Musikstudio

Es kann kein Zweifel sein, daß aus soziologischen Gründen – die ich, im letzten Heft des »Anbruch«, mit der Betrachtung »Bewußtsein des Konzerthörers«* anzudeuten unternahm – die Stellung der neuen Musik im normalen Konzertbetrieb problematisch ist: weil das Bewußtsein derer, die in den Konzertsälen zurückblieben, den Anforderungen sich nicht gewachsen zeigt, die gerade die legitime neue Musik an die Hörerschaft stellt. Andererseits hat die Pionierarbeit der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik allenthalben an Elan und praktischer Wirksamkeit verloren. An Elan: weil es nichts Neues mehr zu entdecken gab; weil die Veranstaltungen der »Internationalen« nicht mehr der Avantgarde wesentliche frische Einsichten brachten, sondern mehr und mehr zu einem international regulierten Austausch von Werken wurden, die dem engeren Kreis der Interessierten auch ohne die »Internationale« zugänglich gewesen wären. An praktischer Wirksamkeit: weil die stabilisierte, gerade ideologisch stabilisierte und dafür ökonomisch geschwächte Gesellschaft weniger als je die Neigung zeigt, dem Experiment sich zu öffnen, das die vornehmste und beste Form der modernen musikalischen Veranstaltung bleibt. Zwischen der Produktion oder dem engen Umkreis derer, die in dauerndem Konnex mit ihr stehen, und dem eigentlichen Publikum hat sich also ein Hohlraum gebildet, den es, wie notdürftig auch immer, auszufüllen gilt, wo sich die Chance bietet.

Als eine solche Chance erscheint mir die Errichtung von Musikstudios.

Indem ich einiges vom Frankfurter Studio und meiner Erfahrung in dessen Rahmen mitteile, hoffe ich zugleich, Hinweise auf die organisatorische und künstlerische Möglichkeit der Einrichtung geben zu können, die über den lokalen Anlaß hinaus fruchtbar sein mögen.

Das Frankfurter Musikstudio wurde vor einigen Jahren im Rahmen der Frankfurter Ortsgruppe des »Verbandes der konzertierenden Künstler« auf die Initiative von Dr. Heinrich Simon hin gegründet. Es verfolgte zunächst die Absicht, junge, noch unerprobte Mitglieder der Ortsgruppe oder solche, denen die Mittel für eigene Konzerte fehlen, an die Öffentlichkeit, vor ein urteilsfähiges Publikum und vor die Kritik zu bringen. Die Programmgestaltung war absichtlich lose und unverbindlich, es wurden auch moderne Stücke, Milhaud-Lieder, eine Serenade von Redlich, Klavierstücke von Toch etwa gespielt, aber man legte sich nicht darauf fest. Gerade der lockere, improvisatorische Charakter der Konzerte aber, der niemals den Glauben erwecken wollte, es würden Resultate geboten, sondern den Hörer gleichsam in die Entstehung der musikalischen Reproduktionen hereinzog – gerade dieser spezifische Studio-Ton fand erstaunliche Resonanz und es bildete sich in kurzer Zeit ein fester Publikumsstamm. 1929 bat mich Heinrich Simon, die künstlerische Leitung des Studios zu übernehmen, nachdem es sich so kräftig entwickelt hatte, daß man an straffere künstlerische Disziplinierung denken konnte, ohne darüber die Qualitäten zu gefährden, die das Studio günstig vom offiziellen Konzert unterschieden. Ich übernahm die Aufgabe um so lieber, als wir damals noch über eine aktive Ortsgruppe der Internationalen verfügten, für die ich mit dem Studio einen lokalen Interpretenstamm heranzubilden hoffte, der sie von auswärtigen Gästen unabhängig gemacht, die Pflege der Neuen Musik am Ort fest unterbaut hätte. Ich dachte freilich keineswegs daran, das Studio auf neue Musik zu beschränken. Dazu kam es ohne mein Zutun. Zunächst zeigte sich, daß die Qualität der Darbietungen in einem Konzert alter Musik – mit selten gehörten Werken von Bach und Schubert – nicht entfernt das Niveau der modernen Konzerte erreichten: hier glaubte ein Teil der Interpreten, er brauche sich nichts sagen zu lassen und kenne sich hinlänglich aus; wodurch eben der Charakter kollektiver Zusammenarbeit empfindlich gestört wurde, den ich sonst bei der Vorbereitung der Studiokonzerte durchzusetzen trachtete, und der bei Werken, deren Stil den Interpreten fremde Aufgaben stellte, sich von selbst ergab. Die Erfahrung lockte nicht zu Wiederholungen. Dann mußte, wegen der Schrumpfung ihres Publikums, die Ortsgruppe der Internationalen ihre öffentlichen Konzerte einstellen. Das Studio durfte, in den Grenzen seiner lediglich lokalen Organisation, deren Aufgaben um so bereitwilliger übernehmen, als es ja, zunächst durchs allgemeine Interesse an den Interpreten, die hier vorgestellt wurden, über einen zureichenden Abonnentenstamm verfügte, den es selbst in der Wirtschaftskrise teilweise behauptet.

Wie stellt sich die organisatorisch-ideelle Struktur des Studios dar? An der Ausgangsidee wird festgehalten: meist sollen junge Künstler, Mitglieder der Ortsgruppe – oder es sollen wichtige, nichtarrivierte oder besonders schwierige Werke der Öffentlichkeit exponiert werden. Aus der Chance, die das Studio seinen aktiven Mitgliedern bietet, leitet es ein Recht ab: über die Auswahl der aufzuführenden Werke frei zu entscheiden und von den Mitgliedern zu verlangen, daß sie schwierige und nach landläufigem Maßstab undankbare Werke erarbeiten. Will also eine Altistin durch das Studio ohne Risiko und ohne Unkosten – freilich auch ohne Honorar, denn die gesamte künstlerische Arbeit wird ehrenamtlich geleistet – an die Öffentlichkeit, so muß sie dafür verzichten, in der »Allmacht« und der Dalila-Arie ihre Stimme auszuleben und statt dessen eine zeitgenössische Aufgabe übernehmen. Selbstverständlich nimmt die Leitung des Studios Anregungen der Interpreten entgegen und sucht sie möglichst mit solchen Aufgaben heranzuziehen, die sich ihren Intentionen und ihrem Repertoiregut einfügen. Aber meist gehen die Vorschläge vom Studio aus und künstlerische oder wenigstens informatorische Gesichtspunkte bleiben bei der Auswahl der Werke schließlich maßgebend.

Mehr Wert noch als auf die Programmgestaltung wird auf die Form der Proben gelegt. Sie suchen der Idee des »Studios« streng gerecht zu werden. Es gibt hier, wenigstens im Umkreis der mitwirkenden jungen Künstler, kein privates und unverbindliches Probieren mehr, das dann, als zu seinem Resultat, zum Konzert führt. Sondern die gesamte Vorbereitung geschieht unter aktiver Beteiligung und Verantwortung des Studios. In der Regel leite ich, aufs wirksamste unterstützt von dem Frankfurter Pianisten Erich Itor Kahn, die Proben. Die Leitung beschränkt sich nicht auf Kontrolle und Korrektur im Rahmen der ›Auffassung‹ der Interpreten, sondern sehr oft wird der Darstellungsstil von Grund auf in der gemeinsamen Arbeit festgelegt. Durchwegs wird dabei die Absicht verfolgt, an Stelle vager Vorstellungen von der Interpretation neuer Musik die präzise Erkenntnis der Werke und deren bewußte Realisierung zu setzen. Hier scheint mir die zentrale Aufgabe eines solchen Studios überhaupt zu liegen. Ohne Übertreibung darf behauptet werden, daß die völlige Divergenz zwischen Publikum und neuer Musik zum wesentlichen Teil davon herrührt, daß in den meisten Fällen – auch bei redlicher Absicht und treuer Wiedergabe des Notentextes – die neuen Werke sinnwidrig gespielt werden. Probleme von Metrik und Phrasierung, Kontrast und Zusammenhang der thematischen ›Gestalten‹, Verhältnis von Haupt- und Nebenstimmen: all dies ist heute noch Geheimnis eines ganz beschränkten Kreises von Menschen; vor allem auch, weil die offiziellen Bildungsstätten, die Konservatorien, ihre Schüler zwar gelegentlich an neue Musik heranlassen, kaum je aber in der Lage sind, richtige und falsche Darstellung neuer Dinge verbindlich zu unterscheiden. Dies pädagogische Moment zumal ist nachzuholen und zugleich ein Zustand zu korrigieren, der durch die Formen seiner musikalischen Bildung gerade die Jungen von der Musik ihrer Zeit fernhält. Im Studio besteht die Möglichkeit, die Kenntnis des adäquaten Interpretationsstiles neuer Musik nicht bloß abstrakt zu vermitteln, sondern zugleich im Material zu realisieren. Es versteht sich, daß dagegen, wie gegen die unbequemen Programme, manche Widerstände bei den Interpreten sich bildeten. Aber es half der sichtbare Erfolg, daß unverständliche Werke verständlich wurden; und das Vertrauen in den sachlichen Charakter einer Arbeit, die Prestige und öffentliche Geltung auf keiner Seite als Maßstab anerkennt.

Aus der Entstehungszeit des Studios blieb erhalten der Gebrauch kurzer einführender Ansprachen des Leiters. Dieser Gebrauch hat sich bewährt. Ohne daß die Veranstaltungen pädagogisch oder literarisch belastet würden, wird hier, mit wenigen Worten, die Grenze durchbrochen, die sonst zwischen dem Raum des Gebildes und dem des Empfangenden waltet, und damit jene Atmosphäre fließenden Versuchs geschaffen, die die alte Verdinglichung des Konzertes nicht gelten läßt und den Studiokonzerten den Charakter einer Arbeitsgemeinschaft verleiht, ohne daß darüber Arbeit und Gemeinschaft verwirrt würden.

1931

Fußnoten

* Vgl. jetzt GS 18, s. S. 815ff.