnzusammenhang zu garantieren schien. Vokabeln, Grammatik, Syntax, die Logik zumal des harmonischen Fortgangs waren eingeübt wie die der redenden Sprache; sie erlaubten auch bei der Wiedergabe, drastisch darüber zu urteilen, ob diese die Sprache der Musik spreche oder klinge, wie wenn einer etwas liest, was er nicht versteht. Der populäre Unterschied von musikalisch und unmusikalisch kommt dem recht nahe: Phänomene der Phrasierung und Akzentuierung tragen ihn vorab, und sie strukturieren auch die Kompositionen selbst. An der Erfahrung solcher Momente hatte sich der Begriff musikalischen Sinnes gebildet; ihrer muß stets noch mächtig sein, was irgend jenes Begriffs sich versichern will. Heute jedoch, da der musikalische Zusammenhang aus dem spezifischen Gefüge aufsteigt und nicht mehr von einem handfest Allgemeinen vorgeschrieben ist, reicht auch bei vergangener Musik jene erste Vorstellung von Sinn nicht mehr zu. Was wie selbstverständlich auf dem Strom der Musiksprache dahingleitet, macht vielfach sich eben damit der Sinnlosigkeit verdächtig. Die Idee musikalischen Sinnes büßt ihre Selbstverständlichkeit ein: wie im Komponieren so als Kriterium der Reflexion. Sicherlich aber ist sie nicht abzuspalten vom Bewußtsein der Notwendigkeit des Verlaufs, das herbeigeführt wird von seiner Artikulation. Sinnvoll bleibt Musik, die organisiert ist, als müsse sie so, könne nicht anders sein, nur jetzt ohne den Beistand abstrakter Normen. Die Schwierigkeiten aber rühren daher, daß die bisherigen sinnstiftenden Kategorien, auch soweit sie über den handgreiflichen Formelschatz der tradierten Musiksprache hinausgehen, nicht mehr garantieren, was sie einmal versprachen. Modell dafür ist die Durchführung. Daß im zentralen Teil eines Stücks das thematische Material dialektisch werde, sich in seine Möglichkeiten und Gegensätze auseinanderlege, kraft seiner Bewegung über sich hinaustreibe und sich bestätigend wiederherstelle, scheint von der Idee großer entfalteter Musik kaum ablösbar, solange sie, nach Schönbergs Wort, Geschichte eines Themas ist, also je in sich selber ein historischer Vollzug. Aber schon bei Beethoven, und vollends bei Brahms, hat das dialektische Entwicklungsprinzip auf die gesamte Sonatenform übergegriffen, sich keineswegs mit dem Durchführungsteil innerhalb der Formarchitektur begnügt. Am Anfang des Klavierquintetts von Brahms etwa ist die Gestalt in Sechzehnteln, die nach wenigen Takten der Anfangsmelodie den Fortgang anspornt, eine variierte doppelte Verkleinerung jener ersten Melodie, also ›thematische Arbeit‹, sofortiges Durchführen dessen, was unmittelbar zuvor sich zutrug. Die musikalische Fiber bei Brahms ist bereits so differenziert, daß zum Ausgleich das Bedürfnis nach Integration sich aufs äußerste verstärkt. Es kann mit der Verdichtung der Beziehungen nicht mehr bis zur Durchführung warten. Dadurch aber wird diese selber virtuell schon überflüssig: wo alles Durchführung ist, braucht es keine besondere mehr. Berg, darin vielleicht weniger traditionalistisch als Schönberg, hat denn auch in seinen reifen Instrumentalwerken überhaupt auf Durchführung verzichtet. Wie einst die Fuge, stirbt auch die Sonate ab, die zentrale musikalische Form des bürgerlichen Zeitalters. Sonate ohne Durchführung ist kaum mehr eine. In ihr Schicksal reißt sie ihr Material herein, das Thema, dessen ›Setzung‹ keinen Sinn mehr hat, sobald es nicht mehr durchgeführt wird: die Wendung zum athematischen Komponieren ist unaufhaltsam geworden mit der Atonalität; totale Thematik schlägt um in deren Negation. So aber werden allerorten die Elemente einer sinnstiftenden Struktur beseitigt, und ihr Mangel macht die Aufgabe, musikalisch stringenten Zusammenhang herzustellen, fast prohibitiv. Kaum eines unter den sinnstiftenden Mitteln, auch den scheinbar formalsten einer bloßen musikalischen ›Logik‹, das nicht ähnlich mit der traditionellen Formensprache zusammengewachsen wäre. Das registrieren heute die Komponisten, wollen nicht dahinter zurückbleiben, finden aber, je radikaler ihr kritisches Ohr die sedimentierten Sinn gewährenden Mittel als inadäquat tilgt, desto schroffer einem Sinnfremden sich gegenüber, dem sie nun als Einzelne einhauchen sollen, was einmal der objektive Geist vermochte. Verlangt man bei einer evidentermaßen sinnlosen konstruktivistischen Komposition von ihrem Autor Rechenschaft darüber, was in einer bestimmten Phrase Vordersatz und Nachsatz, was die musikalisch-logische Funktion einer jeden Note sei, so wird mit irgendwelchen Parallelitäten von Tonhöhen, Tonstärken, Längen, Farben und ähnlichem geantwortet, die dem musikalischen Verlauf äußerlich bleiben und Sinn nicht zu beschwören vermögen, solange sie nicht das Phänomen selbst syntaktisch artikulieren. Aber das Verlangen nach solcher Rechenschaft ist bereits insofern unbillig, als der musikalische Sinn heute wahrscheinlich sogar in so indirekt von bestimmtem Tonmaterial stammenden Begriffen, wie dem des Vorder- und Nachsatzes, nicht mehr recht einzufangen wäre. Zudem büßen solche Begriffe, je allgemeiner sie werden, je mehr sie sich also der Beziehung auf das historisch bestimmte Tonmaterial entäußern, mehr stets auch ihre eingreifende Macht dem Material gegenüber ein. Prinzipien etwa wie die von Ähnlichkeit und Kontrast und ihrem Verhältnis sind noch zu abstrakt, um allein Sinn herzustellen; Musik kann solche Kategorien sorgsam berücksichtigen und doch des inneren Zusammenhangs entraten. Gleichwohl wären die musiksprachlichen Formkategorien, die überkommenen und ihre abstrakten Schattenbilder, nicht einfach zu liquidieren, sondern zugleich festzuhalten. Die Überlegenheit Weberns rührt daher, daß in einem wie sehr auch entfernten Bezug auf sie noch seine aufgelöstesten Stücke gestatten, die Sinnfunktion eines jeden Tones nachzuvollziehen. Wird der Faden ganz durchschnitten, so ist wohl der Sinn selber dahin. Indessen bedarf es eben der äußersten Sublimierung jener Kategorien, des hellsten Bewußtseins der Veränderungen, die sie im Vollzug der Komposition erfahren; sie sind so wenig zu konservieren wie über Bord zu werfen, sondern zu verwandeln, bis sie im Kraftfeld der Werke zur Übereinstimmung mit der neuen Musiksprache gelangen. Möglich ist das, weil das musikalische Material selber kein Naturmaterial, kein physikalistischer, sich selbst gleichbleibender Begriff ist sondern geschichtlich. Sinn ist eingewanderte Geschichte und darum das Material nicht so sinnfremd, wie es dem blind Zugreifenden dünken mag. Am deutlichsten wird das an der Harmonik. Gut harmonisiert ist heute nicht ein Stück, das ignoriert, daß es jemals eine Tonalität gab, sondern eines, das diese bestimmt negiert und sie, in der Vermeidung ihr entlehnter Klänge oder Strukturen, durch Aussparen also, in sich aufhebt. Ähnlich wohl müßte man es auch mit den entlegeneren Formkategorien des musikalischen Sinns halten. Waches kompositorisches Bewußtsein muß die Kraft des Allgemeinen in der Radikalität der Besonderung aktivieren. Solange also keine anderen Begriffe an der Sache greifbar sind – die Logik eines abschnittweise, nach ›Intonationen‹ gegliederten Komponierens mag sie erzeugen –, wäre doch nach Vorder- und Nachsatz, nach Setzung und Vermittlung, nach Haupt- und Nebengedanken, nach Fortspinnung und Kontrast und ähnlichem zu fragen, zugleich aber nach der Differenz alles dessen vom gegenwärtigen Materialstand, bis zum Verbot hin.
Das Moment der Allgemeinheit, ohne das musikalischer Sinn kaum zu denken wäre, steht gegen die schlechte Allgemeinheit bloßer musikalischer Typen. Es ist die Allgemeinheit im Kern der Individuation, nicht die umfangslogische und gewiß nicht die etablierter Gattungen. Ernst Bloch schrieb irgendwo, es sei für ein Musikstück, das die Überschrift Barcarole trägt, so wesentlich, Barcarole zu sein, wie in sich selber so und nicht anders beschaffen: zu seiner Bestimmung gehöre die Allgemeinheit der Kategorie Barcarole notwendig hinzu. Aber der Begriff, auf den hier rekurriert wird, ist nicht wie bei Hegel der der Sache selbst, sondern meist ein ihr Äußerliches, zur Orientierung Aufgeklatschtes. Die drainierte Barcarole aus dem Klavierzyklus ›Im Freien‹ von Bartók wird von ihrem Titel nur höchst gebrochen beim Namen genannt, zu schweigen von den mittlerweile doch wohl maßgebenden Werken, die einer jeglichen Beziehung auf dergleichen Universalia sich entäußert haben. Die bloße Subsumtion unter den Typus in der Musik reicht nicht heran an den Begriff, der das innere Leben einer Komposition ausdrückt: ob die Barcarole wesentlich eine sei, erweist sich erst an ihrem konkreten musikalischen Gefüge und Vollzug. Selbst an der Chopinschen, die ja ihrem Titel noch Ehre macht, vernimmt man von der spezifischen Qualität – dem Sinn – nichts, wenn man es vom Titel her belauert. Hört man aber das Stück selber richtig, dann mag sogar, wenn die romantische Metapher verwendet werden darf, die Vorstellung des glühenden Venezianischen Abendhimmels aufgehen, die der bloße Titel nur beredet.
Auch vom Ausdruck ist der musikalische Sinn abzuheben. Dieser steht zum erklingenden Phänomen nicht wie in der Sprache das Gemeinte; nicht wie Symbolisiertes zum Symbol, sondern springt aus Konfigurationen und Entwicklungen hervor. Sinnvolle Musik muß nicht ausdrucksvoll sein. Ausdruck, das Mimetische in der Musik, das, dem nach Eimerts Wendung die Musik »ähnelt«, ist nur ein Moment ihres Sinns, gespannt gegen ein anderes, das von Konstruktion und Logizität. Wohl sind auch diese entgegengesetzten Momente dialektisch durcheinander vermittelt. Der Zug eines Stückes, die Gewalt seiner Form, das Zwangvolle der Konstruktion setzen tendenziell in Ausdruck sich um, gleichgültig, ob die einzelnen Partien oder Phrasen expressiv sind. Der Ausdruck großer Reprisen bei Beethoven wird gar nicht nur von der gesteigerten Intensität bewirkt, mit der die Komposition das Hauptthema vorträgt, sondern auch davon, daß es als Resultat wiederkehrt, daß die Durchführung darin terminiert, also von der formalen Organisation. Der Formverlauf bestätigt mit dem Charakter des niederschmetternd Unausweichlichen durchs Ganze, was zu Anfang bloß gesetzt und dann seiner Geschichte unterworfen war. Sind alle formalen Elemente der Musik sedimentierte Inhalte, so führt umgekehrt auch alle geglückte Form Ausdruck mit sich, wäre er selbst im Detail rigoros ausgespart. In den heroischen Zeiten der neuen Musik und schon bei Mahler fand sich zuweilen die Vortragsbezeichnung non espressivo oder »ohne Ausdruck«. Sie ist aber selbst zugleich die eines wenngleich negativen Ausdruckscharakters, mag sie es wollen oder nicht, und es wäre naiv-idiosynkratisch zu glauben, man könne dem entgehen. In mancher Musik, zumal solcher von gelockerter Konstruktion, wird die Einheit des Sinns geradeswegs durch den Ausdruck gezeitigt, durch die unzweideutig sprechende Darstellung eines Gefühls. Der letzte Satz der Schumannschen Phantasie dankt seine Expansion dem Ausdruck des sich nicht Haltens, sich Herschenkens, sich ins Offene Ergießens; was darin geschieht, wächst diesem Charakter zu. Aber die neue Musik kennt extrem andere Stücke, wie den ersten Satz von Schönbergs Drittem Quartett. Ihr Sinn rührt her von der eisernen Verklammerung. Bei aller formalen Ungebundenheit, aller Verneinung des Schemas wird äußerste Gebundenheit gleichsam vom Willen anbefohlen, und das wird darin beredt: das beschworene Bild eines lückenlosen musikalischen Determinismus, fast ohne lyrische Ausdruckscharaktere, schlägt am Ende in Ausdruck um. Erst wenn man einräumt, daß die integrale musikalische Gestalt, Konsequenz des rationalen abendländischen Musikideals, nicht selber das Ideal sei, und neben ihr das Potential der Desintegration abermals visiert, das der neuen Musik in ihrer expressionistischen Phase vertraut war, wird man der sinnstiftenden Funktion des Ausdrucks wieder größere Chancen geben; dann vermöchte wohl auch die harmonische Dimension wieder ein Eigengewicht zu gewinnen, das ihr heute mangelt, das aber in der freien Atonalität zuweilen stärker war. Freilich fiele auch solche Desintegration noch in einen Zusammenhang, der den Sinn produziert. Sinn heißt nicht stets, daß alles einträchtig zusammenhängt; wohl aber haftet er am Zusammenhang auch des nicht Zusammenhängenden. – Schließlich gleicht der Begriff des Sinnes nicht dem der poetischen Idee, wie er, in Mißverständnis Beethovens, die neudeutsche Schule beherrschte. Die Idee von Musik, der geistige Gehalt, durch den jegliches sinnliche Phänomen sich transzendiert – das sind nicht irgendwelche parallel zum musikalischen Tatbestand ablaufenden Vorstellungen. Spielen sie herein, wie in Schönbergs Klavierkonzert, so wirft die Komposition sie als Krücken fort, sobald sie sich recht aus sich heraus bewegt. Auch hier wäre Purismus borniert; ein Werk wie die freilich retrospektive Zweite Kammersymphonie stellt eine poetische Idee mit schlagender Eindringlichkeit vor Augen, ohne dem Schein des unverbindlich Vorgestellten sich zu überantworten. Sonst aber ist Sinn, das Geistige an Musik, jene Art von Transzendenz, in welche ihr Immanenzzusammenhang übergeht: mehr als Sinnliches, gezeitigt durch die Bewegung des Sinnlichen selbst, während es nicht von sich aus ein anderes behauptet als was es ist, was es bewegt und was es negiert.
Mit alldem bleibt der Begriff des musikalischen Sinns noch zu formal. Nicht genügt als Kriterium, ob überhaupt durch ihren Zusammenhang die Momente des sinnlichen Da der Musik über sich hinausweisen, sondern erst die Entscheidung über den Gehalt dieses Hinausweisens. Bei Beethoven etwa läßt er heute unter der Idee der Humanität sich denken, dergestalt, daß das Ganze den Vorrang vor den einzelnen Momenten behauptet, aus deren Impuls es sich doch mit einer Art List der Vernunft bildet; so wie die Menschheit den Vorrang hat vor den bloß für sich seienden Individualitäten, in denen sie gleichwohl besteht. Eine solche Bestimmung des musikalischen Sinns schließt, mit einem umfunktionierten Terminus der historischen Wissenschaften, ›höhere‹ Kritik ein, die an der Wahrheit des Gehalts. Der Vorrang des Ganzen, der in der Beethovenschen Form sich behauptet, und in eins die permanente Negation alles Einzelnen bezeugt das repressive Moment der emphatisch bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, und Beethovens Qualität ist davon nicht schlechterdings unabhängig: die Paukenschläge, die von manchen seiner Ouvertüren allein übrig sind, wenn man sie von außen hört, verraten etwas vom Unvernehmbaren. Nicht anders wird man bei Wagner den sinnhaften musikalischen Zusammenhang als eines Wesens erkennen mit dem blinden, kreislaufhaften, zuinnerst ahistorischen poetischen Gehalt, am Ende mit der Philosophie Schopenhauers, in welcher der blinde Wille sich individuiert nur, um das Individuierte wiederum in sich hineinzuschlingen2. Solche Einheit von Wagners kompositorischer Verfahrungsweise mit der bei ihm bereits thematisch gewordenen Philosophie verleiht ihm ebenso die Gewalt, wie sie umgekehrt den kritischen Ansatzpunkt markiert: die Unwahrheit jener Philosophie ist die Unwahrheit seiner Musik und läßt als solche an deren musikalischer Fehlbarkeit, der bloß scheinhafter Entwicklung, sich greifen. Die Entfaltung des musikalischen Sinns zu solcher Kritik bedarf aber wohl der Zeit. Hilflos frönte poetisierender Betrachtung, wer dächte, der gegenwärtigen Produktion analog gerecht zu werden. Ob die Einheit ihres Sinnes als integraler Zusammenhang, ob die Spuren von dessen Desintegration einen Zustand vorwegnehmen, der jenseits der individualistischen Verfassung der Welt läge, oder ob sie hinter diesen zurückfallen, aber damit wiederum den Weltlauf als intelligible Geschichtsschreibung denunzieren, dafür bietet das einzelne Werk dem kritischen Ohr entscheidende Winke, aber gestattet kein bündiges Urteil. Selbst traditionelle Musik ist widerspenstig gegen höhere Kritik. An Brahms etwa hätte sie auszumachen, ob sein spezifischer Ton und seine imponierende Kraft zur musikalischen Realisierung im Gehalt selbst sich rechtfertigt; ob also nicht der Charakter des Resignierten, gleichsam ins Private sich Zurücknehmenden einer Schwäche gleichkomme, die der Stärke des Gestaltens spottet und am Ende auch dem Komponierten sich mitteilt. Nietzsches Kritik an Wagner war vom Schlag solcher höheren Kritik. Aber sie glitt von ihm ab, weil sie die Fragen, die über die bloße Erfahrung des Sinnes hinaus auf dessen Wahrheit selbst dringen, nicht in die kompositorischen Zellen selbst hineintrug. Den souveränen Nietzscheschen Kriterien haftet ein Unverbindliches an, das sich einem Aspekt des innermusikalisch Reaktionären einfügt: Nietzsche war dem, was bei Wagner geschieht, überlegen und doch nicht ganz gewachsen, so wie die Dialektik des Fortschritts stets fast das Avanciertere hinter das zurückwirft, was es hinter sich läßt. Alle höhere Kritik droht zur Ideologie, zur Kulturpolitik auszuarten, wofern sie sich nicht zur immanenten, der an der musikalischen Stimmigkeit verdichtet. Den obersten Kriterien an sich aber ist eine Aporie unvermeidlich. Liest man Nietzsches Invektiven gegen die Wagnerische Dekadenz und Schauspielerei, so wird man ein Unbehagen am latent Philiströsen nicht los, wie scharf er auch das Philiströse an Wagners eigener völkischer Weltanschauung gewahrte. Denn ungewiß ist, ob die künstlerische Qualität und der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke so säuberlich sich decken. Allzu nahe ist die Versuchung, solchen höchsten Ranges, die eine wie immer auch geartete ›negative‹ Bewußtseinslage verkörpern, geringeren Rang zuzusprechen als denen aus vermeintlich positiver. Dann würde das Kunstwerk einem Positivitätswahn geopfert, gegen den es vorweg aufbegehrt. Die These, daß Beethovens Musik, weil in ihr die Idee der Menschheit als ganzer, der Freiheit, der Humanität laut wird, mehr tauge als die Wagners, in der, gleichgültig mit welcher Tendenz, eine Stunde widerhallt, der diese Kategorien verloren sind, führt in die fatale Nachbarschaft von Kunstphilosophie im Stil des Verlusts der Mitte. So bedauern Musikhistoriker die Zwiespältigkeit Mahlers. Die Wahrheit des Kunstwerks ist eher, daß sein Sinn den geschichtsphilosophischen Stand, die Widersprüche der Situation bis in die Tiefe der je zu bemeisternden technischen Widersprüche hinein nennt und dadurch vielleicht schon übersteigt, als daß es von sich aus, unvermittelt, die Wahrheit des philosophischen Bewußtseins ausspräche. Seine Wahrheit kann gerade in der Treue verkapselt sein, mit der es einen negativen Zustand ohne Polemik, gleichsam mit geschlossenen Augen festbannt, und einzig durch solche Treue, in bestimmter Negation, zur Positivität transzendiert. Doch auch das ist nicht absolut verbindlich. Wieviel an lyrischer Differenziertheit, Zartheit, Fülle des heimgebrachten Gehalts die Lieder Weberns vor denen Schuberts voraushaben mögen, es wohnt gleichwohl, und wohl gar darum, den Schubertschen ein Moment des Authentischen, der objektiven Notwendigkeit inne, das bis heute zumindest an Weberns späten Gesängen noch nicht ebenso hervortritt. Die objektive Verbürgtheit der musikalischen Sprache, der ihre legitime Kritik widerfuhr und die nicht aus dem Willen wiederherzustellen ist, wuchs doch auch der Qualität der Gebilde zu. Diese Antinomie ist nicht wegzuräumen. In den obersten Fragen der musikalischen Qualität trifft man wahrhaft auf die Spur jener Relativität, welche der gemeine Verstand dem Urteil über den schlichten Wert oder Unwert einer Komposition zu Unrecht nachsagt: der mit der Vieldeutigkeit der Kunst selbst gesetzten Relativität, durch die Kunst doch wiederum gegenüber der Eindeutigkeit der ratio bewahrt, was jene sonst am Geist vertilgte. Es ist das aber keine andere Relativität als die des ästhetischen Scheins schlechthin.
Jüngst wurde der Begriff des Sinnes selbst kontrovers: das Verhältnis künstlerischer Mittel zu einem künstlerischen Zweck. Heinz-Klaus Metzger schrieb: »Daß Kunstwerke einmal einen Zweck hatten, der durch den gesellschaftlichen Anlaß oder in einer Liturgie gegeben war, muß man sich heute nachgerade bei Messen, wenn man sie mit den Ohren des Musikers hört, mühselig in ein Gedächtnis rufen, das ein historisches in einem dubiosen Sinne ist. Seit Kunst aus den Diensten der Herrschaft ausbrach, verfolgen die legitimen Werke jedenfalls keinen sehr offensichtlichen außer ihnen selbst liegenden Zweck mehr, und dies reproduziert sich notwendig nochmals in ihrer inneren technischen Zusammensetzung: es gibt keine Differenz mehr zwischen der Artikulation und dem Artikulierten, zwischen der Darstellung und dem Dargestellten. Mag sein, daß Kunst damit wirklich zwecklos geworden ist, daß sogar die Gleichung zwischen Zweck und Sinn stimmt. In der Tat weiß niemand mehr sehr genau anzugeben, was Kunst eigentlich soll. Ihre Emanzipation war vielleicht selbstmörderisch. Um so anachronistischer ist die Frage nach dem Verhältnis von Zweck und Mittel in ihrer internen technischen Komplexion. Aber meint ihre Freiheit – l'art pour l'art – nicht gerade den bestimmten Widerspruch zur Gesellschaft?« Die Frage nach musikalischer Qualität überhaupt ist Metzger verdächtig als ein Stück Warencharakter; der Vergleich ästhetischer Qualitäten sei ein »concours über die Jahrzehnte hinweg«, eine Art musikalischer Konkurrenzkampf. In der Konsequenz solcher Gedanken nun müßte Metzger sich selber einem handfesten ästhetischen Relativismus überantworten, den er und die junge Darmstädter Schule mit Grund von sich weisen. Aber seine Argumentation scheint zu einsinnig. Der Widerspruch von Kunst zu ihrer gesellschaftlichen Rezeption, in seiner Abstraktheit, vindiziert sie noch nicht. Wohl hatte an der Bildung der musikalischen Qualitätskategorie der Markt historisch seinen Anteil, aber was auf dem Markt sich durchsetzt, war nie bloß der Tauschwert – dessen blinde Vorherrschaft ist erst heute etabliert – sondern immer auch ein anderes. Die Fähigkeit zum Unterscheiden von Qualitäten überhaupt wäre ohne den Markt nirgends gediehen, so wie sie umgekehrt zu sich kommt erst in dem Augenblick, in dem sie vom Marktmechanismus sich befreit hat. Nicht alles muß dem gleichen, woraus es entsprang; die musikalische Qualität, durch die einmal vielleicht eine Komposition als bessere Ware sich empfahl denn eine andere, hat längst sich objektiviert und wurde zu einer Bestimmung der Sache selbst, an der freilich die Spur des Warenhaften so wenig ganz auszumerzen wäre wie an irgendeinem Produkt der bürgerlichen Gesellschaft. Was Metzger selbst an der Mittel-Zweck-Relation in der Kunst erkennt: das Einwandern einer dem Gebilde ursprünglich äußerlichen Kategorie in es selber, gilt auch für die musikalische Qualität. Insgesamt ist das Verhältnis von Zweck und Mittel komplexer, als er es beschreibt. Das Wort Zweck ist äquivok. Es meint ebenso die Subsumtion des Kunstwerkes unter heteronome Verwendungen wie seinen immanenten Sinn, zu dem die Mittel sich versammeln und der sie herbeizieht. Dadurch, daß die Kunst des bürgerlichen Zeitalters der Beziehung auf ein ihr äußerliches Ritual oder auf soziale Zwecke sich entwand und ihren Zweck in sich selber, ihrer eigenen Wahrheit suchte, ist die Spannung von Mittel und Zweck nicht zergangen, sondern mit der Sinnlosigkeit der unqualifizierten Mittel angewachsen, und das gerade, keineswegs die bloße Herrschaft der Mittel, ratifiziert das l'art pour l'art, indem es auf radikale Herrschaft über die Mittel aus ist. Im autonomen Kunstwerk wird jegliches Mittel gerechtfertigt durch die Funktion, die es für die anderen und alle für das Ganze haben, das kraft eines solchen Funktionszusammenhanges zum Sinn, zu mehr als bloßer Erscheinung wird. Wo der Inbegriff der Mittel – ohne auf Symbolbedeutungen zu schielen – nicht derart über sich selbst hinausschießt, regrediert das l'art pour l'art auf seinen extremen Gegensatz, die amusische Bastelei. Wohl mag all das den Künstlern verhüllt sein; wohl verbergen in Fragen der Mittel sich Antworten des Zwecks. Theorie aber, wofern sie mehr sein will als der bloße deskriptive Nachvollzug dessen, was im Bewußtsein und Unbewußtsein der Künstler sich abspielt und was grundverschieden ist von ihren Werken, darf von der Frage nach dem immanenten Zweck, also dem Wozu eines jeglichen Mittels im Ganzen, sich nicht abbringen lassen, wenn sie nicht der Degeneration des buchstäblich Notwendigen zum geistig Zufälligen sich überantworten will.
Die Leugnung der Differenz zwischen Artikulation und Artikuliertem, zwischen Darstellung und Dargestelltem ist richtig zugleich und falsch. Richtig, soweit sie daran erinnert, daß der Wahrheitsgehalt des Kunstwerks, die ›künstlerische Idee‹ nicht jenseits der Gestalt, als ihre ›Intention‹, angesiedelt sei; falsch, weil die musikalischen Mittel, die ›Darstellung‹, durch ihren Zusammenhang mehr sind, als was sie bloß sind und in ihm etwas erzeugen, was im puren Tatbestand der Mittel sich nicht erschöpft. Man mag den Unterschied zwischen künstlerischem Sinn und Mitteln, auch denen kalkulabler Determiniertheit, sich recht simpel vergegenwärtigen. Wird bei der Analyse einer Komposition nach der Legitimation einer Phrase gefragt, so verweist der Komponist gern auf die Reihe, deren Ableitung die Phrase ist, auf serielle Bezüge und Korrespondenzen. Demgegenüber ist zu beharren auf der Funktion jener Phrase hic et nunc: was für den Verlauf der Form die betreffende Stelle an dem Ort des Formverlaufs leistet, an dem sie steht, und worüber der Hinweis auf ihre Herkunft oder ihre Ableitung aus dem Grundmaterial keine zureichende Auskunft gewährt. Bei der Antwort mögen dann auch die Bezüge aufs Ausgangsmaterial ebenso wie der Plan der Gesamtform ihre Rolle spielen, denn Erinnerung und Erwartung sind in Musik selbst integrale Momente ihrer Gegenwart; abgelöst aber von der Frage, was das Erscheinende jetzt und hier erfüllt, um sich im lebendigen Zusammenhang zu erweisen und zugleich einen solchen herzustellen, wäre jede im weitesten Verstand ›genetische‹ Frage eine nach dem bloßen Mittel und sinnfremd.
Musikalischer Sinn, realisiert in der integralen Komposition, nennt extrem eine Idee. Wollte man sie unmittelbar, undifferenziert auf jedes Werk anwenden, so versäumte man bei zahllosen, was sie von sich aus, ihrer Anlage nach, wollen, und verginge sich nicht nur gegen das immanente Verfahren, sondern gegen einen ästhetischen Takt, der möchte, man solle Kunst ganz ernst nehmen und doch nicht tierisch ernst. Zur Korrektur mag – obwohl durch den Namen Ludwig Klages kompromittiert, der ihn in der Graphologie einführte – der Begriff des Formniveaus helfen und zugleich den Irrtum abwehren, die Erkenntnis des Ohrs erschöpfe sich im bloßen Abklopfen eines jeden Werkes auf seine technische Konsequenz hin. Die gegenwärtige Verwirrung musikalischen Urteils gründet nicht nur in Traditionsverlust und einer Spezialisierung, die selbst unter den sogenannten Fachleuten einer immer geringeren Zahl Verständnis erlaubt, sondern auch darin, daß im chaotischen Musikbetrieb Werke miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden, ohne daß ihrem Formniveau nachgefragt wäre. Dabei haben dann solche niedrigeren Formniveaus, in denen alles rascher und leichter funktioniert, bessere Chancen als solche des höheren, das mit den Forderungen radikaler Gliederung und Artikulation weit größere Schwierigkeiten setzt. Freilich wird man den Begriff des Formniveaus von der Psychologie emanzipieren müssen; also nicht an den Komponisten und seine Absicht denken dürfen, sondern objektiv dem Ansatz der Werke selber folgen. Er wäre definiert durch das Problem, das eine jegliche Komposition von sich aus sich selbst stellt; die Dignität dieser je gestellten Probleme macht die Niveauunterschiede aus. Ein in sich blank aufgehendes, lückenloses Stück etwa des motorischen oder des einthematischen Typus, das dem Einspruch den Atem verschlägt, kann demnach schlechter sein als ein brüchiges, ›mißlungenes‹, das vorab mehr von sich verlangt und bei dem die Brüche selber etwas besagen; bei bedeutenden Werken wird das Maß des Mißlingens eines ihrer Bedeutung. Kunstwerke sind um so tiefer, je reiner sie die Widersprüche ihres Ansatzes, ihrer eigenen Möglichkeit in sich ausprägen. Indessen bedarf auch der Begriff des Formniveaus der Behutsamkeit. Die Wald- und Wiesenfuge eines Konservatorianers mit ihren Engführungen rangiert nicht um deren selber noch vorkünstlerischer, übrigens recht überschätzter Schwierigkeit willen höher als ein leicht hingeworfenes, aber meisterliches Stück von Rossini. Was an einer Musik ihr immanentes Problem heißen darf, ist nicht ohne weiteres auf die Formel des Unterschieds von kompliziert und primitiv zu bringen, obwohl heute, wo das Einfache nicht mehr einfach, sondern meist ressentimenterfüllte Reaktionsbildung aufs Komplizierte ist, jene Gleichsetzung fürs erste ausreicht. Bei Mozart jedoch und dem in vielem Betracht sehr ökonomischen und auf Vereinfachung als auf ein Resultat drängenden Beethoven indiziert sich das Formniveau in dem komplexen und subtilen Verhältnis einzelner an sich recht einfacher musikalischer Charaktere zueinander; oder in dem Ganzen, das aus einem fast nichtigen Einzelnen dynamisch ›wird‹. Der Wiener Klassizismus hat sein Wesen geradezu an der Herstellung des obersten Formniveaus bei sorglich bewahrter Simplizität, und sein freilich vergänglicher Augenblick war der paradoxe Einstand beider Momente. In neuer Musik wäre der Unterschied von Formniveaus am schlagendsten wohl darzutun an Kompositionen, die vergleichbar sind durch eine gewisse Simplizität, wie dem ›Kranken Mond‹ aus Schönbergs ›Pierrot Lunaire‹ und dem ›Nachtstück‹ aus Hindemiths Donaueschinger Kammermusik. Der Abstand der Formniveaus beider Stücke wird nicht durch komplexe Setzweise, stufenreiche Harmonik, kunstreiche Architektur bewirkt, sondern lediglich dadurch, daß das Schönbergische, eine unbegleitete Monodie, in seiner einen Stimme unendlich viel schmiegsamer, gestaltenreicher und damit auch ausdrucksvoller ist als das mehrstimmige Hindemiths, das zwar aus der Wiederholung seines Grundmotivs gerade seinen Effekt zieht, diesen Effekt aber, eben als einen bloßer Wiederholungen, gewissermaßen zu leicht herstellt, rasch verbraucht und der Monotonie verfällt, anstatt sie zu formen.
Die Kategorien des Komplizierten und Primitiven sind nicht so unvermittelt einander zu kontrastieren, wie es einer Allerweltssoziologie kollektivistischer Gesinnung gefällt, welche nach historisch allzu bewährter Schablone die Moderne der Überkompliziertheit und Denaturiertheit zeiht und ihr irgendwelche Erneuerungen von Einfachheit verordnet. Vielmehr war ein Moment aller spezifisch neuen Musik, analog der Malerei seit Cézanne, Gauguin und van Gogh, Primitivität, das Antiornamentale, die Reduktion auf das funktionell Notwendige. Aber diese Vereinfachung, der auch bei Schönberg ein Unterton von Skepsis gegen Kultiviertheit und Geschmack, ein Fauvistisches nicht fehlt, ist zugespitzt lediglich gegen das nach immanentem Maßstab Überflüssige. Die wie immer auch ökonomisch konstruierte Sache jedoch, von Schönbergs ›Mondfleck‹ und Bergs Drittem Orchesterstück bis zum ›Marteau sans maître‹, hat sich zur äußersten Kompliziertheit der Faktur und in eins damit zur äußersten Differenziertheit des Tons folgerecht entfaltet. Dabei bleibt freilich das fauvistische Potential, die Möglichkeit des Kahlen, Nackten, nach dem Wort von Roger Callois der ›aridité‹, immer gegenwärtig, wenn nicht die neue Musik selber in den Kulturkonformismus zurückschlagen will, dessen Kritik sie zum Lebenselement hat. In jedem Betracht bewegt sie sich zwischen den Extremen und schließt nur die sichere Mitte aus; bei Webern etwa gehen äußerste Differenziertheit und asketische Kargheit ineinander über bis zur Identität: jenes nach innen Hören der Musik, dem sie bei Webern ihr ungeahnt Neues verdankt, läßt sie zugleich auf alle Fassade verzichten und macht als falschen Reichtum verdächtig, was eben noch Glück der Fülle dünkte. So stehen denn auch in der jüngsten Entwicklung Kompositionen aus gegeneinander getupften Tönen Gebilden wie dem ›Marteau sans maître‹ oder der Zweiten Klaviersonate von Boulez gegenüber, der überhaupt dazu neigt, unverbundene extreme Möglichkeiten so auszuprobieren, wie man es bislang bloß in der avantgardistischen Malerei wagte. Primitivität in der neuen Musik jedenfalls hat ihr Recht bloß als kritische, als Extrem des Demolierens und der Verfremdung. Wird Primitivität sich selber zum Positiven, mißdeutet sie sich etwa als allgemein verpflichtenden neuen Stil, so hat sie bereits mit der Welt paktiert. Das Recht von Primitivität hängt ab vom Formniveau, etwa dem des ›Sacre du printemps‹ im Vergleich mit irgendeiner Spielmusik: dort die sei's auch fragwürdige Anstrengung zum Eingedenken eines vom Vergessen Zugeschütteten und doch noch Umgeisternden, hier das eitle und ohnmächtige So-Tun, als ob man jetzt und hier Einfachheit hätte, die musikgewordene Phrase von der neuen Geborgenheit. Solche Divergenzen der Formniveaus lassen sich technologisch ausdrücken: im Strawinskyschen ›Sacre‹ ist auf jeder Partiturseite die subjektive Empfindlichkeit und Sensibilität verzeichnet, welche den Primitivismus herbeiruft, ein Aspekt, den die Rancune mit Ausdrücken wie ›Raffinement‹ denunziert, während jenes Moment den Spielmusiken mangelt, deren Einfachheit bloß der bequemsten Hörgewohnheit und der geringsten Anstrengung zu Willen ist. Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß der primitivistische Aspekt aller neuen Kunst – etwa auch der folkloristische, bis zur Sympathie des ›Blauen Reiters‹ mit bayerischer Bauernmalerei – das reaktionäre Potential immer schon in sich birgt. Noch die Spielmusiken von heutzutage leiten sich mit den Zwischenstationen Hindemith und Orff von Strawinsky her, trotz dessen Überlegenheit über die Bindungen des Gemeinschaftsschunds. Wesentlich wohl, worauf zurückgegriffen wird. Werden archaische Regungen und Residuen aufgegraben, so sind sie, als erinnerte und erhellte, nicht nur verherrlicht, sondern es ist auch etwas von ihrem Bann gebrochen. Beim gemäßigten Archaisieren aber, das nicht Regungen sondern vergangene Stilideale meint, borgt man den Schein des Umfangenseins sich aus, der gesprengt würde durchs Gedächtnis daran, wie wenig Musik im Subjekt der bürgerlichen Kultur sich erschöpft. Das Wort Primitivismus deckt noch im œuvre identischer Autoren Entgegengesetztes: die Kargheit von Weberns opera 7 bis 11 steht am anderen Ende der Skala als manche seiner Spätstücke.
Sind die technischen Momente vermöge ihrer Konfiguration zugleich übertechnische, so muß die geistige Erfahrung von Musik nicht notwendig von jenen ausgehen, sondern mag beim Übertechnischen anheben. Hat Schumann im zweiten Stück der Kreisleriana zum ersten Mal musikalisch den Gestus dafür entdeckt, an ein längst Vergangenes sich zu erinnern, anstatt daß Musik unmittelbar sich entfaltete, so war das nicht minder kühn und produktiv als irgendeine Verstärkung der technischen Einheitsbeziehungen; zu schweigen von Entdeckungen wie der fragmentarischen, fragend ins Unendliche deutenden Kurzform in manchen der Schumannschen Kinderszenen und Chopinschen Präludien, ohne die Schönbergs op. 19 und Weberns expressionistische Miniaturen schwerlich existierten. Solche Schichten des Komponierens trocknen durch die Konzentration auf musikalische Materialbeherrschung oder, in der Sprache der ›Dialektik der Aufklärung‹, auf Naturbeherrschung ein; damit aber auch das Spannungsfeld der Musik, ähnlich dem der Philosophie unter der Paßkontrolle des logischen Empirismus. Alles droht in der puren sich selbst Gleichheit zu verschwinden; was einmal in der idealistischen Philosophie die Reduktion der qualitativen Fülle auf das pure Ich denke anrichtete, wiederholt sich ästhetisch. Im Augenblick – und das Tempo der Entwicklung hat in einer Weise sich beschleunigt, über die selbst nachzudenken wäre – scheint alles abzuhängen von einer Selbstreflexion des Komponierens auf jene Schichten, darauf, ob der keineswegs zufälligen Nivellierungstendenz neue Charaktere zu widerstehen vermögen, ohne doch hinter der strukturellen Einheit zurückzubleiben. Ein Werk wie der ›Marteau sans maître‹, das freilich Puristen bereits verdächtig ist, bestätigt sich nicht nur an der Dichte der Faktur und dem bunten Reichtum der klanglichen Anschauung sondern auch an der Kraft zur Charakterisierung im einzelnen. Wenig verschlägt, ob die kompositorische Absicht auf Lockerung ging oder ob die Charaktere durch die Flexibilität der Konstruktion selber gezeitigt wurden. Stockhausens ›Gesang der Jünglinge‹ zeigt ebenfalls weit drastischer voneinander abgehobene Charaktere, als sie bei der Nachkriegsgeneration zuvor beliebt waren. Alle diese Charaktere sind technisch vermittelt. Selbst für so spirituelle Phänomene wie das Schumannsche »Dieses ist lange her« ließen sich in der Setzweise, der Sonorität eines wie aus der Ferne Aufklingenden, in der Behandlung von Vorschlägen und Akkordbrechungen, die der Rhythmik das Eindeutige bloßer Gegenwart nehmen, technische Korrelate finden. Ansätze musikalischer Erkenntnis dieses Typus kommen, sei's auch psychologistisch verzerrt, in Kurths Musikpsychologie vor und auch in der ›Romantischen Harmonik‹. Allgemein jedoch ist das musikalische Analysieren bis heute gegenüber derlei Fragen ganz rückständig. Selbst mit neuer Musik aufs engste Vertraute neigen zur bloßen technologischen Tatbestandsaufnahme und entrichten damit dem positivistischen Betrieb der Musikwissenschaft ihren Tribut.
Bedingungen des Charakteristischen scheinen überlieferte Kategorien, wie Einfall und Originalität. Beide sind mit Grund in Verruf geraten3. Wie sie erst unterm Kapitalismus zu musikalischen Normen wurden, so waren sie mit dem Markt verfilzt, der nouveauté des Angebots, der Kennmarke des Verkäuflichen. Wohl steckte in der nach dem originellen Einfall gewerteten Musik auch etwas von bürgerlicher Emanzipation gegenüber schablonenhafter hierarchischer Starrheit. Aber sie ist längst zur Pseudo-Individualisierung, zum Schlager mit der Melodie verkommen, die wie alle andere ist und durch ein minimales Auffälliges, einen Trick, ein ›gimmick‹, gleichwohl behalten werden kann. Dennoch rationalisiert sich in der Verwerfung des Originalen zugunsten einer Objektivität, die der Rücksicht auf das Zum ersten Mal durch ihren immanenten Zwang sich ledig wähnt, ein Schlechtes: Wut auf Individuation selber, der Drang, die Einzelregung abermals auf die Schablone, das pattern, herunterzubringen. Das Subjekt eignet sich, um es aushalten zu können, von sich aus nochmals zu, was von außen über es verhängt ist. Weil Phantasie keinen Raum mehr hat im Getriebe, verbieten die ohnehin Phantasielosen sie sich selber. Nun besagt gewiß isolierte Originalität, zumal die vulgäre Vorstellung, daß einem Melodien einfallen, die anderen noch nicht eingefallen sind, nicht viel. Sie geht denn auch fast unweigerlich selber in die Schablone der Selbstnachahmung über. Die Entwicklung von Kurt Weill, der freilich, als Musikdramaturg, gar nicht immanent kompositorischen Kriterien untersteht, zeigt das sehr kraß; auch das Partikulare, Einseitige einer Musik, die dem Idol des einprägsamen Einfalls nachjagt, die einzelnen Einfälle dem Modell des je erfolgreichsten annähert und sich dadurch genau um das bringt, was sie gar zu gern möchte. Vollends hilft heute die Originalität subjektiven Komponistentemperaments, soweit sie bloßer Gestus bleibt und nicht in die kompositorische Struktur findet, wenig. Aber eigentliche musikalische Charaktere und ihre Totalität, der ›Ton‹ eines Komponisten, wie ihn jeder Takt von Mahler, Berg, Webern zeigt, haben doch mit Originalität das Unauswechselbare, Nicht-Fungible gemein; wo solcher Ton puristisch ausgetrieben würde, wäre das Beste vergessen. Auch ästhetisch ist Objektivität nicht durch bloße Subtraktion zu erlangen, nicht durch ›Ausklammerung‹ – der Husserlsche Terminus wurde zum Modewort des gegenwärtigen Deutschland – des Subjekts. Fällig wäre die Formulierung eines objektiven, von der Zufälligkeit der kompositorischen Person wie von den sachfremden Desideraten des Marktes gleich unabhängigen Begriffs der Originalität. Diese wäre dem Namen zu vergleichen, den das Komponierte wortlos, unausdrücklich trägt und den seine Konfiguration schreiben soll. Enträt eine Komposition solchen geheimen Namens des Unterscheidenden, das ihr Allgemeines birgt, so ist sie schlecht und vorkünstlerisch; vielfach schon bei Reger, dessen Werke so häufig Sammlungen vertauschbarer Modulationsbeispiele scheinen; vollends heute dort, wo man, gestützt auf eine naturalistisch primitive Vorstellung vom Material und seiner ›Manipulation‹, gegen den Namen wütet.
Innerhalb des tonalen Systems meinte die Frage nach der Originalität im allgemeinen Themen oder Motive: ›Einfälle‹. So sinnfällig ist der Unterschied eines authentischen Einfalls von bloßem Kompositions›material‹, daß das Kind mit dem Bade ausschüttete, wer jene Kategorie ignorierte. Die Geschichte kannte eine lange Epoche hindurch Kompositionsstile, zumal die Oper, deren Kriterium der Einfall war, und etwas davon rettete sich in die neue Musik hinüber; die Schönbergs zumal quillt über von melodischen Einfällen; aus den Zwölftonwerken sei das Vierte Quartett genannt: wie bekannt, hat er im allgemeinen die Reihe nach dem primären Einfall gemodelt, nicht umgekehrt. Inferior wird die Frage nach dem Einfall erst, wo er, ein irreduktibles Moment der musikalischen Sprache, an dem, wie das Wort Einfall selbst bezeugt, der Komponist als Individuum kaum Anteil hat, diesem als Eigentum zugeschrieben, wo Komponisten danach bewertet, wo solche, bei denen man Anklänge aufspürt, verworfen werden. Diese Verdinglichung des Einfalls und seine schlechte Verabsolutierung sind eines Sinnes. Große traditionelle Musik enthält demgegenüber auf Schritt und Tritt thematische Anklänge, sogar recht prägnante Melismen, die im Zusammenhang völlig verschiedene Bedeutung annehmen. Das Thema des Scherzos aus Schuberts d-moll-Quartett wird zum Schmiedemotiv aus dem Ring; das Hauptthema von Beethovens C-Dur-Sonate aus op. 2 ist auf dem Papier dem zweiten Thema aus der Einleitung zur Siebenten Symphonie verwandt; ebenso das Thema des Finales der g-moll-Symphonie von Mozart dem Scherzo von Beethovens Fünfter. Hier überall jedoch reduziert sich die Ähnlichkeit, außer auf rhythmische Analoga, auf eine erst in der neuen Musik voll entfaltete Kategorie, eben die ›Reihe‹, Intervallfolgen, die nur hier noch der Tonalität angehören und an der musikalischen Oberfläche erscheinen. Bei Mahler dann hat der traditionelle Begriff des Einfalls sich überschlagen; das Entlehnte, Abgegriffene, schon bekannt Klingende wird bei ihm zum Ferment, zum Ausdrucksträger; ohne es wäre der Gehalt nicht zu denken. Zur selben Epoche haben jedoch auch Komponisten wie Debussy, Richard Strauss und Reger, jeder auf seine Weise, die Einfallskategorie suspendiert, während Pfitzner, der sie ins Zentrum seiner Ästhetik rückte, gerade vor ihr versagt. Schon als Wagner im Meistersingertext den bürgerlichen Eigentumsbegriff auf die musikalische Originalität übertrug, war diese an jenem nicht mehr zu messen; die Denunziation Beckmessers hat bei dem etwas Projektives, dessen Zeitgenossen bereits eine Unkraft der Erfindung bemängelten, die wohl mit der Verbrauchtheit der Tonalität sich erklärt. Was vollends in der neuen Musik handfest als originell auffällt, ist meist kaum mehr als ein Aha-Effekt, das Wiedererkennen einer eingespielten Manier, an der das träge Ohr Komponisten befriedigt identifiziert. Meist kommt diese Originalität durch die spezialistenhaft einseitige Pflege irgendeiner Materialschicht, wie des sogenannten Rhythmus – in dem beschränkten Sinn durchlaufender Zählzeiten bei unregelmäßiger Metrik – zustande, während, je konsequenter und reicher Musik gebaut ist, ihre Oberflächenidentifizierbarkeit abnimmt. Übrigens fehlt es auch in der eigentlich avancierten Musik nicht an konventionellen Elementen, die zuweilen präzis sich zurückdatieren lassen. Die Vorliebe für dissoziierte Noten, sei es als Ausdrucksvaleurs, sei es als ›Punkte‹ in der Konstruktion, hat ihren Ursprung im Takt 15 der ›Madonna‹ aus Schönbergs ›Pierrot‹, der ein Ausbruch war und kein Paradigma.
Das Kriterium der Originalität hat sich, ohne, wie objektivistische Reaktionäre es wünschen, zu verschwinden, durchaus verwandelt: es ist zediert ans ausgeführte Ganze in all seinen Vermittlungen. Die nominalistische Situation des Komponierens4, die Absenz verpflichtender musikalischer Allgemeinbegriffe verleiht heute jeder Komposition, ob sie es will oder nicht, den Anspruch des Einmaligen, und er teilt sich noch dem geringsten Detail mit. Die Aversion gegen Wiederholung und Wiederholbarkeit, fühlbar, seitdem Beethoven im ersten Satz der Appassionata auf die Repetition verzichtete, hat längst, gleich vielen zunächst negativen Kategorien, Normcharakter erlangt: was dem eigenen Sinn nach nur es selber sein will und in keinem vorgeordneten Schema einen Platz findet, der sein Wiedererscheinen erheischte, soll in der Tat nicht wiedererscheinen. Jede Wiederholung wird als allzu bequem zur ohnmächtigen Lösung der formkonstruktiven Fragen. Hinter dem Prinzip der totalen Durchführung, der Verpflichtung zur unablässigen Variation selbst dort noch, wo die Balance wenigstens das Anklingen einer Identität befiehlt, steht auch das Wiederholungsverbot. Klagen darüber, daß es in anderen Jahrhunderten anders gewesen sei; der Wunsch, wieder so etwas wie eine allgemeinverbindliche musikalische Sprache herzustellen, sind im Widerspruch zum Stand des Komponierens selber nicht weniger als zum geschichtlichen der Epoche insgesamt. Das Leiden unter der nominalistischen Ausgangssituation verführt stets wieder zu Kurzschlüssen, die um so mehr unter das Verdikt bloß subjektiver Willkür fallen, je autoritärer sie sich gebärden. Darin ist kein Unterschied zwischen der nun fünfunddreißig Jahre zurückliegenden Hoffnung Hindemiths auf einen erneut allgemeinverbindlichen ›Stil‹ – wie wenn nicht der Begriff eines vom einzelnen Komponisten her zu stiftenden Stils bereits eine contradictio in adjecto wäre – und jüngst gelegentlich aus dem Kreis der seriellen Komponisten erhobenen Ansprüchen gleich der Behauptung Pousseurs, Webern habe der Musik einen solchen Stil erwirkt. Weder die integrale Konstruktion, noch die formale Angemessenheit an wahrnehmungspsychologische Bedingungen der Apperzeption vermag in einer dem Bewußtsein ihrer Angehörigen nicht weniger als den realen Interessenlagen nach antagonistischen Gesellschaft Allgemeinverbindlichkeit herbeizuführen. Der Wunsch danach selber ist anzugreifen. Etwas von Defaitismus wohnt ihm inne, Unfähigkeit zum Glück einer Freiheit, die Freiheit zum Ausdruck des Leidens ist. Dagegen sträubt sich die Reaktionsform des ›autoritätsgebundenen‹ Charakters, der noch in der Zone des Sublimierten nach dem starken Mann ruft und es in der Autonomie nicht aushalten kann; der objektive Bindungen um der Bindung willen preist, vergißt, daß keine je etwas taugte, die nicht in der Idee objektiver Wahrheit wurzelte, und statt dessen bloß aus dem subjektiven Bedürfnis nach Stützung, der Angst vor Einsamkeit, das Allgemeinprinzip postuliert. Sind in der gesprochenen Sprache gesellschaftlicher Zwang und konventionelle Verhärtung so mächtig, daß sie selbst die unbotmäßige Erkenntnis des Einzelnen unausweichlich in Fesseln schlägt, so hat die musikalische Sprache von ihrem Mangel: ihrer Unbestimmtheit, wenigstens den Vorteil, daß sie als sinnvolle möglich ist, ohne einem blinden Diktat zu gehorchen und ohne ein so blindes Diktat auszuüben wie die Begriffssprache. Was an der Idee der verbindlichen Musiksprache wahr ist: das Bewußtsein, daß der je Einzelne und das je Einzelne auch in der Musik nicht absolut, sondern durchs Allgemeine vermittelt sind, dem wird Musik nicht gerecht, indem sie unvermittelt der Allgemeinheit nachhängt, sondern bloß durch die selbstvergessene Versenkung ins Einzelne. Alle Kompositionen, die heute irgend ›à la manière de‹ sich gerieren, streichen dadurch vorweg sich selbst aus; sie adoptieren eine dem eigenen Wesen nach nicht verpflichtende Sprache, als ob sie verpflichtend und umfassend wäre, und geraten in die Fiktion. Das ist die Gestalt des schlecht Unoriginellen heute, längst nicht mehr mangelnde Originalität einzelner Themen oder Wendungen. Nur selten noch werden greifbare Einzelheiten, etwa Themen billig imitiert – ihnen gegenüber sind die Komponisten mittlerweile viel gewitzigter geworden, als die bedeutenden je es waren – sondern Verfahrungsweisen, Schablonen, der ›Ton‹ von Komponisten; analog übrigens wohl der Malerei. Daran hat sich während der letzten dreißig Jahre kaum etwas geändert. So wie in der Zeit vor 1933 die Feste der Internationalen Gesellschaft für neue Musik mit zahllosen Concerti neuklassischen Geschmacks aufwarteten, untereinander ähnlich wie ein Ei dem anderen und allesamt entschärfter Strawinsky, so liefern heute Komponisten, ohne daß Einzelreminiszenzen dingfest zu machen wären, Pastiches etwa von Hindemiths Klaviersonaten. Die Tendenz ist aber keineswegs nur bei den Gemäßigten, von der Neoklassik bis zur Schulmusik, zu konstatieren, sondern auch beim Exponierteren. Aus der dritten Generation der Schönbergschule wurde ein Streichquartett gedruckt, das bis in die intimsten musiksprachlichen und satztechnischen Details hinein Berg nachahmt. Keine Note von Berg kommt wörtlich wieder, ja das Stück ist so gründlich abgeschirmt, daß nicht einmal das ungezählte Male kopierte Allegro misterioso der Lyrischen Suite anklingt. Statt dessen wird Bergisch gesprochen, wie wenn man einem Menschen die Stimme rauben dürfte. Konformierend wird das nicht Konformierende einverleibt und damit in sein Gegenteil verkehrt. Die Neigung zu Webernpastiches ist unterdessen bekannt geworden, und ihr wird entgegengearbeitet.
Die Pastiches sind aber nicht als harmlos abzufertigen, etwa mit dem Hinweis darauf, daß Unselbständige stets mit dem Strom geschwommen seien, oder gar mit dem Lebkuchenspruch, die sogenannte Musikkultur bedürfe des Humusbodens zweitrangiger Komponisten. Denn der Hang zur Schablone ist der neuen Musik nicht durchaus äußerlich. Ausdruckskonventionen haben sich in der konventionsfeindlichen Sprache selber auskristallisiert: Symptom dessen, daß die Idee der absoluten Vereinzelung so trugvoll ist wie die einer unmittelbar verpflichtenden Allgemeinheit. Noch in der reinen Expression setzen universale Tendenzen sich durch5, welche die fensterlosen Monaden einander angleichen. Der Literaturhistoriker Mautz hat demonstriert, daß in der radikalen expressionistischen Lyrik vor dem ersten Weltkrieg, bei Heym, Trakl, van Hoddis und anderen, eine recht starre, von der spezifischen Konstellation der einzelnen Gedichte weithin unabhängige Farbensymbolik waltet6. Analog sind – so zeigt retrospektiv sich heute – sogar in den fauvistischen Werken der neuen Musik einigermaßen identischen Ausdrucksvaleurs auch einigermaßen identische kompositorische Gesten gesellt. Ihr Vorrat ist in den Werken des mittleren Schönberg, von den Klavierstücken op. 11 bis zu den Orchesterliedern op. 22, schon recht vollständig versammelt, insbesondere in der ›Erwartung‹ kodifiziert. Ungewiß, ob Ausdruck, nach der expressionistischen Sehnsucht, ganz ohne Konvention überhaupt möglich sei; ob nicht die aller Ausdrucksmusik implizite These, daß musikalische Konfigurationen ein Psychisches ausdrücken, stets auch ein Moment der Willkür, der Festsetzung und Übereinkunft enthält, so wie Nietzsche es argwöhnte. Hat der Ausdruck von der vorgegebenen Musiksprache einmal sich emanzipiert, ist er einmal Selbstzweck geworden, so entfremdet er sich der Dynamik des musikalischen Ganzen, in der er ein Moment – das mimetische, weniger die bestimmte Spiegelung eines bestimmten Inhalts als den nachahmenden Impuls als solchen – abgibt und ist, als Festgehaltenes, Gemeintes selber dem verfallen, wogegen Ausdruckskunst sich sträubt, der Verdinglichung. Soll der sedimentierte Ausdruck eindeutig sein, so bedarf er eingeschliffener Gesten und Vokabeln. Die Versprachlichung der Musik, die sie subjektiviert, entsubjektiviert sie zugleich durch die Prägung von Clichés. Diese lassen sich durch kein Dekret und keine künstlerische Veranstaltung exorzieren; das Paradoxon steckt in der Idee des Expressionismus selber, als der einer Objektivation des Objektivationsfeindlichen. Generell übersetzt Kunst bereits den Ausdruck in dessen Bild, ist nicht unmittelbar reiner Ausdruck; damit Ausdruck überhaupt in ihr ›erscheinen‹ kann, muß sie dem Verhältnis von Ausdruck und musikalischer Gestalt etwas Festes, über den ersehnten reinen Ausdruck Hinausgehendes beimischen, und das resultiert, ohne alles Nachlassen der kompositorischen Kraft, in den Ausdruckskonventionen. Schon in der ›Erwartung‹ kehren gewisse musikalische Gebärden immer wieder für Regungen wie Angst, Schrecken, Angespanntheit, Ausbruch, während zugleich doch das Formgesetz jenes Werkes der Zusammenschluß einmaliger Momente in der reinen Erlebniszeit ist. Die Tektonik der ›Glücklichen Hand‹ hat jenem Widerspruch sich gestellt. Je mehr aber historisch dergleichen Ausdruckskonventionen sich einspielen, um so indifferenter werden sie gegen ihre spezifisch musikalische Erfüllung, grob gesagt, gegen die Noten, aus denen die Ausdrucksgesten sich zusammenfügen. In ungezählten zeitgenössischen Kompositionen der verschiedensten Formniveaus kommen etwa unregelmäßige Figuren in kleinsten Notenwerten mit dem Ausdruck des Abrupten, Wilden, nicht durch Geradzahligkeit Domestizierten vor. Dieser Ausdrucksgestus ist nicht nur so vertraut, daß er kaum mehr den Schock bereitet, den er erteilen soll, sondern es ist auch bereits recht gleichgültig, woraus er im einzelnen musikalisch besteht. Meist werden die Noten einfach von der Reihe vorgeschrieben: wie es aus der Reihe trifft, so trifft es. Kompositorische Desiderate, wie das Gefühl für die Valeurs einzelner Intervalle in ihrem Zusammenhang, untrüglich bei Webern, werden darüber vernachlässigt. Auf der subjektiven Seite, bei den Komponisten, gedeiht: eine Art Konformismus zweiten Grades: man qualifiziert sich durch Verfügung über die beschränkte Zahl der modernistischen Vokabeln als dazugehörig, als einen, der der neuen Sprache mächtig ist, und eben deshalb spricht man sie falsch. Die Reaktion, welche ideologisch das Konventionelle zur eigenen Sache erklärt, kann dann hämisch ihre Gegner ebenfalls auf Konventionen ertappen. Freilich ist kein Einwand gegen die neue Musik, daß sie in der Dialektik von Einmaligem und Besonderem stets wiederum an die Grenze des Besonderen stößt. Nur muß sie die Kraft haben, jene Dialektik im Ernst auszutragen.
All das kreist um den Begriff der musikalischen Innenspannung und ihres Erschlaffens, der heute sich aufdrängt und doch so hartnäckig der Identifizierung entzieht. Der Vorgang ist objektiv determiniert. Die Vergegenständlichung einer musikalischen Sprache, deren Impuls gegen Vergegenständlichung aufbegehrt, wird von ihrem sprachähnlichen Wesen erzwungen und widerspricht doch ihrer eigenen Idee. Mit der Sedimentierung der großen kompositorischen und expressiven Funde im Material hat zwar der musikalische Fortschritt seinen Sieg dahin. Was noch vor dreißig Jahren das musikalische Bewußtsein so beherrschte, daß es das anders Geartete zum Abartigen degradierte, mußte ins Schattenreich hinab. Aber der Fortschritt des Gesamtniveaus wird hoch bezahlt. Sobald das umgepflügte Material dem kompositorischen Subjekt gewissermaßen die Anstrengung abnimmt, welche die musikalische Substanz ausmacht, beginnt ein Modernismus als Stil sich einzurichten, der den Habitus der Avantgarde Lügen straft, den er zum Stilmerkmal erhoben hat. Primär liegt das gar nicht am Nachlassen der kompositorischen Kräfte – heute gibt es so begabte, vielleicht begabtere junge Komponisten als vor vierzig Jahren – sondern daran, daß das Kompositionsmaterial weder in sich mehr die Spannungselemente enthält, die als kritische es einmal durchdrangen, noch daß es der subjektiven Spannung, also dem kompositorischen Ausdrucksbedürfnis so sich anschmiegt, wie als es in der Krise der Tonalität vom kompositorischen Willen ergriffen ward. Die prästabilierte Disharmonie läßt es kaum zu Konfigurationen kommen, die überhaupt Spannung vermitteln. Modell dafür sind Spannungsintervalle par excellence wie die große Septime oder die kleine None, die zwar nicht länger tabuiert sind, nicht länger den Bürger schrecken, sondern die konsonierenden Intervalle verdrängt haben; damit aber ihren eigenen Spannungscharakter opferten und, gleichberechtigt mit allen anderen, auch neutralisiert unter alle anderen sich einreihen. Teilen sie aber einmal keine Spannung mehr mit, so erlauben sie es auch dem kompositorischen Subjekt nicht mehr, Spannungen ihnen mitzuteilen: der Spannungsverlust datiert auf den Zustand eines Materials zurück, das von sich aus der Spannungen sich entäußerte. Was dabei für ein Kompositionselement wie die Intervalle gilt, gilt für jegliches andere. Solcher objektive Spannungsverlust aber hat sein Äquivalent an den Subjekten, die, zwangsläufig, ein nicht Tradierbares tradieren und das zum Jargon verwässern, was nicht einmal Sprache sein wollte. Der Habitus vieler mahnt an Menschen, die ein Buch schreiben, um ein Buch zu schreiben, im Gegensatz zu solchen, die schreiben, weil sie etwas zu sagen haben. Der Zwang zur Sache wird substituiert durchs Interesse an der Prozedur. Mangel an Innenspannung konvergiert mit künstlerischer Heteronomie; wo die Spontaneität in bloßem Gehorsam unter einmal gewonnenen Standards erlahmt, läßt sich das Werk seine Lösungen vom aufbereiteten Material bloß noch zuspielen, anstatt sie zugleich auch aus sich zu produzieren. Wohl ist alles Komponieren passiv als Vollzug objektiv gestellter Probleme, aber auch Passivität bedarf aller Spontaneität des Bewußtseins, aller Regung von Phantasie, meint keine Selbstauslöschung zugunsten vorgeblich szientifischer Tonverhältnisse. Korrektiv dessen ist aber nicht die Restauration einer reinen Subjektivität, die als restaurierte die Reinheit einbüßt. Die Rebellion der radikalen jungen Komponisten gegen alle Spuren traditioneller sprachbildender Mittel der Musik, am Ende gegen den musikalischen Sinn ist wohl erst unter solchem Aspekt ganz zu begreifen. Sie verwerfen an Musik, wodurch sie überhaupt noch an Sprache gemahnt, um den falschen Frieden aufzukündigen, den heute bereits ausstrahlt, was überhaupt noch wie Sprache und Sinn klingt und damit die Negativität verleugnet, das Agens von Spannung.
Unleugbar verrät die fortschreitende Schablonisierung Heteronomie des Komponierens selber. Allerorten bieten die Reihen Lösungen an, die nicht mehr subjektiv vermittelt, nicht mehr aus der Idee des Werkes und den spezifisch gehörten Bedürfnissen seines Hier und Jetzt erzeugt sind, sondern ihm von außen zufallen und den Schein erwecken, das Komponieren sei leichter geworden, so wie jener junge Amerikaner in aller Unschuld sagte, er schreibe zwölftönig, um zu wissen, wo er seine Noten hernehmen solle; der internationale Triumph eines Verfahrens, dem es nicht an der Wiege gesungen ward, ist nicht frei von solchem Infantilismus. Die Strafe dafür ist nicht nur das Zufällige heteronomer Notwendigkeit nach dem Kriterium von Autonomie sondern eben Sinnlosigkeit, schließlich die Monotonie des Ununterscheidbaren. Die Zwölftontechnik als solche und ihre Fortbildung sind nicht anzuklagen; ihr Klappern ist selber ebenso gut eine Funktion des Verkümmerns der charakterisierenden Kraft, wie diese es unterm Druck des integralen Kompositionsverfahrens immer schwerer hat. Nie läßt die Methode sich isolieren; sie legitimiert sich stets nur von dem her, woran sie gewandt wird. An den Komponisten ist es, ob sie es sich leicht machen, indem sie sich auf die Methode verlassen, oder ob sie lernen, daß diese, soll sie nicht bloße Methode bleiben, es ihnen schwerer macht, ohne daß sie ihr darum doch ausweichen könnten. Die Bemerkung Klees, die Kunst beginne genau dort, wo das System nicht mehr stimmt, die freilich, ganz gewiß bei einem so methodischen Künstler wie Klee, das System wiederum voraussetzt, wurde vom Bewußtsein der jüngsten Generation noch nicht recht zugeeignet.
Der charakterisierenden Kraft hat Schönberg im Begriff der Gestalt gedacht. Während er in den des Themas sowohl wie den des eigentlichen Charakters hinüberspielt, wäre er doch zugleich von beidem abzuheben. Unter Thema ist, im Sinn der Tradition, ein ›Teilganzes‹ zu verstehen, ein relativ in sich Geschlossenes, Festes, das sich jedoch dem Zusammenhang gegenüber offenhält und ihn aus dem eigenen Impuls herbeiführt. Das meint jenes Schönbergische Diktum, Komposition sei jeweils die Geschichte eines Themas. Innerhalb einer gewissen Variationsbreite werden Themen eindeutig formuliert und lassen um solcher Eindeutigkeit willen sich verarbeiten. Die Wandlungen, denen der Verlauf sie unterwirft, sind als solche sinnvoll nur relativ auf die ursprüngliche Bestimmtheit des Themas. Darum sind im Thema meist nicht bloß die rhythmischen sondern auch die Intervallverhältnisse festgelegt. Demgegenüber ist der Begriff der musikalischen Gestalt weiter. Von Gestalten ist Eindeutigkeit nicht gefordert: es genügt ein Identitätsmoment, an dem sie überhaupt sich wiedererkennen lassen. Ihr besonderer motivischer Inhalt, vollends die Intervalle müssen keineswegs fixiert sein. Ein Merkmal wie eine bloße Sechzehntelbewegung, in die ein Thema sich auflöst, mag genügen, eine Gestalt zu definieren, gleichgültig, aus welchen Tönen die Figur besteht; oder auch bloß ein prägnanter Rhythmus, der durch verschiedene Reihenableitungen sich erfüllt. Charakter schließlich ist der Aspekt jener Kategorien, der sie als solche des Sinnes prägt: das Spezifische, wodurch das musikalisch Einzelne innerhalb seines Zusammenhangs sich wesentlich unterscheidet. Ausdruck und ›Ton‹ gehören konstitutiv zu den Charakteren. Diese fallen zuweilen mit Gestalten und Themen zusammen, müssen es aber nicht; so kann ein Charakter an einem ganzen Themenkomplex haften, der selbst wieder aus mehreren Themen oder Gestalten sich zusammenfügt. Die Exposition der Vierten Symphonie von Mahler enthält, bei außerordentlichem Reichtum an Themen und Gestalten, drei oder vier Charaktere: den quasi Mozartischen spielerisch-graziösen des Beginns, den volksliedhaften und den schließenden ›bedächtigen‹; hinzutritt dann noch jener statisch-sinnende, der vor Beginn der Durchführung aus einem kontrapunktischen Motiv des Hauptthemenkomplexes entwickelt ist. Auf Charaktere verweisen, unzulänglich genug, Vortragsbezeichnungen, wie sie die Komponisten in neuerer Zeit suchten: »schwungvoll«, »gemächlich«, »ausbrechend«, »zufahrend«, »flüchtig«, »schwebend« oder gar das »Wienerisch« in Bergs Violinkonzert. In der traditionellen Sonatenform und ihren Deszendenten decken die Charaktere vielfach sich mit den Hauptgruppen. Entscheidend für den Charakter jedoch ist das Nicht-Fungible, das, wodurch es sich absetzt; das antithetische Moment zur Einheit des Ganzen, die im thematischen Material beschlossen liegt. Symphonische Musik bildet einen dialektischen Prozeß zwischen dem thematischen Einheitsmoment und den – gleichwohl durch die Themen vermittelten – Charakteren; die Einheit gerät nur durch die Konfiguration des Verschiedenen.
Der ursprünglichen Wortbedeutung nach sind Charaktere Schriftzüge. Stets noch sind sie das, woran eine konkrete Musik jeweils ihren Namen hat. An der Artikulation von Musik nach Charakteren haftet ihr Individuationsprinzip. Sie sind das eigentlich qualitative, nicht in musikalische Allgemeinheit auflösbare Moment. Die Tendenz zur Rationalisierung aber, welche die abendländische Musik der Gesamtbewegung von Aufklärung einfügt, ist eine zur Quantifizierung, zur Herabsetzung der Einzelmomente in Ununterscheidbares, Austauschbares, das ohne Rest und Überschuß in der Totalität aufgeht. Das musikalische Individuationsprinzip selbst unterliegt einer Dialektik. Rationalität, als Befreiung von heteronomen Bindungen, hat Individuation erst möglich gemacht. Musikalische Charaktere werden, nachdem sie zuvor, auch im Wiener Klassizismus, stets durchs Allgemeinprinzip der Tonalität eingedämmt waren, herrschend erst mit der Romantik, am nachdrücklichsten bei Schubert, wo das Gewicht der Einzelcharaktere der integralen Form des Wiener Klassizismus ans Leben will; die jedem Konservatorianer sichtbaren Formfehler vieler seiner Klaviersonaten sind Male eines geschichtlichen Prozesses. Eben jene Gefährdung der musikalischen Einheit durch die Charaktere jedoch hat rasch eine Gegenbewegung gezeitigt. Die gleiche Rationalisierung – temperierte Skala und voll verfügbares Chroma – die, als Vermögen subjektiver Konstitution, die musikalischen Charaktere stiftete, möchte sie wieder kassieren; schon im Tristan, wo die universale Chromatik alle Einzelgestalten einander annähert, und mehr noch im integralen zwölftönigen und seriellen Verfahren. Schon während der Spätromantik waren die Charaktere eigentümlich geschwächt: bei Strauss, wo der Schwung der Form über die auffällige Trivialität vieler Motive hinwegträgt; bei Reger, wo plastische, melodische Charaktere durch die Vorherrschaft der Modulatorik verdrängt werden; bei Mahler, der zwar das Prinzip der Charaktere aufs äußerste steigert, die Charaktere selbst jedoch dem Zitat annähert, der absichtsvoll-unverbindlichen Erinnerung an ein selbst schon gar nicht mehr recht Gegenwärtiges. Durch die fortschreitende Reduktion der Charaktere auf widerstandslose Elemente des Ganzen jedoch gerät das integrale Rationalisierungsprinzip schließlich in Konflikt mit jenem Desiderat von Kunst, daß nicht die anwachsende Materialbeherrschung einfach in Analogie zur Naturwissenschaft das qualitative Moment liquidiere, sondern es, in eins mit seiner Integration, bewahre. Das rückt die kritische Rekonstruktion des qualitativen Moments ins Zentrum. Wohl wäre zu fragen, ob Charaktere überhaupt gewollt werden können. Zum Preis des Fortschritts in der Kunst gehört ihr Verlust an Unwillkürlichkeit; zu ihrem Triumph jedoch, daß noch das Unwillkürliche selbst vom Bewußtsein ergriffen, daß es gewollt werden kann, so wie die saloppe Redeweise der Musiker verlangt, es solle einer sich nur etwas Ordentliches einfallen lassen. Mag immer freilich das unwillkürliche Moment, als Einspruch des Beherrschten gegen die Herrschaft, der Kunst essentiell sein: sobald man sich auf dies Moment herausredet und das Bewußtlose bewußt der technischen Beherrschung entgegensetzt, dient man dem Schlechten. Die Forderung nach neuer ›Qualifizierung‹ wiegt so schwer, weil Nivellierung dem Prinzip kompositorischer Integration nicht zufällig, weil sie nicht beliebig zu widerrufen ist. Wie für alle Dialektik gilt auch für die der neuen Musik, daß man nicht ohne weiteres das sogenannte Positive haben, das sogenannte Negative ausscheiden kann. Wer um Charaktere sich bemüht, muß zugleich ihren Widerspruch zur Idee der immanenten Einheit austragen. Die hellhörigen Ohren der jüngsten Komponistengeneration haben das wahrgenommen. Sie empfinden an jenen Werken der eigenen Schule, in denen Charaktere wiederhergestellt sind, ein Ungemäßes, etwas von Konzession; rasch wird heute einer seinen Kameraden aus einem Avantgardisten zum Salonkomponisten. Eher sollte man den Extremen sich überlassen als auf Synthesis ausgehen. Alban Berg hat das antezipiert. Er unterschied im Unterricht, ganz unbekümmert, aber um so eindringlicher zwischen zwei Typen des Komponierens und riet den Schülern, in jedem Fall sich darüber klar zu werden, welchen sie wählten. Den einen nannte er den symphonischen und den anderen, in der Sprache des neunzehnten Jahrhunderts, den des Charakterstücks. Die Dichotomie läßt bis auf Bach sich zurückverfolgen, in dessen englischen Suiten und Partiten der erste Satz dem ersten, viele der darauffolgenden stilisierten Tänze dem zweiten Typus zugehören. Noch bei Schönberg ist der Unterschied recht deutlich; seine Kammermusik, zumal die beiden Kammersymphonien, rechnet zum symphonischen Typus, die George-Lieder und der ›Pierrot‹, bei aller bedachten Organisation des Ganzen, zu dem des Charakterstückes. Nach jener Unterscheidung könnte man die jüngste Entwicklung als einseitige des symphonischen Typus betrachten, während der Typus des Charakterstücks als solcher den gleichen Verdacht erregt wie das Wort ›Genre‹. Musik hätte vom Genrestück so hart sich zu distanzieren wie von einem symphonischen Prinzip, das leerläuft, sobald es nicht mehr aus seinem eigenen Gegensatz entspringt und ihn bewältigt. Der Möglichkeit, daß die integrale Komposition im bloßen Klappern der Begriffsmühle terminiert, ist heute gleichermaßen ins Auge zu sehen, wie der ihr entgegengesetzten des Kitschs bloßer bildchenhafter Charakterisierung.
Der Gestaltbegriff der Psychologie, wie er von Christian von Ehrenfels eingeführt, dann von Wertheimer, Köhler, Gelb und anderen zur Theorie ausgeweitet wurde, war Schönberg wohl unbekannt; erst neuerdings, in der seriellen Theorie, werden, insbesondere von Pousseur, gestaltpsychologische Kategorien mit musikalischen zusammengebracht. Problematisch bleibt dabei, ob wahrnehmungspsychologische Bestimmungen, solche möglicher Auffassung musikalischer Gebilde, an deren Objektivität heranreichen. Die heute propagierte Gleichsetzung von Kunst und ›Kommunikation‹, die sich dem logischen Positivismus, der Pseudomorphose an die Wissenschaft verdankt, ist dubios, »denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft«7. Die Feststellung der Bedingungen, unter denen Kunstwerke überhaupt oder besonders günstig perzipiert werden können, besagt nichts über Recht und Unrecht ihrer Organisation in sich; ästhetische Theorien wie die von Hildebrandt und Cornelius, die schon vor Dezennien über die künstlerische Qualität nach dem Grad der Angemessenheit der Werke an die Anschauungsapparatur zu urteilen sich zutrauten, blieben formalistisch und ließen dem klassizistischen Kitsch Raum; die zeitgenössische Kommunikationstheorie dürfte sich kaum mit einer Ästhetik verwechseln. Die Verwirrung reicht aber in der neuen Musik schon recht weit zurück. Bereits Schönbergs Gestaltbegriff schillert zwischen Objektivität und Psychologie. Er hat ihn als Vehikel der Zwölftontechnik benutzt: die Reihe in ihrer ursprünglichen Form, die dann Modifikationen und Transpositionen erfährt, führt bei ihm den Namen ›Grundgestalt‹. Unterstellt wird, daß die Grundgestalt in all ihren Modifikationen, als Umkehrung, Krebs und Umkehrung des Krebses, ihre Identität bewahre, also als die gleiche kenntlich sei; er pflegte die Grundgestalt mit einem Hut zu vergleichen, der, einerlei, ob man ihn von vorn oder hinten, von oben oder unten betrachtet, stets derselbe Hut bleibe. Die psychologistische Begründung führt falsche Psychologie mit sich. Der Vergleich eines wesentlich Dynamischen, nicht bloß an sich, sondern stets auch in bezug auf andere Momente Seienden mit einem statischen Ding, involviert eine Verdinglichung des ästhetischen Objekts, eine Verwechslung mit dem empirischen, die Schönberg, der Pädagoge, zur Erläuterung seiner Technik nicht zu scheuen brauchte. Solche Wendungen aber dürfen nicht buchstäblich genommen werden; sonst bewirken sie einen Kurzschluß des Denkens, den jetzt erst die avanciertesten Komponisten durch Reflexion des musikalischen Zeitelements zu vermeiden trachten. Verwiesen sei auf ein Gebilde, das noch nicht zwölftönig durchkomponiert, aber krebsgängig disponiert ist, den langsamen Satz aus Bergs Kammerkonzert. Nicht bloß werden darin, nach der Wendestelle in der Mitte, die einzelnen Komplexe in umgekehrter Reihenfolge abgespielt, sondern es kommen auch die jeden Komplex beherrschenden Themenmodelle als Krebs wieder. Man braucht aber nur etwa das Kopfmotiv des ursprünglich von der Klarinette intonierten dritten Themas (Takt 283f.) mit seiner krebsgängigen Wiederkehr (Takt 435f.) zu vergleichen, um zu bemerken, daß es durch die mechanischstrenge Abwandlung gerade seinen ›Charakter‹ verliert: aus einem ungemein Plastischen, melodisch Überzeugenden wird eine etwas gewaltsame, der Einprägsamkeit entratende Tonreihe, die ihr Recht allenfalls aus der wie immer auch vagen Erinnerung an ihr Urbild und der spürbaren Intention von dessen ›Denaturierung‹ empfängt. Das belegt, daß Gestalt, im zwölftönigen oder seriellen Sinn, eben nicht ohne weiteres eins ist mit Charakter. Darum wären kompositorisches Rohmaterial und Komponiertes bis ins Detail hinein strikt zu unterscheiden. Überdies deckt der Begriff der Gestalt musikalisch-funktionell ganz voneinander verschiedene Elemente. Ebensogut kann ein gleichsam unverrückbares, fest dastehendes Sigel gemeint sein – etwa der Anfang von ›Heimweh‹ aus dem ›Pierrot‹ – wie ein Modell, das gar nicht eigentlich für sich selbst gesetzt ist, sondern einzig in der Relation zu Folgendem oder auch Vergangenem seinen Sinn empfängt: so das Hauptthema der Eroica, das, anstatt zu enden, auf einer kritischen Note, dem cis, hängenbleibt. In ihm empfängt die Komposition gerade aus jenem Widerstand, der im Thema selber sogleich zutage tritt, den Impuls zu seiner Fortsetzung, den zur Überwindung des Widerstandes; den, symphonisch in Schwung zu kommen. Dieser zweite Typus von Gestalt ist offenbar der, welcher mit der Herrschaft des symphonischen über das Charakterprinzip den Primat erlangte; schon das Hauptthema der Eroica war, bis zu jenem cis, ›uncharakteristisch‹. Das Moment, das dabei verloren ging, ist wohl der Rest und Überschuß eines musikalisch Gegenwärtigen, das nicht ganz in seiner Funktion untergeht, sondern auch im Ganzen noch irgend sich selbst erhält. Fraglos ist dies Moment, das der Nicht-Identität des Einzelnen mit dem Ganzen, in der Entwicklung der großen Musik geschwächt worden; darin stimmt die Beethovensche Verfahrungsweise überein mit der des späten Webern und des jüngsten seriellen Komponierens. Aber gerade diese universale Tendenz scheint nun sich umzukehren. Rettet im heutigen, jeder vorgegebenen spezifischen Qualität entäußerten, ›quantifizierten‹ Material keine Gestalt mehr den Überschuß unmittelbaren musikalischen Seins; ist alles nur noch für anderes da, so wird etwas von jener chaotischen Monotonie heraufbeschworen, an der der ununterrichtete Hörer nicht bloß aus bösem Willen sich ärgert. Vor allem aber ist durch die Universalität der Durchführung, die daraus folgende Liquidation der Sonate und die Nötigung zum abschnittsweisen Komponieren, zu einem Komponieren in ›Feldern‹, das rein dynamische Entwicklungsprinzip überholt. An seine Stelle tritt die Beziehung der Abschnitte oder Felder zueinander und ihre Balance. Dann kann aber nicht mehr jeder Abschnitt, oder sein Modell, ohne weiteres in ein anderes münden oder aus einem anderen hervorgehen. Sondern jeder Abschnitt müßte, um überhaupt gegen andere sich behaupten zu können, eine Art spezifischer Charakteristik annehmen, etwa wie jede der Kleinvariationen im dritten Klavierstück aus Schönbergs op. 23. Solche Charakteristik ist kaum anders zu erreichen als durch die drastische Charakterisierung der jeweils die Abschnitte fundierenden Modelle. Insofern ist die Sorge um musikalische ›Charaktere‹ keine bloße Trauer um Verlorenes, sondern vom geschichtlichen Stand des Materials selber indiziert. Übrigens waren auch die Modelle in der hochbürgerlichen symphonischen Musik trotz allem nicht reines Sein für anderes, kein bloßes Nichts an sich selber, sondern meist, sogar und gerade bei Beethoven, nichts und etwas in eins. Ist Musik wahrhaft die Geschichte eines Themas, so liegt darin, daß das, was Geschichte hat, auch an sich bereits ›ist‹, wie der Wortsinn von ›Thema‹ als dem eines ›Gesetzten‹ es will. Nicht anders als in Hegels Logik ist auch in der musikalischen der Begriff der Entwicklung nicht der absoluter Dynamik, sondern begreift als eines seiner Momente – nur als ein solches – auch das Sein dessen in sich, was entwickelt wird. Haben Beethoven und der Wiener Klassizismus dies Feste gegenüber dem Dynamischen reduziert, so erlaubte das die Tonalität, deren Stufen und modulatorische Perspektiven Entwicklung auch dort suggerierten, wo das Entwickelte schwach und unspezifisch sich hielt: denn das Entwickelte war selbst Zelle jener Tonalität, welche die Entwicklung vorwärtstreibt. Je weniger aber mehr die Tonalität das Thema von seinem Fortgang entlastet, um so mehr muß es doch auch gerade wieder für sich selbst sein, damit es sich sinnvoll verändern lasse. Brahms, der Beethovens Idee integralen Komponierens der Moderne tradiert hat, meldete diesen Anspruch besonders kräftig an. Bei Schönberg war er immer präsent; heute ist er aktueller als je. Die nach dem Maß unverdrossenen Fortschritts ›reaktionären‹ Züge von Schönbergs Komponieren, die Bewahrung überlieferter musiksprachlicher Kategorien, vor allem aber des Themas selber stammen wahrscheinlich mehr aus dem Formgefühl solcher Notwendigkeit als aus mangelnder Intransigenz. Ist er selbst in seinem letzten vollendeten Werk, der Phantasie für Geige und Klavier, zur ›Intonation‹ höchst profilierter Gruppen übergegangen, so wird keine Konstruktion mehr geraten, welche die Plastizität der Einzelmomente ignoriert. Je mehr das neue musikalische Zeitbewußtsein aus der Konfiguration von rein Gegenwärtigem, nicht aus Erinnerung und Erwartung alten Stils seine Kraft zieht, desto mehr bedarf es der ungeschmälerten Gegenwart des Gegenwärtigen, eben der Charakteristik. Konstruktion darf nicht liquidieren, was sie vereinen will.
Auch jenseits der Sonate jedoch sind Kompositionen erst solche, deren Teilgestalten und -charaktere aus sich heraus zwingend über sich hinausgehen. Enthält die Geschichte der bürgerlich-subjektiven Musik von der Florentiner Camerata bis heute überhaupt ein Perennierendes, dann ist es die Idee des Augenblicks, da das Einzelne Form wird, ohne in dieser bloß unterzutauchen und damit die Form selbst, als schlechthin Unterschiedsloses, zu negieren. Die Anstrengung aller neueren Musik, der Komposition zunächst äußere Ausdehnung in der Zeit zu verschaffen, ist aufs innigste damit verschränkt, wie denn der Unterschied zwischen neuer und traditioneller Musik nicht absolut gesetzt werden darf: zumal die Arbeit des Interpreten sieht sich immer wieder hier und dort mit den gleichen Aufgaben konfrontiert. Beides ist nicht so in Opposition zu bringen, wie es dem reaktionären Feldgeschrei: Das ist keine Musik mehr, passen würde; allerdings auch nicht der Unterschied schlicht zu leugnen, etwa dem Effekt zuliebe, es sei die ars antiqua darum aktuell, weil Kategorien wie die der Isorhythmie in der jüngsten Praxis wiederbegegneten. Man mag in Hegels Sprache allenfalls sagen, es sei in der älteren Musik an sich alles schon da, was erst in der neuen zum An und für sich wird: sie sind eines und verschieden zugleich. Jedenfalls aber ist die Aufgabe, der Komposition ihren Schwung zu verleihen, das, was Schönberg den »inneren Fluß« nannte, sehr viel schwieriger, als wo das tonale Bezugssystem und der Oberflächenzusammenhang die Komposition von der Mühe entlasten, rein aus sich heraus ihr Momentum zu erzeugen, obwohl mittlerweile auch an der traditionellen Musik dies äußerliche, automatisierte Fließen fragwürdig ward; obwohl auch bei Beethoven der ›innere Fluß‹, das immanente Verhältnis der Charaktere zueinander, die Form tiefer konstituiert als die vordergründigen Bewegungsimpulse durchlaufender Begleitungen oder die im harmonischen Plan vorgesehene Bewegung. Innere Historizität will nicht ungebrochenen Zeitverlauf sondern Organisation des Zeitlichen, Schönheit im Sinn des lateinischen ›formosus‹, Reichtum an Formen, innere Gliederung; erst diese, nicht der bloße Puls der Zählzeiten vermag es, die leere, die Musik von außen bedrohende Zeit mit jener zu versöhnen. Bergs reife Stücke, vor allem die Lyrische Suite, sind wohl nur unter diesem Kriterium richtig zu hören. Technisch rangiert Hindemith, bei aller Sicherheit der Vorstellung und der geläufigen Hand, darum niedriger als die stichhaltige Musik der Epoche, weil er jener Mühe ausweicht und schreibt, als werde Musik durchs bloße Weitermachen artikuliert. Demgegenüber verfängt nicht der Hinweis auf sogenannten Stilwillen, auf den Entschluß zur Vereinfachung gegenüber angeblich drohender Überkompliziertheit. Ein solcher Entschluß widerspräche dem, was das Material heute erheischt; er bliebe willkürlich, äußerlich, im schlechten Sinne intellektuell, also gerade das, was die Objektivisten der Routine am letzten möchten. Differenzierung und Gestaltenreichtum fallen nicht in die bloße Psychologie des Komponisten; alles Moralisieren über vorgeblich zerfasernde und aufspaltende Tendenzen ist muffig. Längst gingen jene differenzierenden Momente, die historisch das subjektive Ausdrucksbedürfnis entband, an die Logik der Sache über. Freilich hat, wie jegliches technische Moment, auch der Reichtum an Charakteren seine inwendige Seite: das Gewährende, nicht mit sich Geizende, während aller grobflächigen Sachlichkeit in der Musik, als bloßer Pseudomorphose an Architektur und industrielle Zweckform, ein Versagendes innewohnt, verbunden mit dem autoritären Habitus verwalteter Vitalität.
Der Forderung nach differenzierten Charakteren gesellt notwendig sich die nach Deutlichkeit. Das Differenzierte widerstrebt der von oben her diktierten klassifikatorischen Ordnung. In ihm protestiert das gebändigte Viele gegen das herrschende Eine. Damit wird es zum Sprecher des Chaotischen: das meint der Haß aller Totalitären. Kompositorische Kraft heute aber ist die, welche der vollen Differenziertheit sich überläßt und doch ihrer selbst, als der zur Einheit, mächtig bleibt. Berg, bei dem ein Todessüchtiges mit dem Differenzierenden ineinandergewachsen war wie bei wenig anderen, hat exemplarisch von sich die äußerste Deutlichkeit des Komponierens verlangt. Differenziertes und Deutliches vereinen sich in der Bestimmtheit. Übt jegliches Teilganze seine dezidierte Funktion im Zusammenhang aus, so muß es von allen anderen sich unterscheiden und dennoch auf alle anderen bezogen sein, und beides muß sinnfällig werden. Die Aversion gegen das Ornament ist darum keine Sache der bloßen Idiosynkrasie, sondern gründet in den Anforderungen der aktuellen Kompositionstechnik. Deutlich charakterisieren heißt immer zugleich auch: Verwischendes, Überflüssiges meiden. Das Orchesterbild der jeglicher Schattierung des Gefühls offenen Musik des ›Wozzeck‹ stellt in der heute allgemein zugänglichen Partitur überraschend einfach sich dar. Durchweg sucht sie die drastischesten Übersetzungen kompositorischer Vorgänge in instrumentale; Verdopplungen, Füllstimmen, bloße Klangpedale fehlen, und noch in klanglichen Visionen wie dem Ertrinken Wozzecks ist das Vage, Zerfließende selber präzis, schlagend gefaßt. So viel reicher der ›Wozzeck‹ kompositorisch ist als das ›Sacre du printemps‹ oder irgendetwas von Strauss, so viel reduzierter ist zugleich das Partiturbild. Auf dem Papier steht weniger als erklingt, während etwa im ›Heldenleben‹ sehr vieles geschrieben ist, was dem Ohr in bloßen Hintergrund zergeht oder überhaupt nicht wahrgenommen wird. Dabei ist Deutlichkeit nicht notwendig dasselbe wie Eindeutigkeit. Die neue Musik kennt mehrdeutige kompositorische Funktionen von Elementen und wird vielleicht gerade durch sie ›integral‹. Aber auch das Mehrdeutige muß deutlich, ›auskomponiert‹ sein; wo die musikalische Erscheinung ihre Funktion nicht erklärt, nicht selber schon den musikalischen Gedanken interpretiert, scheitert das Werk. Bergs zumal in der ›Lulu‹ ausdrückliches, und in der jüngsten Musik zur Norm erhobenes Prinzip instrumentaler Variation entspringt nicht dem unverbindlichen Bedürfnis nach koloristischer Abwechslung sondern dem, den funktionellen Wechsel auch identischer kompositorischer Gestalten durch den Klang zu demonstrieren. In der ›Lulu‹ ist jener Funktionswechsel noch wesentlich dramatisch. Den rein kompositorischen hat die traditionelle Instrumentation vernachlässigt; bei Brahms etwa blieb die Kraft der klanglichen Verdeutlichung und Realisierung hinter der kompositorischen Konstruktion vielfach zurück. Neue Musik antwortet auf eine in der traditionellen offene Frage; wie denn ihr Verhältnis zur Vergangenheit insgesamt mehr das der Lösung von Unerledigtem als schlichte Fortsetzung sogenannter Tradition ist.
Entscheidet im Gesamtzug der abendländischen Musikgeschichte, und heute mehr als je, das Hinausgehen der Komposition über die einzelne Gestalt, so wird man, neben Besinnungen über Charaktere und Deutlichkeit, zu solchen über musikalische Entwicklung verhalten. Einzelheit und Zug der Form kann nicht derart voneinander abgehoben werden, als baue das Ganze aus Elementen sich auf, oder als seien die Elemente einfach von oben, vom Ganzen her determiniert: beides ist durcheinander vermittelt. Seit Strawinsky, auch in gewissen Phasen der jüngsten Musik, war immer wieder von entwicklungsloser, statischer Musik die Rede, neuerdings im Gedanken an kaleidoskopisches Motiv- und Farbenspiel. Aber alle sogenannte statische Musik ist scheinhaft, solange sie von außen her, dogmatisch, gegen das Entwicklungsprinzip postuliert wird. Zunächst ist Musik als Zeitkunst ihren eigenen Materialbedingungen nach dynamisch: wie die Zeit unumkehrbar ist, so weigert sich jegliches Musikalische einer Vertauschung in der Zeit, die gegen diese indifferent wäre. Sinnvolle musikalische Organisation heißt notwendig, daß Sinn und Zeitfolge in Beziehung stehen, daß also der Zeitablauf selber als sinnvoller, nicht gegenüber dem konkreten musikalischen Inhalt zufälliger sich ausweise. Wohl mag große Musik vermöge ihrer Integration mit dem Zeitverlauf insofern fertig werden, als sie die Zeit verkürzt. Daß sie die Langeweile vertreibe, ist wie sämtliche heteronomen musikalischen Kategorien zu einem Moment der Musik selbst, ihrer Autonomie geworden. Die großen klassizistischen Symphoniesätze Beethovens, der erste der Eroica oder der Siebenten, lassen ideal so sich hören, als währten sie einen Augenblick. Drängt bei Beethoven, dem profanen Komponisten, die leere entfremdete Zeit tödlich gegen das Subjekt an, dissoziiert Leben sich bereits in die bloße Folge von Erlebnissen, so zwingt das mächtige Subjekt sie im Zeichen der weltlichen Spannung von Freiheit und Notwendigkeit noch einmal zu jenem Einstand, den einst die Theologie als Ewigkeit des erfüllten Augenblicks, Konzentration bloßer Dauer zum Nu, kairos lehrte. Ungewiß, ob solcher Einstand den gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Voraussetzungen wie dem aktuellen Material nach, und ohne Illusion, erlangt werden kann. Unzureichend wäre sein Surrogat, eine Behandlung der Zeit, die sie verräumlicht, ohne in sie als Zeit vermöge der Synthesis des Mannigfaltigen eigentlich einzugreifen. Wohl bildet auch für Strawinsky, den Ausdruck sehr streng genommen, die Zeit das Problem von Musik; das war sein Großes. Aber seine Musik verzweifelt objektiv an der Möglichkeit, Zeit selber durch Artikulation, durch Setzung und Verneinung im Hegelschen Sinn, aufzuheben. Darum begnügt er sich, in flagrantem Widerspruch zum eigenen neusachlichen Programm, mit einer Fiktion, welche den wahren Grund all seiner fiktiven Veranstaltungen und Kapriolen abgeben mag: nicht der verfließenden Zeit und ihrem Schrecken sich zu stellen, um ihr das Ihre zu geben und ihr zugleich kraft der in ihr erscheinenden Inhalte standzuhalten, sondern sie so zu manipulieren, als ließe das zeitliche Nacheinander unmittelbar sich in ein Nebeneinander festbannen; als wären Motive vertauschbare Kuben und Flächen. Seine als rhythmisch gepriesene Musik ist das Gegenteil von rhythmisch: sie greift nicht in Zeit ein, versucht nicht, sie zu formen, indem sie von ihr sich formen läßt, sondern ignoriert sie. Der Schein zeitloser Proportionen installiert sich an Stelle des Scheinlosen an Musik, ihrer zeitlichen Dialektik. Strawinskys Musik hofft, von der Zeit ihren Fluch zu nehmen durch die Flucht, anstatt ihr sich zu überantworten, und die Ästhetik einer musica perennis ist einzig die ontologische Überhöhung solcher Schwäche, die mit dem kollektiven Bedürfnis zusammenstimmt. Ihm gegenüber verschlägt freilich die bloße Berufung auf Entwicklung wenig, solange deren Begriff nicht selbst besser durchdacht ist. Ihm genügt nicht, wie sture Handwerkerei es möchte, daß durch Permutation aus irgendeinem Gegebenen irgendein Anderes werde. Sondern der Wechsel selber muß sinnvoll sein: die Variation muß dem Zeitverlauf gerecht werden. Nicht darf zufällig oder gleichgültig bleiben, was zuerst kommt und was folgt. Vertauschungen müssen durch die Artikulation des Zeitverlaufs sich erst rechtfertigen, bewirken sie keineswegs automatisch von sich aus. Bloßer Wechsel ist nicht Entwicklung. Diese ist schwerlich zu trennen vom Gedanken an ›Exposition‹: daß das der inneren Form nach Frühere zum Späteren, daß das Spätere von jenem ›verursacht‹ wird, es als Bedingung des eigenen Sinnes voraussetzt. Paradigmatisch dafür ist der Bau des mit einem unbeträchtlichen Motiv einsetzenden und zu größter Prägnanz sich steigernden ersten Themas aus dem Violinkonzert von Schönberg. Aber so wenig das bloße Herumwürfeln von Tongruppen Entwicklung setzt, so wenig wacht eine abstrakte Regel darüber, was Entwicklung sei und was nicht. Keineswegs etwa ist ein für allemal verlangt, daß nach der mehr oder minder geschlossenen Exposition eines Themas es aufgelöst werde, oder umgekehrt, daß aus kleinen Motiveinheiten allmählich ein Thema oder ein größerer Komplex sich kristallisiere. Die Mannigfaltigkeit des sinnvoll Möglichen scheint unendlich; über seine Wirklichkeit läßt nur konkret sich urteilen. Immerhin wäre eine Typologie von Entwicklungskategorien heute bereits absehbar. In konsequent athematischer Musik verwandeln sich alle Typen, ohne doch einfach zu verschwinden; auch in ihr darf das Verhältnis von Jetzt und Dann nicht zufällig sein, muß im Zeitverlauf selber, nicht bloß an der statisch-mathematischen Identität der Bestandteile sich legitimieren. Dazu trägt wesentlich wohl bei, ob Entwicklungen ›auskomponiert‹ sind: ob also Kategorien wie Konsequenz, Antithese, frischer Ansatz, Übergang, Auflösung als solche faßlich werden, zur Erscheinung finden; die Drastik, mit der der Verlauf einer Musik die Stationen ihres Wegs vom Früheren zum Späteren vorführt, koinzidiert weithin mit der Entwicklung der Musik selber.
Als sinnvoller Übergang zu einem Nicht-Identischen heißt Entwicklung notwendig stets Spannung zwischen dem Verschiedenen. Offen, ob der Ausgleich der Spannung, die Wiederherstellung eines Gleichgewichts, der Identität des Nicht-Identischen im Ganzen, das Ideal jeder dialektischen entfalteten Komposition sei. Während in der traditionellen Musik für den Spannungsausgleich von außen her, durch die Formdisposition Sorge getragen war; während der eine Beethoven dann diesen ritual vorgeschriebenen Ausgleich von innen, durch den immanenten, autonomen Vollzug der Komposition nochmals rechtfertigte, sind Möglichkeit und Recht des Ausgleichs in der emanzipierten Musik problematisch geworden. Noch Schönberg komponierte nicht nur strikt unter der Alternative von Spannung und Ausgleich, sondern forderte sie auch theoretisch. Nirgends vielleicht steht er Karl Kraus, von dessen konservativer Sprachgesinnung seine musikalisch revolutionäre sonst so sehr sich abhebt, näher als darin; »Ursprung ist das Ziel« auch für ihn. Hat Schönberg die traditionelle Harmonik, die Vorherrschaft der Konsonanz und am Ende deren Begriff selber beseitigt, so ist bei ihm der Harmoniebegriff an die kompositorische Totalität zediert worden: alles Einzelne ist Spannung, aber das Ganze soll zur Harmonie sich lösen. Hier allein stößt man wohl auf seine traditionalistische Grenze, nicht die künstlerischer Gesinnung, sondern eine geschichtsphilosophische, die er aus Eigenem nicht hätte überschreiten können. Man hat seine kompositorische Leistung, zu Recht oder Unrecht, vielfach der physikalischen Einsteins verglichen: Tonalität wird bei ihm zum ›Spezialfall‹ wie bei Einstein der euklidische Raum. Sicherlich aber ist seine Musik so ›klassisch‹ wie, den jüngeren Quantenphysikern zufolge, die Relativitätstheorie klassische Physik. Der Alldissonante teilt das harmonistische Kunstideal der bürgerlichen Vergangenheit: im ästhetischen Bild soll, mit der letzten Note, alles sich versöhnen. Leicht dürften einmal Züge, die vom Primat des Spannungsausgleichs herrühren, als seine affirmativen sich enthüllen. Jenes Ideal jedoch ist nicht blank zu verwerfen; nicht ohne weiteres ist auf der nackten Darstellung von Spannung an Stelle von deren Ausgleich zu bestehen. Die Organisation des musikalischen Kunstwerks, seine ›Rationalität‹, so wie Max Weber sie für den Schlüssel der abendländischen Musikentwicklung überhaupt hielt, ist zuinnerst selber ein Tauschverhältnis, ein Zug um Zug, ein stetiges Nehmen und Geben. Die Moral des Kunstwerks, nichts schuldig zu bleiben, will den Wechsel honorieren, den der erste Takt unterschreibt. Homöostase wird zur Forderung immanenter ästhetischer Ökonomie. Analog wäre eine vom Tausch befreite Gesellschaft eine, die ihn zugleich insofern erfüllte, als sie nicht länger dem Schwächeren im Tausch etwas vorenthielte; der vom Täuschen geheilte Tausch wäre Tausch nicht länger. Entschlüge Musik sich der Idee solcher Gerechtigkeit als bloßen ideologischen Trugs, so würde sie amorph, opferte Logik und Stimmigkeit und überantwortete sich dem bloßen Zufall, der schlechten Irrationalität. Auch das kritische Kunstwerk, das den Schein der Versöhnung kündigt, hält kritisch die Idee ihrer Realisierung fest; umgekehrt aber entzieht solche Versöhnung heute sich radikal dem ästhetischen Bild. Das ist die unausweichliche Antinomie aller gegenwärtigen Kunst. Solange sie herrscht, ist technischer Spannungsausgleich nicht umstandslos eins mit harmonistischen Tendenzen der Gesamtkonstitution. Der Gehalt, der aus dem Kunstwerk vermöge solchen Ausgleichs aufsteigt, mag als bestimmte Negation gerade der Harmonisierung des Daseins opponieren. Auch Negation und Widerspruch sind nicht absolut zu setzen. In ihrem Begriff ist der einer Einheit notwendig so mitgedacht, wie in der Einheit der Widerspruch.
Hinter all dem verbirgt sich die Frage nach der Stellung exponierter neuer Musik zur Realität. Zu ihrer Apologie drängt sich auf, es sei gegenüber dem Grauen des jüngst Geschehenen und der fortdauernden Angst vor der totalen Katastrophe Kunst, die der Erfahrung davon auswiche, vorweg nichtig. Tatsächlich ist dies Element dem Wahrheitsgehalt neuer Musik, wie aller Kunst heute, notwendig, und was in der sicheren Mitte sich geborgen wähnt, anstatt bis zum äußersten zu gehen, erst recht verloren. Jeder Mensch und jede Regung weiß um so tiefer in die infernalische Totalität sich eingespannt, je beflissener sie verleugnet wird; die verkrampfte Geste von Positivität verstärkt bloß das Gefühl von Ohnmacht. Der wütende Radiohörer, der nach den ›Jünglingen‹ von Stockhausen an seine Station schreibt, das Stück hätte ihn an Atombomben erinnert, während er von der Kunst Erholung, Erhebung und Erbauung erwarte, hat in seinen subalternen Verdrängungen mehr erkannt als der versierte Kenner, der unbetroffen solche Musik zur Kenntnis nimmt und ihre Meriten gegen die anderer Produkte abwägt; wie denn insgesamt von der Verhaltensweise der verstockten Reaktion mehr zu lernen ist als von einem gemäßigten Fortschritt, der das Unmäßige schon gar nicht mehr an sich heran läßt. Aber die Einsicht darein stimmt allzugut zu dem Verdikt, die avancierte Musik hätte keine andere Wahrheit, als daß sie so scheußlich sei wie die Welt, in der sie geschrieben wird. Folgerecht schließt die These sich an, es bedürfe nicht der Kunst, um das Scheußliche bloß zu verdoppeln. Der Gehalt dieser Raisonnements ist ihrer Absicht würdig. Wäre selbst die neue Musik nichts anderes als Ausdruck jener Verzweiflung vor der Welt, sie wäre schon mehr als jene, indem sie sie ausdrückt. Was Kant in der Ästhetik des Dynamisch-Erhabenen einzig dem Naturschönen vorbehielt, das Glück des Standhaltens, worin das ganz Ohnmächtige seine Macht und Hoffnung wiederfindet, gilt, fast zweihundert Jahre später, in einer zur zweiten Natur verhärteten und mit gesellschaftlichen Naturkatastrophen drohenden Menschenwelt, erst recht für die Kunst: »Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist ...; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können ...Auf solche Weise wird die Natur in unserm ästhetischen Urteile nicht, sofern sie furchterregend ist, als erhaben beurteilt, sondern weil sie unsere Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft, um das, wofür wir besorgt sind (Güter, Gesundheit und Leben), als klein und daher ihre Macht (der wir in Ansehung dieser Stücke allerdings unterworfen sind) für uns und unsere Persönlichkeit demungeachtet doch für keine solche Gewalt anzusehen, unter die wir uns zu beugen hätten.« Nur daß dies Glück, gegenüber dem Kantischen Triumph des freien und autonomen Geistes, sich zusammengezogen hat in den Punkt, das Furchtbare überhaupt noch sagen zu können, ohne die Illusion, es wäre durch dies Standhalten des Geistes ein Absolutes verbürgt; so ist es objektiv, bar allen subjektiven ›Gefühls des Erhabenen‹. Am Ende des bürgerlichen Zeitalters erinnert sich der Geist an vorweltliche Mimesis, die reflexhafte Nachahmung, die wie immer auch vergebliche Regung, aus der einmal entsprang, was anders ist als das Seiende: der Geist selber. Vor der Übermacht der Dingwelt versteckt er sich in dem rudimentären Minimum, auf das zu regredieren die Dingwelt ihn nötigt. Dies prekäre Glück indessen ist in der exponierten neuen Musik so gegenwärtig wie die Verzweiflung. Soll das Wort von der Vielschichtigkeit der Kunst mehr sein als eine Phrase, welche die theoretische Besinnung von ihr abwehrt, dann bezieht sie sich darauf. Jene dissonanten Akkorde, an denen einmal die Wut des dem Unheil verschworenen Normalbewußtseins entflammte und die freilich heute, bliebe es nur bei ihnen, eher Öde um sich verbreiten, waren Träger des Ausdrucks nicht nur von Schmerz sondern auch von Lust. Provinzkritiker, die einmal über den Sadismus der neuen Musik zeterten, haben das treuer wahrgenommen als die Wohlmeinenden, die durch Harmlosigkeit ihre Sache verraten. Die vieltönigen Klänge tun nicht nur weh, sondern waren in ihrer schneidenden Gebrochenheit immer zugleich auch schön. Die Schwelle, die den avancierten Künstler von dem Muff des Heilen scheidet, ist heute wie vor hundert Jahren, als die ›Fleurs du mal‹ geschrieben wurden, daß er dieser Schönheit ohne Reservat sich überantwortet. Was ein Kind empfindet, das im Neuschnee seine Fußspur hinterläßt, zählt zu den mächtigsten ästhetischen Triebkräften. Wer nicht die Sehnsucht spürte, einmal einen Akkord aus acht verschiedenen Tönen von acht Blechbläsern fortissimo zu hören wie Berg, als die ›Glückliche Hand‹ noch nicht aufgeführt war, der weiß so wenig von dem Rätsel der neuen Musik, wie wer nicht in ihr vorm Gebrüll der Panik schaudert. Und ihre Wahrheit haftet gerade daran, daß sie diese Momente in eine Synthesis eigenen Wesens setzt, die der Erfahrung gerechter wird als das harte, eindeutige, dekretierende Urteil in Begriffen. Solches Glück gewährt aber, als stets sich verjüngende Unmittelbarkeit, jeder Fund der neuen Musik. Je weniger die Funde mehr im einzelnen Laut und Klang zu suchen sind, um so mehr geht jenes Glück wiederum über an das Ganze, das die diffusen und zentrifugalen Impulse in sich aufnimmt, ohne ihnen Gewalt zu tun. Durch alles Unrecht der Totalität hindurch legitimiert die neue Musik sich damit, daß keine Versöhnung des von Totalität unterdrückten Einzelnen geraten kann als kraft der Totale selber. Indem die neue Musik, in der Verneinung von Besonderem und Allgemeinem, hindrängt auf die absolute Identität, will sie zur Stimme dessen werden, was nicht in jener verschwindet, des Nicht-Identischen.