Benjamins ›Einbahnstraße‹
In jenem Gedicht des ›Siebenten Rings‹, in dem George seinen Dank an Frankreich sagt, wird Mallarmé gepriesen als »für sein Denkbild blutend«. Das Wort Denkbild, ein Hollandismus, ersetzt das vom Gebrauch ramponierte »Idee«; herein spielt eine dem Neukantianismus entgegengesetzte Auffassung des Platon, derzufolge die Idee keine bloße Vorstellung ist, sondern ein Ansichseiendes, das sich denn auch, wenngleich bloß geistig, anschauen lasse. Der Ausdruck »Denkbild« ward in Borchardts George-Rezension schneidend angegriffen und hat im Deutschen wenig Glück gemacht. Aber wie die Bücher, so haben auch die Worte, aus denen jene gefügt sind, ihr Schicksal. Während die Verdeutschung der Idee ohnmächtig blieb gegenüber der Tradition der Sprache, hat der Impuls, der nach dem neuen Wort griff, weiter gewirkt. Walter Benjamins ›Einbahnstraße‹, erstmals 1928 erschienen, ist nicht, wie man bei flüchtiger Übersicht meinen könnte, ein Aphorismenbuch, sondern eine Sammlung von Denkbildern; eine spätere Folge kurzer Prosastücke von Benjamin, die in den Umkreis der ›Einbahnstraße‹ gehören, trägt in der Tat den Namen. Freilich hat der Sinn des Wortes sich verschoben. Mit dem Georgeschen hat der Benjaminsche nur noch gemein, daß gerade solchen Erfahrungen, die der trivialen Ansicht als bloß subjektiv und zufällig gelten, Objektivität zugesprochen, ja, daß Subjektives überhaupt nur als Manifestation eines Objektiven begriffen wird – platonisch also sind Benjamins Denkbilder einzig etwa so, wie man vom Platonismus Marcel Prousts geredet hat, mit dessen Werk Benjamin nicht bloß als Übersetzer sich berührt.
Bilder jedoch sind die Stücke der ›Einbahnstraße‹ nicht wie die platonischen Mythen von der Höhle oder vom Wagen. Es sind eher gekritzelte Vexierbilder als gleichnishafte Beschwörungen des in Worten Unsagbaren. Sie wollen nicht sowohl dem begrifflichen Denken Einhalt gebieten als durch ihre Rätselgestalt schockieren und damit Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner traditionellen begrifflichen Gestalt erstarrt, konventionell und veraltet dünkt. Was nicht im üblichen Stil sich beweisen läßt und doch bezwingt, soll Spontaneität und Energie des Gedankens anspornen und, ohne buchstäblich genommen zu werden, durch eine Art von intellektuellem Kurzschluß Funken entzünden, die jäh das Vertraute umbeleuchten, wenn nicht gar in Brand stecken.
Für diese philosophische Form war es wesentlich, eine Schicht zu finden, in der Geist, Bild und Sprache sich verbinden. Das ist aber die des Traums. So enthält denn das Buch zahlreiche Traumprotokolle und Reflexionen über Träume. Den Vorrang darin behaupten Erkenntnisse, die der Traumzone abgewonnen sind. Aber dies Verfahren hat nur geringe Ähnlichkeit mit der Freudschen Traumdeutung, auf die Benjamin zuweilen anspielt. Die Träume werden nicht als Symbole fürs unbewußte Seelische gesetzt, sondern wörtlich und gegenständlich gefaßt. Freudisch gesprochen geht es in ihnen um den manifesten Trauminhalt, nicht um den latenten Traumgedanken. Zur Erkenntnis wird die Traumschicht in Beziehung gesetzt dadurch, daß die Form der Darstellung festzuhalten sucht, was an verschütteter Wahrheit die Träume anzumelden haben. Nicht auf ihren psychologischen Ursprung ist es abgesehen, sondern auf die sprichwortähnlichen, aber höchst aktuellen Winke, welche die Träume dem Wachen zukommen lassen und welche die ratio sonst verachtet. Der Traum wird zu einem Medium unreglementierter Erfahrung als Quelle von Erkenntnis gegenüber der verkrusteten Oberfläche des Denkens. Vielfach wird die Reflexion künstlich ferngehalten, die Physiognomik der Dinge dem Blitzlicht überantwortet – nicht weil der Philosoph Benjamin die Vernunft verachtet hätte, sondern weil er erst durch solche Askese das Denken selber wieder herstellen zu können hoffte, das die Welt den Menschen auszutreiben sich anschickt. Absurdes wird präsentiert, als wäre es selbstverständlich, um das Selbstverständliche zu entmächtigen.
Das Stück ›Souterrain‹ bezeugt ebenso diese Intention, wie es sie, soweit die Form des philosophischen Überfalls das überhaupt gestattet, einigermaßen umreißt. »Wir haben längst das Ritual vergessen, unter dem das Haus unseres Lebens aufgeführt wurde. Wenn es aber gestürmt werden soll und die feindlichen Bomben schon einschlagen, welch ausgemergelte, verschrobene Altertümer legen sie da in den Fundamenten nicht bloß. Was ward nicht alles unter Zauberformeln eingesenkt und aufgeopfert, welch schauerliches Raritätenkabinett da unten, wo dem Alltäglichsten die tiefsten Schächte vorbehalten sind. In einer Nacht der Verzweiflung sah ich im Traum mich mit dem ersten Kameraden meiner Schulzeit, den ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr kenne und je in dieser Frist auch kaum erinnerte, Freundschaft und Brüderschaft stürmisch erneuern. Im Erwachen aber wurde mir klar: was die Verzweiflung wie ein Sprengschuß an den Tag gelegt, war der Kadaver dieses Menschen, der da eingemauert war und machen sollte: wer hier einmal wohnt, der soll in nichts ihm gleichen.«
Die Technik der ›Einbahnstraße‹ ist der des Spielers verwandt, als den Benjamin sich fühlte und über dessen Figur er immer wieder brütete; Denken verzichtet auf allen Schein der Sicherheit geistiger Organisation, auf Ableitung, Schluß und Folgerung, und gibt sich ganz dem Glück und Risiko anheim, auf die Erfahrung zu setzen und ein Wesentliches zu treffen. Nicht zuletzt darin liegt das Schockierende des Buches. Es provoziert beim ironisch unterstellten Leser dessen eingeschliffene Abwehrreaktionen, um ihn sogleich darauf zu stoßen, daß er eigentlich längst gewußt hat, was er leugnen möchte, und nur darum es so verbissen leugnet. Denn sehr häufig kommen die Nummern heraus, auf die Benjamin setzte, und ein Vielfaches des Riskierten wird dem Gedanken zuteil. Das sind dann Erfahrungen gleich dieser schwermütig allegorischen: »Wie ein gastlicher Abend verlaufen ist, das sieht an der Stellung der Teller und Tassen, der Becher und Speisen, wer zurückblieb, auf einen Blick.« – Oder: »Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.« – Oder: »Zwei Menschen, die sich lieben, hängen über alles an ihren Namen.« Die Trauer solcher Erkenntnisse ist es, die sie im Alltag zu verdrängen gebietet; aber diese Trauer ist das Siegel ihrer Wahrheit.
Indessen besteht die ›Einbahnstraße‹ nicht nur aus Evidenzen des Unableitbaren. Zuweilen redet durchsichtige Vernunft; dann aber mit einer Schlagkraft der sentenziösen Prägung, die nicht zurückbleibt hinter jener traumhaften, aus der Kontinuität des ganzen Lebens gespeisten Gewißheit. Dahin gehören einige der Definitionen des Kunstwerks gegen das Dokument wie: »Das Kunstwerk ist synthetisch: Kraftzentrale.« – »Im wiederholten Anblick steigert sich ein Kunstwerk.« Benjamins Definitionen sind nicht festsetzende Begriffsbestimmungen sondern, der Tendenz nach, Verewigungen des Augenblicks, in dem die Sache zu sich selbst kommt. Eine Formulierung wie die folgende müßte einen heute gespensterhaft wiederkehrenden legislativen Streit für immer beenden: »Die Tötung des Verbrechers kann sittlich sein – niemals ihre Legitimierung.«
Man verstünde aber Benjamins ›Einbahnstraße‹ ganz falsch, wenn man sie um mancher ihrer methodischen Veranstaltungen als irrationalistisch, um ihrer Affinität zum Traum willen als mythologisierend ansähe. Vielmehr erscheint Benjamin die zum entfremdeten Schicksal jedes Einzelnen gesteigerte, verblendete und doch durchschaubare Verflochtenheit der Moderne und ihrer Gesellschaft eben als der Mythos, dem das Denken sich anähneln muß, um seiner selbst mächtig zu werden und damit den Bann des Mythos zu brechen. Kraft dieser Absicht gehört die ›Einbahnstraße‹, als erste von Benjamins Schriften, in den Zusammenhang der von ihm geplanten Urgeschichte der Moderne. In diesem Gebiet beschreibt er den Möbelstil der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: »Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger Jahre mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquollenen Büfetts, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, den die Balustrade verschanzt, und den langen Korridoren mit der singenden Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. ›Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden.‹ Die seelenlose Üppigkeit des Mobiliars wird wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam. Viel interessanter als der landschaftliche Orient in den Kriminalromanen ist jener üppige Orient in ihren Interieurs: der Perserteppich und die Ottomane, die Ampel und der edle kaukasische Dolch. Hinter den schweren gerafften Kelims feiert der Hausherr seine Orgien mit den Wertpapieren, kann sich als morgenländischer Kaufherr, als fauler Pascha im Khanat des faulen Zaubers fühlen, bis jener Dolch im silbernen Gehänge überm Divan eines schönen Nachmittags seiner Siesta und ihm selber ein Ende macht.« Verwandt ist die Beschreibung der Briefmarken, eines Lieblingsgegenstandes der Surrealisten, denen Benjamin in der ›Einbahnstraße‹ sich zuneigt: »Briefmarken starren von Zifferchen, winzigen Buchstaben, Blättchen und Äuglein. Sie sind graphische Zellengewebe. Das alles wimmelt durcheinander und lebt, wie niedere Tiere, selbst zerstückelt fort. Darum macht man aus Briefmarkenteilchen, die man zusammenklebt, so wirksame Bilder. Aber auf ihnen hat Leben immer den Einschlag von Verwesung zum Zeichen, daß es aus Abgestorbenem sich zusammensetzt. Ihre Porträts und obszönen Gruppen stecken voller Gebeine und Würmerhaufen.« Während Benjamins Denken, ohne Mentalreservat, bis zur Verliebtheit in jenes Mythische eingeht, erzittert doch jeder seiner Sätze von der Ahnung, die einmal als Axiom im Buch ausgesprochen wird: daß dies schuldhafte Ganze der Moderne untergehe, sei es an sich selber, sei es durch Kräfte, die es von außen stürzen. Der Wille, der die ›Einbahnstraße‹ beherrscht, ist der, an der Übermacht des Bestehenden, sei's auch ohne Hoffnung, sich selber zu stählen: die mythologischen Botschaften, die aus dem Traum herausgehört werden, sind stets fast solche einer unsentimentalen, aller Illusionen von Innerlichkeit und Geborgenheit sich entschlagenden Disziplin, eines »Wirf weg, damit Du gewinnst«. Von der Härte der Vorwelt möchte denkende Erinnerung lernen, die Härte des Gegenwärtigen durch die eigene zu überbieten. Der Weltlauf hat Benjamins ursprünglich der Politik abgewandtes, metaphysisches Ingenium gezwungen, seine Regungen in politische umzusetzen. Zum Dank für solche Entäußerung sind ihm – schon während der Inflation der ersten Jahre nach 1918 – gesellschaftliche Einsichten zuteil geworden, die heute noch gelten wie damals, und in denen die Prognose des Unheils beschlossen liegt, dessen Opfer Benjamin selber wurde. So heißt es in der ›Reise durch die deutsche Inflation‹: »Eine sonderbare Paradoxie: die Leute haben nur das engherzigste Privatinteresse im Sinne, wenn sie handeln, zugleich aber werden sie in ihrem Verhalten mehr als jemals bestimmt durch die Instinkte der Masse. Und mehr als jemals sind die Masseninstinkte irr und dem Leben fremd geworden.«
Saturnisch gilt Benjamins Blick dem Zusammenhang jenes heraufdämmernden Unheils, und manchmal will es scheinen, als verfiele er dem, was Anna Freud die Identifikation mit dem Angreifer genannt hat, etwa an jener Stelle, an der er den Begriff der Kritik verleugnet und ihm im Namen kollektiver Praxis, auf allzu vertrautem Fuß mit dem Zeitgeist sich gebärdend, das kontrastiert, wovor es ihm selber am meisten graute. Von allen Sätzen der ›Einbahnstraße‹ ist der schwermütigste: »Wieder und wieder hat es sich gezeigt, daß ihr Hangen am gewohnten, nun längst schon verlorenen Leben so starr ist, daß es die eigentlich menschliche Anwendung des Intellekts, Voraussicht, selbst in der drastischen Gefahr vereitelt« – der schwermütigste darum, weil Benjamin selbst, der nichts anderes wollte, als aus dem Traum die Stimme vernehmen, die das heilsame Erwachen bringt, eben jene Rettung mißlang. Aber nur kraft der Verfallenheit ans Objekt, bis zur buchstäblichen Auslöschung des Selbst, waren die Einsichten der ›Einbahnstraße‹ zu erringen. Das außerordentliche Buch selbst enträtselt sich in den Worten, mit denen darin die ›Spes‹ Andrea Pisanos dargestellt wird: »Sie sitzt, und hilflos erhebt sie die Arme nach einer Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie geflügelt. Nichts ist wahrer.«