Klemperers »Don Giovanni«*
Als ich vor einigen Jahren Otto Klemperer fragte, wie Mahler nun eigentlich dirigiert habe, antwortete er, aus genauer Erinnerung: vollkommen natürlich. Was damit gemeint ist, kann man wohl nur in seinem Stellenwert richtig verstehen: nicht Naturburschentum und Naivetät, sondern Verzicht auf alles von außen her die Musik Modelnde, Aufputzende und Aufputschende. Ernst verwehrt, sie interessant zu machen; er überläßt rein sich dem, was in der Musik sich abspielt. Wäre das Wort Sachlichkeit nicht so fatal geworden, es träfe am besten jenes Darstellungsideal. Kein neusachlicher Gestus freilich walzt dabei Expression und Differenziertheit der Musik platt. Aber Klemperer will der Sache selbst, in all ihrem Reichtum, zur Sprache verhelfen, derart, daß es der Zutat nicht bedarf.
Wie man wohl im Alter entscheidende Erfahrungen der Jugend wiederherstellt, so verhält er sich in der Don Giovanni-Aufnahme, mit Natürlichkeit jenes Sinnes. Verfahrungsart und Ergebnis erweisen sich als ungemein fortgeschritten. Der Dirigent beschränkt sich in weitem Maß auf die Kontrollfunktion. Er setzt gleichsam, in jeder Nummer, einen Rahmen, Grenzen gegen die Willkür. Dabei überleben neoklassizistische Neigungen der zwanziger Jahre wie die Scheu vorm Rubato. Im einmal gesetzten Rahmen jedoch haben die Sänger – und Klemperer nimmt den Don Giovanni durchaus als Sängeroper – Freiheit zur Entfaltung. Vom Pult her wird gänzlich entspannt musiziert. Die Désinvolture des Dirigenten kontrastiert aufs äußerste zum gegenwärtigen Gebrauch, jeden Takt, jede Note an die Kandare zu nehmen, keine Sekunde locker zu lassen. Nur bei der großen Zäsur, in der Szene des Steinernen Gastes, greift Klemperer, wahrhaft im barocken Geist, ein, dann allerdings mit überwältigender Wirkung. Entspannt sind auch die Zeitmaße, gelassen, fast niemals anspornend, doch ohne die leiseste Sentimentalität. Über die gemäßigten Tempi könnte man zuweilen streiten; im Don Giovanni werfen zumal manche Allabreve-Sätze schwierige Fragen nach der Wahl der Zählzeit auf. Indessen sind auch befremdende Tempi aus aufgespeicherter Erfahrung bedacht, bar alles Preziösen. Wo hingegen Klemperer rascher taktiert, als es von der Tradition her vertraut ist, wie in Là ci darem la mano, erleichtert er das Atmen und baut ganz ungewohnte, überzeugende Phrasierungsbögen.
Obwohl das Ganze den Vorrang über die Teile behauptet, widerfährt diesen nicht Gewalt. Getreu trifft der Einstand von Ganzem und Teilen das Formgesetz des Werkes, der Opera assoluta. Formal stellt sie als ein Gefüge von Stücken sich dar, deren jedes aufs bestimmteste geprägt ist und von sämtlichen anderen sich abhebt, während doch ein jedes, bis in latente Motivzusammenhänge hinein, nur aus dem Don Giovanni sein kann; und solche Doppelheit gibt den einzig legitimen Begriff von Stil ab. Er entspringt aber im spezifischen Gehalt des Don Giovanni. Denn wie die Individuation der Einzelheit und die Stileinheit des Ganzen darin sich balancieren, so verhalten die geschichtlichen Momente des Werkes sich zueinander. Der Held, den bereits das ängstliche Personenverzeichnis, als wollte es die Autoren entschuldigen, als außerordentlich ausschweifend anschwärzt, ist der Spätfeudale, der im bürgerlichen Zeitalter, in das er geraten ist, verbrecherisch heißt gleich den Figurinen des Marquis de Sade. Zugleich jedoch verkörpert seine altertümliche Libertinage gegenüber der Moral, die ihn ereilt, das Potential von Freiheit. Auf sie beruft er sich ausdrücklich als Gastgeber, während er sie real an den anderen mißachtet. Die Oper glückt auf der Paßhöhe der Zeitalter. Deren Spannung, nicht das, was man einmal Idee zu nennen pflegte, bewegt dies Welttheater. Klemperers Haltung gehorcht der mehrdeutigen Vielfalt eines Gebildes, das auf keinen herrschenden Oberbegriff abzuziehen wäre. Noch daß die Oper, die zum düstersten Ernst gravitiert, Dramma giocoso heißt, hat seinen Grund; Don Juan unter den Bürgern ist nicht nur der Dämon sondern auch, ihren Spielregeln zufolge, der Clown. Die Taten seiner Unwiderstehlichkeit gehören in der Oper der Vergangenheit an; als wäre er Falstaff, erbeutet er keine Geliebte mehr. Schilt er den Leporello, der es schlecht bei ihm hat und der nicht los von ihm kommt, einen buffone, so spiegelt im Diener sich der Herr.
Das Problem einer jeden Aufführung bleibt das Verhältnis von Ganzem und Teilen. Klemperer würgt diese nicht ab; immerhin scheint mir, daß sie mehr an Zuspruch bedürften, um zu dem Ihren zu kommen, als er ihnen gewährt, um das Ihre nicht zu verletzen. Es fehlt nicht an entzückenden Details wie den unvermutet frechen Pfiffen von Flöten und Fagotten in der Registerarie. Gegenüber stehen dem Spuren von Askese; manchmal wird Mozart ferngerückt, wie man mit Bach in den zwanziger Jahren zu verfahren pflegte. Das gilt zumal fürs Orchester: so als gebrauchte der große Dirigent die linke Hand allzu sparsam, nicht gesonnen, Takte herauszumodellieren wie die zwei lyrischen der Geigen in der Einleitung zum Chor der Landleute des ersten Akts; auch könnte man sich vorstellen, daß Zerlina die Reprise ihrer ersten Arie mehr einlegen dürfte, weniger rigoros sie durchsänge. Das Understatement überwiegt. Finessen sollen dadurch sich bewähren, daß sie nicht unterstrichen sind. Frage nur, ob sie nicht unbemerkt bleiben, solange die Interpretation sie nicht, sei's noch so diskret, ins Licht rückt.
Zu bedenken wäre weiter, ob nicht das feine Gefädel der Binnenstruktur, die ungezählten subtilen Kontraste neben den drastischen von forte und piano mehr herausgearbeitet werden sollten – so im Figarozitat der Gastmahlszene, dessen beide Halbsätze ebenso bestimmt sich unterscheiden wie sie zu einer Phrase zusammengewachsen sind. Allenthalben bereitet das gegenwärtige Musizieren, das schon vor vierzig Jahren in Klemperer seinen Pionier hatte, die Schwierigkeit, den Einzelheiten zurückzuerstatten, was ihnen, reaktiv auf den romantischen Brauch, entzogen wurde, und gleichwohl das Ganze nicht aufzuweichen. Das erheischt, gerade um des objektiven Reichtums willen, jenen Zusatz an sogenannter subjektiver Interpretation, den Klemperer, aus Ehrfurcht vorm Objekt, und wahrhaft nicht aus Mangel an Kraft und Phantasie, vielfach sich versagt. Nachgerade ist die Frage der Wiedergutmachung am Detail so sehr zu der allen Musizierens geworden, daß keinem einzelnen Interpreten ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, wenn er sie noch nicht gänzlich löst. Ungewiß, ob sie ganz lösbar ist. Am meisten trägt Klemperer zur Lösung dadurch bei, daß er nirgends aus der Vorstellung des Klangs als eines Selbstzwecks musiziert, nicht einmal einen blanken und blitzenden Klangspiegel anstrebt, sondern unbeirrt auf das sich konzentriert, was musikalisch geschieht.
Gesungen wird von einem internationalen Ensemble, italienisch und auf sehr italienische Weise, mit feurigen Rezitativen und viel bei canto, in reizvollem Kontrast zu der strengen Gesamtanlage. Den Don Juan gibt Nicolai Ghiaurov. Er verfügt musikalisch und kultiviert über seine schöne Stimme. Daß er einiges an suggestiver Kraft schuldig zu bleiben scheint, dafür mag auch der Unterschied von Schallplatte und lebendigem Theater verantwortlich sein. In den Rezitativen dafür tut er vielleicht des Guten einiges zuviel mit dröhnendem Lachen, eher dem Surrogat einer ohnehin verdächtigen Lebensfreude. Bei der atemlosen Champagnerarie wäre die Kunst erst, sie in einem Guß hinzusetzen und gleichzeitig aufs äußerste nuanciert.
Das Zentrum erobert, kraft purer musikalischer Qualität, Christa Ludwig als Elvira. Diese Sängerin ist, durch Gesangskunst und Ausdrucksfähigkeit, eine der bedeutendsten Mezzosopranistinnen geworden, über die das musikalische Theater derzeit verfügt; während der letzten Jahre hat sie eine Wärme gewonnen, die den Hörer überflutet und einhüllt. Die großen Arien Ah! mi dice mai und Mi tradi quell'alma ingrata sind Glanzstücke. Übertroffen werden sie womöglich noch durch das Andantino-Terzett in A-Dur aus dem zweiten Akt, nach musikalischem Gestaltenreichtum, ausgeglichenster Mannigfaltigkeit wahrscheinlich die vollkommenste Komposition der Oper, in der Wiedergabe durchaus von Frau Ludwig bestimmt. – Claire Watson singt die Donna Anna. Die Erweiterung und Steigerung, zu welcher ihr Sopran sich durcharbeitete, ist bewundernswert, doch unverkennbar die Gefahr, daß sie sich etwas übernimmt, wie es übrigens die Kehrseite der an sich höchst legitimen Tendenz ist, an die überlieferten Rollenfächer nicht sich zu binden. Für die hochdramatischen Stellen ist die Stimme schwerlich durchschlagend genug. Der Koloratur dafür gebricht es an Souveränität und Sicherheit, vor allem in der Arie Non mi dire, mit deren berüchtigten Anforderungen im Allegroteil Frau Watson nicht ganz fertig wird. Eine Koloratursängerin großen Stils muß aus einer Leichtigkeit und Fülle schenken, die das Halsbrecherische spielend hinzuwerfen scheint; der Koloratur lediglich gerecht werden, fällt bereits hinter ihre Idee zurück. Der Doppelcharakter von hochdramatischer und Koloratursopranistin war zu Mozarts Zeit selbstverständlich. Unter gegenwärtigen Voraussetzungen ist er kaum zu erwarten: historische Grenze einer möglichen Darstellung des Don Giovanni. – Die Zerlina von Mirella Freni singt rein und hübsch, wenn auch nicht so plastisch abgehoben von den anderen Frauen, wie es der Rolle anstünde; im Sinn der Schallplatte als Form müßten die Timbres der Darsteller fast überdeutlich sich unterscheiden, die hier ja allein die Personen definieren. Herr Berry ist ein buffonesker Leporello, ohne im mindesten zu chargieren. Herr Gedda zieht sich als Ottavio mit soviel Anstand aus der Affäre, wie es dem Bräutigam aller Bräutigame nur möglich ist; Herr Montarsolo macht aus Masetto einen stilgerechten Tölpel; der große Commendatore ist Franz Crass. Begleitet wird vom Neuen Philharmonia Orchestra London. Klemperers Konzeption erteilt dem Orchester dienende Funktion; ihr unterwirft es sich willig, verständlicherweise kommt vom Orchester her nicht viel Spontaneität. Die Instrumentalbässe klingen manchmal etwas indifferent; akustische Bedingungen mögen die Schuld tragen.
Nicht vergessen sei, unter den Vorzügen der Schallplattenaufnahme, daß sie, der Rücksicht aufs Theater ledig, nur ganz wenige Striche aufweist. Täusche ich mich nicht, so fehlt, außer ein paar wirklich entbehrlichen Seccorezitativen, nur das Duett von Zerlina und Leporello aus dem zweiten Akt, nach seiner Numerierung in der Partitur vermutlich ein Einschiebsel. Lehrreich wäre der Vergleich zwischen dem italienischen Originaltext und der gängigen deutschen Version, die sogleich das Libretto unmißverständlich verbürgerlichte.
Klemperer behält die letzte Szene, nach der Höllenfahrt, bei, aus neoklassizistischer, auf Cocteau, schließlich Nietzsche zurückdatierender intellektueller Liebe zu den Konventionen, aus Widerstand gegen das Wagnerische Musikdrama. Mittlerweile trägt die Restauration des Topos vom fröhlichen Beschluß, nur weil es gut wäre, einen zu haben, nicht mehr recht. Die Größe der Komturszene übersteigt gebietend alles vorhergegangene Spiel; danach muß das wiederhergestellte abfallen. Keine Berufung auf Stil hat Macht über ein Werk, das auf seiner Höhe sein eigenes Stilisationsprinzip außer Kraft setzt. Die Schwäche des Dur-Finales ist keine glückliche Rückkunft in die Form: sie bezeugt, wie unwiederbringlich durch Mozart das dix-huitième geworden ist. Bei Aufführungen auf der Bühne sollte man auf das Finale verzichten; erklärt man es sich als ironisch, so wird sein Anspruch eher bestritten als bekräftigt. Schließlich hatte – wenn es schon um die ominöse Werktreue geht – Mozart selber den Strich gebilligt. Zu schützen ist das Werk vor Einbrüchen einer krampfhaften Naivetät, welche die Szene des Komturs, letzte barocke Allegorie als vorweltliches Bild, rückwirkend zum Läppischen verurteilt.
Wer gewillt ist, den Don Giovanni mit vollem Bewußtsein, mit Kategorien gleichsam, zu hören, für den sind die Platten Klemperers unerschöpflich.
Fußnoten
* EMI 165–00 061/64.