Metronomisierung
Nicht folgen aus dem natürlichen Wesen der Musik zeitlose Regeln für die Bezeichnungen der Interpretation. Wie die Interpretation haben auch deren Bezeichnungen ihre Geschichte: die die wechselnde Spannung zwischen vorgesetzter Form und personaler Freiheit spiegelt. Aktuell mag eine Grenzlage angenommen sein von der Art, daß jene Spannung schwand. Dann wäre etwa zu sagen:
Der Vorteil der Metronomisierung ist, daß die Tempovorstellung des Autors rational fixiert wird. Da weder eine objektive Formtradition den Vortrag verbindlich bestimmt, noch Werke aus dieser Zeit irgend Freiheit des Spieles lassen, ist solche Fixierung notwendig, ohne daß sie freilich die Interpretation zu sichern vermöchte. Der Willkür des Interpreten, die nur noch als schlechtes Gegenbild spielender Freiheit sich behauptet, beugt Metronomisierung drastisch vor.
Als Nachteil der Metronomisierung wäre eben die rationale Starrheit des Verfahrens zuzugeben, das geeignet scheint, jenes vielberufene lebendige Leben der Aufführung zu bedrohen. Aber einmal ist die Anwendung der Kategorie Leben auf Kunstwerke – die Gebilde, nicht Geschöpfe sind – fragwürdig. Weiter ist der Verdacht gegründet, daß jenes Leben oft nicht mehr ist als eine Ideologie der Interpreten, die sich von der Forderung eines in sich geschlossenen, nicht durch sie erst zu konstituierenden Werkes angegriffen fühlen und denen die eigene Laxheit über das Leben der Werke geht, das sich freilich nicht zwischen ritardando und a tempo zuträgt, sondern die Geschichte der Werke im Wechsel ihrer Interpretation ist – so wie es Schönbergs Aufsatz über mechanische Musikinstrumente bestätigt. Daß ein Werk nicht nach dem Metronom ausdirigiert werden kann – es sei denn, es habe selber mechanistische Absichten –, sondern daß die Metronomzahl näherungsweise die modifizierbare Grundeinheit der Zählzeit angibt, sollte sich von selbst verstehen und keinem pedantischen Zweifel unterliegen. Schönberg hat übrigens die dienende Funktion der Metronomzahl in den Georgeliedern, op. 15, prägnant umschrieben. Das freie Maß des Interpreten reicht nicht mehr aus, die Interpretation zu definieren; während umgekehrt zwischen drei »toten«, aber exakten Zähleinheiten bessere Phrasierung, besserer Klang, treuere Erfassung des Werkes auf der adäquaten Stufe seiner Geschichte – endlich also mehr Leben Raum hat als zwischen privaten Schwankungen, deren individualistische Herkunft einer Stufe der musikalischen Geschichte angehört, die sich überlebte; deren aufdringliche Lebendigkeit in Wahrheit tot, nach Mustern manipuliert ist.
Die Vorteile überwiegen entscheidend und in der Praxis, die hier der Theorie nicht wohl kontrastiert werden mag, da Theorie der musikalischen Darstellung allein deren konkrete Erfordernisse bezeichnet. Bedenklich scheint mir nur die Metronomisierung älterer Werke, die der interpretativen Freiheit mehr vorgeben; obwohl die Geschichte der Bach-Metronomisierungen im neunzehnten Jahrhundert, wenn auch als Geschichte von Irrtümern, die Geschichte der Werke selbst gut repräsentiert. Da jedoch der Verfall der reproduktiven Freiheit nicht nur von der Struktur der zeitgenössischen Werke diktiert, sondern auch von der traditionsfernen Situation der Reproduzierenden selbst mitbedingt wird, ist nicht abzusehen, ob nicht binnen kurzem auch die Metronomisierung von Musik aus anderer Zeit notwendig wird. Ob weiter im Stadium ihrer Metronomisierung ältere Musik zugleich ins Stadium antiquarischer Bewahrtheit trete – ob ihre Geschichte dann ihr Ende habe, bleibe unerörtert. Im einzelnen wird der Takt manche Widersprüche der Erkenntnis schlichten müssen.
Mißverständnissen, »die aus der allzu großen Genauigkeit der Metronomisierung entstehen können«, wird der Komponist vorbeugen, etwa durch noch größere Genauigkeit: indem er nämlich mehrere Zähleinheiten einführt (Tempo I, Tempo II, Tempo III, alle metronomisiert) oder bei Tempo-Änderungen auch die Metronomzahl modifiziert, also:
Bewegt ( =
120) – etwas ruhiger (
= 92) – straffer (
=
106) Hauptzeitmaß (
= 120).
Im übrigen vermag die sprachliche Bezeichnung – die nicht nur das Zeitmaß, sondern auch den Charakter trifft – stets zureichend zu helfen.
Die Regerschen Metronomisierungen der Ritardandi
und Accelerandi scheinen mir darum verfehlt, weil sie die
Tempomodifikationen notwendig aus Abschnitten zusammengesetzt
denken, deren jeder – wie klein auch immer – eine konstante
Zähleinheit aufweist, während die gänzlich funktionelle Musik
Regers tatsächlich nur stetige Übergänge der Tempi kennt. So wenig
im Verlauf einer ausgedehnten Modulationsgruppe bei Reger ein
Abschnitt eindeutig auf eine Tonart zu beziehen ist, so wenig läßt
sich bei seinen Tempo-Abwandlungen eine Gruppe auf eine – selbst
nur ideale – Zähleinheit beziehen. Im Falle solcher stetigen
Abwandlung mag es genügen, Anfangs-und Endpunkt zu metronomisieren.
Auch hier kann der sprachliche Ausdruck differenzieren. – Ein
Beispiel: wenn der Schluß eines stringendo besonders
zusammengedrängt ist, läßt sich der Hauptbezeichnung (... von x [
= 92] bis y [
= 160] beschleunigen) noch die
Unterbezeichnung »4 Takte vor y sehr drängend« hinzufügen. So bei
stetigen und relativ stetigen Modifikationen: solche dagegen, die
durch Rückungen vollzogen werden, kann man getrost metronomisieren.
Zu solchen Rückungen rechnen außer jähen Tempowechseln (Variationen
in Mahlers IV.) die »stockenden« Ritardandi, die sich Stetigkeit
durch Wiederholung des gleichen Motivs oder Motivglieds bewahren,
für jede dieser Wiederholungen aber ein anderes Zeitmaß verlangen.
Ausmetronomisierte stockende Ritardandi finden sich paradigmatisch
in Anton Weberns op. 2 (gemischter Chor a capella ›Entflieht auf
leichten Kähnen‹) und op. 5 (Fünf Sätze für Streichquartett).
Der Verzicht auf weitere Tempovorschriften bei genauer Metronomisierung hängt ab vom Charakter des Stücks. Er ist gerechtfertigt, wo der Charakter evident ist durch den Formtypus, dem das Stück offenkundig angehört (Rondo aus Schönbergs Bläserquintett); wo Musik so radikal von intentionalen Gehalten entleert ist, daß ihr kein »Charakter« zukommt, es sei denn, die Negation des Charakters (Quartettconcertino von Strawinsky); hier hat das Fehlen sprachlicher Bezeichnungen polemischen Sinn; die Charaktere sind »ausgespart«; endlich wo die Musik derart sich differenzierte, daß man fürchten muß, mit der sprachlichen Bezeichnung ihr Gewalt anzutun. Jedenfalls indessen wäre es ebenso voreilig, über sprachliche Bezeichnungen das generelle Verdikt auszusprechen, wie das Ende der musikalischen Charaktere schlechtweg vorherzusagen.
Die mangelnde Anschaulichkeit der Ziffern durch die metronomische Fixierung der »jedem Musiker anschaulichen Begriffe Largo, Adagio, Andante etc.« zu korrigieren, scheint mir nicht möglich, da ich die »Anschaulichkeit« jener Begriffe, wenigstens insoweit neue Werke in Frage stehen, bezweifle. Jene Begriffe meinen Typen und ihre Objektivität wird getragen einzig von der Objektivität der Typen, auf die sie angewandt werden. Da die Typen sich zersetzten, ist das Recht ihrer Namen gemindert und reicht gewiß nicht aus, Gebilde zu umfassen, die aus der typischen Ordnungssphäre sich loslösten. Die Anwendung typischer Bezeichnungen auf Werke, die der realen Geltung von Typen fremd sind – andere rechnen heute nicht –, könnte nur den Schein einer Objektivität konservieren, den die Werke widerlegen, ehe sie nur beginnen; und wäre bloß geeignet, die reinliche Wirkung der metronomischen Angaben illusorisch zu machen, deren Wahrheit darin beruht, daß unter Verzicht auf jede typisch bestätigte Regel des Vortrags und unter Verzicht auf die Freiheit, die solchem Vortrag angemessen wäre, das wenige gesetzt wird, was an regelndem Vermögen der isolierten ratio innewohnt und in der Strenge, welche allein durch genaue Fassung der subjektiv-kompositorischen Absicht die Interpretation vor schlechter Anarchie behütet. Oder hält man es für Zufall, daß der späte Beethoven bereits oft den italienischen Typenworten den deutschen Ausdruck seines personalen Willens hinzufügte, in der sprachlichen Doppelheit den Doppelsinn seiner Gesamtsituation getreu kundgebend? Als Hilfsschematismen für Metronomzahlen sind die ontologisch allzu gefüllten italienischen Worte vollends unbrauchbar. Sie sind legitim allein dort, wo nicht romantisch in den Typen, sondern bewußt, transparent und aktuell mit den Typen gespielt wird, ohne daß deren Realität behauptet wäre. Außer Bergs Kammerkonzert wüßte ich nicht viele Werke, denen dies Recht zu konzedieren ist.