Dialektische Epilegomena
Zu Subjekt und Objekt
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Mit Erwägungen über Subjekt und Objekt einzusetzen, bereitet die Schwierigkeit anzugeben, worüber eigentlich geredet werden soll. Offenkundig sind die Termini äquivok. So kann »Subjekt« sich auf das einzelne Individuum ebenso wie auf allgemeine Bestimmungen, nach der Sprache der Kantischen Prolegomena von »Bewußtsein überhaupt« beziehen. Die Äquivokation ist nicht einfach durch terminologische Klärung wegzuräumen. Denn beide Bedeutungen bedürfen einander reziprok; kaum ist die eine ohne die andere zu fassen. Von keinem Subjektbegriff ist das Moment der Einzelmenschlichkeit – bei Schelling Egoität genannt – wegzudenken; ohne jede Erinnerung daran verlöre Subjekt allen Sinn. Umgekehrt ist das einzelmenschliche Individuum, sobald überhaupt auf es in allgemeinbegrifflicher Form als auf das Individuum reflektiert, nicht nur das Dies da irgendeines besonderen Menschen gemeint wird, bereits zu einem Allgemeinen gemacht, ähnlich dem, was im idealistischen Subjektbegriff ausdrücklich wurde; sogar der Ausdruck »besonderer Mensch« bedarf des Gattungsbegriffs, wäre sonst sinnleer. Implizit wohnt noch den Eigennamen die Beziehung auf jenes Allgemeine inne. Sie gelten einem, der so und nicht anders heißt; und »einer« steht elliptisch für »einen Menschen«. Wollte man dagegen, um Komplikationen dieses Typus zu entgehen, die beiden Termini definieren, so geriete man in eine Aporie, die zu der von der neueren Philosophie seit Kant stets wieder gewahrten Problematik des Definierens hinzutritt. In gewisser Weise nämlich haben die Begriffe Subjekt und Objekt, vielmehr das, worauf sie gehen, Priorität vor aller Definition. Definieren ist soviel wie ein Objektives, gleichgültig, was es an sich sein mag, subjektiv, durch den festgesetzten Begriff einzufangen. Daher die Resistenz von Subjekt und Objekt gegens Definieren. Ihre Bestimmung bedarf der Reflexion eben auf die Sache, welche zugunsten von begrifflicher Handlichkeit durchs Definieren abgeschnitten wird. Deshalb empfiehlt es sich, die Worte Subjekt und Objekt zunächst so zu übernehmen, wie sie die eingeschliffene philosophische Sprache als Sediment von Geschichte an die Hand gibt; nur freilich nicht bei solchem Konventionalismus zu verharren, sondern kritisch weiter zu analysieren. Anzuheben wäre mit der angeblich naiven, wenngleich selber schon vermittelten Ansicht, daß ein wie immer auch geartetes Subjekt, ein Erkennendes, einem gleichfalls wie immer auch gearteten Objekt, dem Gegenstand der Erkenntnis, gegenüberstehe. Die Reflexion dann, welche in der philosophischen Terminologie unter dem Namen der intentio obliqua geht, ist die Rückbeziehung jenes vieldeutigen Objektbegriffs auf einen nicht minder vieldeutigen vom Subjekt. Zweite Reflexion reflektiert jene, bestimmt das Vage näher um des Gehalts der Begriffe Subjekt und Objekt willen.
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Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein. Wahr, weil sie im Bereich der Erkenntnis der realen Trennung, der Gespaltenheit des menschlichen Zustands, einem zwangvoll Gewordenen Ausdruck verleiht; unwahr, weil die gewordene Trennung nicht hypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werden darf. Dieser Widerspruch in der Trennung von Subjekt und Objekt teilt der Erkenntnistheorie sich mit. Zwar können sie als getrennte nicht weggedacht werden; das peydos der Trennung jedoch äußert sich darin, daß sie wechselseitig durcheinander vermittelt sind, Objekt durch Subjekt, mehr noch und anders Subjekt durch Objekt. Zur Ideologie, geradezu ihrer Normalform, wird die Trennung, sobald sie ohne Vermittlung fixiert ist. Dann usurpiert der Geist den Ort des absolut Selbständigen, das er nicht ist: im Anspruch seiner Selbständigkeit meldet sich der herrschaftliche. Einmal radikal vom Objekt getrennt, reduziert Subjekt bereits das Objekt auf sich; Subjekt verschlingt Objekt, indem es vergißt, wie sehr es selber Objekt ist. Das Bild eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt aber ist romantisch; zuzeiten Projektion der Sehnsucht, heute nur noch Lüge. Ungeschiedenheit, ehe das Subjekt sich bildete, war der Schrecken des blinden Naturzusammenhangs, der Mythos; die großen Religionen hatten ihren Wahrheitsgehalt im Einspruch dagegen. Übrigens ist Ungeschiedenheit nicht Einheit; diese erfordert, schon der Platonischen Dialektik zufolge, Verschiedenes, dessen Einheit sie ist. Das neue Grauen, das der Trennung, verklärt denen, die es erleben, das alte, das Chaos, und beides ist das Immergleiche. Vergessen wird über der Angst vor der gähnenden Sinnlosigkeit die einst nicht geringere vor den rachsüchtigen Göttern, welche der epikureische Materialismus und das christliche Fürchtet euch nicht von den Menschen nehmen wollten. Anders nicht als durch Subjekt ist das vollziehbar. Würde es liquidiert, anstatt in einer höheren Gestalt aufgehoben, so bewirkte das Regression des Bewußtseins nicht bloß sondern eine auf reale Barbarei. Schicksal, die Naturverfallenheit der Mythen, stammt aus totaler gesellschaftlicher Unmündigkeit, einem Zeitalter, darin Selbstbesinnung noch nicht die Augen aufschlug, Subjekt noch nicht war. Anstatt jenes Zeitalter durch kollektive Praxis zur Wiederkehr zu beschwören, wäre der Bann des alten Ungeschiedenen zu tilgen. Seine Verlängerung ist das Identitätsbewußtsein des Geistes, der repressiv sein Anderes sich gleichmacht. Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erst käme der Begriff von Kommunikation, als objektiver, an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich, weil er das Beste, das Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.
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In der Erkenntnistheorie wird unter Subjekt meist soviel wie Transzendentalsubjekt verstanden. Nach idealistischer Lehre baut es entweder, kantisch, die objektive Welt aus einem unqualifizierten Material auf oder erzeugt sie, seit Fichte, überhaupt. Daß dies transzendentale, alle inhaltliche Erfahrung konstituierende Subjekt seinerseits von den lebendigen einzelnen Menschen abstrahiert sei, wurde nicht erst von der Kritik am Idealismus entdeckt. Evident ist, daß der abstrakte Begriff des transzendentalen Subjekts, die Formen von Denken, deren Einheit und die ursprüngliche Produktivität von Bewußtsein, voraussetzt, was er zu stiften verspricht: tatsächliche, lebendige Einzelwesen. Das war in den idealistischen Philosophien gegenwärtig. Kant zwar hat eine grundsätzliche, konstitutions-hierarchische Verschiedenheit des transzendentalen vom empirischen Subjekt im Kapitel von den psychologischen Paralogismen zu entwickeln versucht. Seine Nachfolger indessen, zumal Fichte und Hegel, aber auch Schopenhauer, trachteten, mit der unübersehbaren Schwierigkeit des Zirkels in subtilen Beweisführungen fertig zu werden. Vielfach rekurrierten sie auf das Aristotelische Motiv, das fürs Bewußtsein Erste – hier: das empirische Subjekt – sei nicht das an sich Erste und postuliere als seine Bedingung oder seinen Ursprung das transzendentale. Noch die Husserlsche Polemik gegen den Psychologismus samt der Distinktion von Genesis und Geltung fällt in die Kontinuität jener Argumentationsweise. Sie ist apologetisch. Bedingtes soll als unbedingt, Abgeleitetes als primär gerechtfertigt werden. Wiederholt wird ein Topos der gesamten abendländischen Überlieferung, demzufolge allein das Erste oder, wie Nietzsche kritisch es formulierte, nur das nicht Gewordene wahr sein könne. Die ideologische Funktion der These ist nicht zu verkennen. Je mehr die einzelnen Menschen real zu Funktionen der gesellschaftlichen Totalität durch deren Verknüpfung zum System herabgesetzt werden, desto mehr wird der Mensch schlechthin, als Prinzip, mit dem Attribut des Schöpferischen, dem absoluter Herrschaft, vom Geist tröstlich erhöht.
Gleichwohl wiegt die Frage nach der Wirklichkeit des transzendentalen Subjekts schwerer, als sie in dessen Sublimierung zum reinen Geist, vollends beim kritischen Widerruf des Idealismus, sich darstellt. In gewissem Sinn ist, was freilich der Idealismus am letzten zugestünde, das transzendentale Subjekt wirklicher, nämlich für das reale Verhalten der Menschen und die Gesellschaft, die daraus sich bildete, bestimmender als jene psychologischen Individuen, von denen das transzendentale abstrahiert ward und die in der Welt wenig zu sagen haben; die ihrerseits zu Anhängseln der sozialen Maschinerie, am Ende zur Ideologie geworden sind. Der lebendige Einzelmensch, so wie er zu agieren gezwungen ist und wozu er auch in sich geprägt wurde, ist als verkörperter homo oeconomicus eher das transzendentale Subjekt denn der lebendige Einzelne, für den er sich doch unmittelbar halten muß. Insofern war die idealistische Theorie realistisch und brauchte sich vor Gegnern, welche ihr Idealismus vorwarfen, nicht zu genieren. In der Lehre vom transzendentalen Subjekt erscheint getreu die Vorgängigkeit der von den einzelnen Menschen und ihrem Verhältnis abgelösten, abstrakt rationalen Beziehungen, die am Tausch ihr Modell haben. Ist die maßgebende Struktur der Gesellschaft die Tauschform, so konstituiert deren Rationalität die Menschen; was sie für sich sind, was sie sich dünken, ist sekundär. Von dem philosophisch als transzendental verklärten Mechanismus sind sie vorweg deformiert. Das vorgeblich Evidenteste, das empirische Subjekt, müßte eigentlich als ein noch gar nicht Existentes betrachtet werden; unter diesem Aspekt ist das transzendentale Subjekt »konstitutiv«. Es ist, angeblich Ursprung aller Gegenstände, in seiner starren Zeitlosigkeit vergegenständlicht, ganz nach der Kantischen Lehre von den festen und unveränderlichen Formen des transzendentalen Bewußtseins. Seine Festigkeit und Invarianz, welche der Transzendentalphilosophie zufolge die Objekte erzeugt, wenigstens ihnen die Regel vorschreibt, ist die Reflexionsform der im gesellschaftlichen Verhältnis objektiv vollzogenen Verdinglichung der Menschen. Der Fetischcharakter, gesellschaftlich notwendiger Schein, ist geschichtlich zum Prius dessen geworden, wovon er seinem Begriff nach das Posterius wäre. Das philosophische Konstitutionsproblem hat sich spiegelbildlich verkehrt; in seiner Verkehrung jedoch drückt es die Wahrheit über den erreichten geschichtlichen Stand aus; eine Wahrheit freilich, die durch eine zweite Kopernikanische Wendung theoretisch wieder zu negieren wäre. Sie hat allerdings auch ihr positives Moment: daß die vorgängige Gesellschaft sich und ihre Mitglieder am Leben hält. Das besondere Individuum verdankt dem Allgemeinen die Möglichkeit seiner Existenz; dafür zeugt Denken, seinerseits ein allgemeines, insofern gesellschaftliches Verhältnis. Nicht nur fetischistisch ist Denken dem Einzelnen vorgeordnet. Nur wird im Idealismus die eine Seite hypostasiert, die anders als im Verhältnis zur anderen gar nicht begriffen werden kann. Das Gegebene aber, das Skandalon des Idealismus, das er doch nicht wegzuräumen vermag, demonstriert stets wieder das Mißlingen jener Hypostase.
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Durch die Einsicht in den Vorrang des Objekts wird nicht die alte intentio recta restauriert, das hörige Vertrauen auf die so seiende Außenwelt, wie sie diesseits von Kritik erscheint, ein anthropologischer Stand bar des Selbstbewußtseins, welches erst im Kontext der Rückbeziehung von Erkenntnis auf das Erkennende sich kristallisiert. Das krude Gegenüber von Subjekt und Objekt im naiven Realismus ist zwar geschichtlich necessitiert und durch keinen Willensakt wegzuschaffen. Es ist aber zugleich Produkt falscher Abstraktion, schon ein Stück Verdinglichung. Darin einmal durchschaut, wäre das sich selbst vergegenständlichte, gerade als solches nach außen gerichtete, virtuell nach außen schlagende Bewußtsein nicht ohne Selbstbesinnung weiterzuschleppen. Die Wendung zum Subjekt, die freilich von Anbeginn auf dessen Primat hinauswill, verschwindet nicht einfach mit ihrer Revision; diese erfolgt nicht zuletzt im subjektiven Interesse von Freiheit. Vorrang des Objekts heißt vielmehr, daß Subjekt in einem qualitativ anderen, radikaleren Sinn seinerseits Objekt sei als Objekt, weil es nun einmal anders nicht denn durch Bewußtsein gewußt wird, auch Subjekt ist. Das durch Bewußtsein Gewußte muß ein Etwas sein, Vermittlung geht auf Vermitteltes. Subjekt aber, Inbegriff der Vermittlung, ist das Wie, niemals, als dem Objekt Kontrastiertes, das Was, das durch jegliche faßbare Vorstellung vom Subjektbegriff postuliert wird. Von Objektivität kann Subjekt potentiell, wenngleich nicht aktuell weggedacht werden; nicht ebenso Subjektivität von Objekt. Aus Subjekt, gleichgültig, wie es bestimmt werde, läßt ein Seiendes nicht sich eskamotieren. Ist Subjekt nicht etwas – und »etwas« bezeichnet ein irreduzibel objektives Moment –, so ist es gar nichts; noch als actus purus bedarf es des Bezugs auf ein Agierendes. Der Vorrang von Objekt ist die intentio obliqua der intentio obliqua, nicht die aufgewärmte intentio recta; das Korrektiv der subjektiven Reduktion, nicht die Verleugnung eines subjektiven Anteils. Vermittelt ist auch Objekt, nur nicht dem eigenen Begriff nach so durchaus auf Subjekt verwiesen wie Subjekt auf Objektivität. Solche Differenz hat der Idealismus ignoriert und damit eine Vergeistigung vergröbert, in welcher Abstraktion sich tarnt. Das aber veranlaßt zur Revision der Stellung zum Subjekt, die in der traditionellen Theorie vorwaltet. Diese verherrlicht es in der Ideologie und diffamiert es in der Erkenntnispraxis. Will man indessen das Objekt erlangen, so sind seine subjektiven Bestimmungen oder Qualitäten nicht zu eliminieren; eben das wäre dem Vorrang von Objekt entgegen. Hat Subjekt einen Kern von Objekt, so sind die subjektiven Qualitäten am Objekt erst recht ein Moment des Objektiven. Denn einzig als Bestimmtes wird Objekt zu etwas. In den Bestimmungen, die scheinbar bloß das Subjekt ihm anheftet, setzt dessen eigene Objektivität sich durch: sie alle sind der Objektivität der intentio recta entlehnt. Auch nach idealistischer Doktrin sind die subjektiven Bestimmungen kein bloß Angeheftetes, immer werden sie auch vom zu Bestimmenden verlangt, und darin behauptet sich der Vorrang des Objekts. Umgekehrt ist das vermeintlich reine, der Zutat von Denken und Anschauung ledige Objekt gerade der Reflex abstrakter Subjektivität: nur sie macht durch Abstraktion das Andere sich gleich. Das Objekt ungeschmälerter Erfahrung, zum Unterschied vom bestimmungslosen Substrat des Reduktionismus, ist objektiver als jenes Substrat. Die von der traditionellen Erkenntniskritik am Objekt ausgemerzten und dem Subjekt gutgeschriebenen Qualitäten verdanken in der subjektiven Erfahrung sich dem Vorrang des Objekts; darüber betrog die Herrschaft der intentio obliqua. Ihre Erbschaft fiel einer Kritik der Erfahrung zu, welche deren eigene geschichtliche Bedingtheit, schließlich die gesellschaftliche erreicht. Denn Gesellschaft ist der Erfahrung immanent, kein allo genos. Nur die gesellschaftliche Selbstbesinnung der Erkenntnis erwirkt dieser die Objektivität, die sie versäumt, solange sie den in ihr waltenden gesellschaftlichen Zwängen gehorcht, ohne sie mitzudenken. Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.
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Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung. Auch es freilich trägt bereits, trotz Kant, durch seine bloße Unterscheidung zum kategorial Prädizierten ein Minimum von Bestimmungen an sich; eine solche, negativer Art, wäre die der Akausalität. Sie reicht hin, einen Gegensatz zu der konventionellen Ansicht zu stiften, welche mit dem Subjektivismus konform geht. Der Vorrang des Objekts bewährt sich daran, daß er die Meinungen des verdinglichten Bewußtseins qualitativ verändert, die mit dem Subjektivismus reibungslos sich vertragen. Dieser tangiert den naiven Realismus nicht inhaltlich, sondern sucht lediglich formale Kriterien seiner Geltung anzugeben, so wie die Kantische Formel vom empirischen Realismus es bestätigt. Für den Vorrang des Objekts spricht wohl ein mit Kants Konstitutionslehre Unvereinbares: daß die ratio in den modernen Naturwissenschaften über die Mauer blickt, die sie selbst errichtet; ein Zipfelchen dessen erhascht, was mit ihren eingeschliffenen Kategorien nicht übereinkommt. Solche Erweiterung der ratio erschüttert den Subjektivismus. Wodurch aber das vorgängige Objekt, zum Unterschied von seiner subjektiven Zurüstung, sich bestimmt, das ist zu fassen an dem, was seinerseits die kategoriale Apparatur bestimmt, von der es dem subjektivistischen Schema zufolge bestimmt werden soll, an der Bedingtheit des Bedingenden. Die kategorialen Bestimmungen, die Kant zufolge Objektivität erst zeitigen, sind als ihrerseits Gesetztes, wenn man will, wirklich »bloß subjektiv«. Damit wird die reductio ad hominem zum Sturz des Anthropozentrismus. Daß noch der Mensch als Konstituens ein von Menschen Gemachtes ist, entzaubert das Schöpfertum des Geistes. Weil aber der Vorrang des Objekts der Reflexion aufs Subjekt und der subjektiven Reflexion bedarf, wird Subjektivität, anders als im primitiven Materialismus, der Dialektik eigentlich nicht zuläßt, zum festgehaltenen Moment.
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Was unter dem Namen Phänomenalismus geht: daß von nichts gewußt werde, es sei denn durchs erkennende Subjekt hindurch, das verband sich seit der Kopernikanischen Wendung mit dem Kultus des Geistes. Beides wird von der Einsicht in den Vorrang des Objekts aus den Angeln gehoben. Was Hegel innerhalb der subjektiven Klammer intendierte, zerbricht in kritischer Konsequenz die Klammer. Die generelle Versicherung, daß Innervationen, Einsichten, Erkenntnisse »nur subjektiv« seien, verfängt nicht länger, sobald Subjektivität als Gestalt von Objekt durchschaut wird. Schein ist die Verzauberung des Subjekts in seinen eigenen Bestimmungsgrund, seine Setzung als wahres Sein. Subjekt selbst ist zu seiner Objektivität zu bringen, nicht sind seine Regungen aus der Erkenntnis zu verbannen. Der Schein des Phänomenalismus jedoch ist ein notwendiger. Er bezeugt den fast unwiderstehlichen Verblendungszusammenhang, den Subjekt als falsches Bewußtsein produziert und dessen Glied es zugleich ist. In solcher Unwiderstehlichkeit gründet die Ideologie des Subjekts. Aus dem Bewußtsein eines Mangels, dem von der Grenze der Erkenntnis, wird, damit der Mangel sich besser ertragen lasse, ein Vorzug. Kollektiver Narzißmus ist am Werk gewesen. Aber er hätte nicht mit solcher Stringenz sich durchsetzen, nicht die mächtigsten Philosophien hervorbringen können, läge ihm nicht verzerrt ein Wahres zugrunde. Was die Transzendentalphilosophie an der schöpferischen Subjektivität pries, ist die sich selbst verborgene Gefangenschaft des Subjekts in sich. In allem Objektiven, das es denkt, bleibt es eingespannt wie gepanzerte Tiere in ihren Verschalungen, die sie vergebens abzuwerfen suchen; nur kam jenen nicht der Einfall, ihre Gefangenschaft als Freiheit auszuposaunen. Wohl wäre zu fragen, warum die Menschen das taten. Die Gefangenschaft ihres Geistes ist überaus real. Daß sie als Erkennende abhängen von Raum, Zeit, Denkformen, markiert ihre Abhängigkeit von der Gattung. Sie schlug in jenen Konstituentien sich nieder; diese gelten darum nicht weniger. Das Apriori und die Gesellschaft sind ineinander. Die Allgemeinheit und Notwendigkeit jener Formen, ihr Kantischer Ruhm, ist keine andere als die, welche die Menschen zur Einheit verbindet. Ihrer bedurften sie zum survival. Gefangenschaft wurde verinnerlicht: das Individuum ist nicht weniger in sich gefangen als in der Allgemeinheit, der Gesellschaft. Daher das Interesse an der Umdeutung von Gefangenschaft in Freiheit. Die kategoriale Gefangenschaft des individuellen Bewußtseins wiederholt die reale Gefangenschaft jedes Einzelnen. Noch der Blick des Bewußtseins, der jene durchschaut, wird determiniert von den Formen, die sie ihm eingepflanzt hat. An der Gefangenschaft in sich könnten die Menschen der gesellschaftlichen innewerden: das zu verhindern war und ist ein kapitales Interesse des Fortbestands des Bestehenden. Ihm zuliebe mußte, mit kaum geringerer Notwendigkeit als jener der Formen selbst, Philosophie sich versteigen. So ideologisch war der Idealismus, schon ehe er sich anschickte, die Welt als absolute Idee zu glorifizieren. Die Urkompensation schließt bereits ein, daß die Realität, zum Produkt des vermeintlich freien Subjekts erhöht, als ihrerseits freie sich rechtfertige.
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Identitätsdenken, Deckbild der herrschenden Dichotomie, gebärdet sich im Zeitalter subjektiver Ohnmacht nicht länger als Verabsolutierung des Subjekts. Statt dessen formiert sich ein Typus scheinbar antisubjektivistischen, wissenschaftlich objektiven Identitätsdenkens, der Reduktionismus; vom frühen Russell sprach man als Neorealisten. Er ist die gegenwärtig charakteristische Form verdinglichten Bewußtseins, falsch wegen seines latenten und desto verhängnisvolleren Subjektivismus. Der Rest ist nach dem Maß der Ordnungsprinzipien subjektiver Vernunft gemodelt und kommt mit deren eigener Abstraktheit überein, abstrakt seinerseits. Das verdinglichte Bewußtsein, das sich verkennt, wie wenn es Natur wäre, ist naiv: sich selbst, ein Gewordenes und in sich überaus Vermitteltes, nimmt es, mit Husserl zu reden, als »Seinssphäre absoluter Ursprünge«, und sein von ihm zugerüstetes Gegenüber als die ersehnte Sache. Das Ideal der Entpersonalisierung von Erkenntnis um der Objektivität willen behält von dieser nichts als ihr caput mortuum zurück. Gesteht man den dialektischen Vorrang des Objekts zu, bricht die Hypothese unreflektierter praktischer Wissenschaft vom Objekt als Residualbestimmung nach Abzug von Subjekt zusammen. Subjekt ist dann nicht länger ein subtrahierbares Addendum zur Objektivität. Diese wird durch die Ausscheidung eines ihr wesentlichen Moments gefälscht, nicht gereinigt. Die Vorstellung, welche den residualen Objektivitätsbegriff leitet, hat denn auch ihr Urbild an einem Gesetzten, von Menschen Gemachten; keineswegs an der Idee jenes An sich, für das sie das gereinigte Objekt substituiert. Vielmehr ist es das Modell des Profits, der in der Bilanz nach Abzug sämtlicher Gestehungskosten übrigbleibt. Der aber ist das auf die Form des Kalküls gebrachte und beschränkte subjektive Interesse. Was für die nüchterne Sachlichkeit des Profitdenkens zählt, ist alles andere als die Sache: die geht unter in dem, was sie einem abwirft. Erkenntnis jedoch müßte geleitet werden von dem, was vom Tausch nicht verstümmelt ist, oder – denn es gibt nichts Unverstümmeltes mehr – von dem, was unter den Tauschvorgängen sich verbirgt. Objekt ist so wenig subjektloses Residuum wie das vom Subjekt Gesetzte. Beide einander widerstreitenden Bestimmungen sind ineinander gepaßt: der Rest, mit dem die Wissenschaft als ihrer Wahrheit sich abspeisen läßt, ist Produkt ihres manipulativen Verfahrens, subjektiv veranstaltet. Zu definieren, was Objekt sei, wäre seinerseits ein Stück solcher Veranstaltung. Objektivität ist auszumachen einzig dadurch, daß auf jeder geschichtlichen Stufe und jeder der Erkenntnis reflektiert wird sowohl auf das, was jeweils als Subjekt und Objekt sich darstellt, wie auf die Vermittlungen. Insofern ist Objekt tatsächlich, wie der Neukantianismus es lehrte, »unendlich aufgegeben«. Zuweilen gelangt Subjekt, als uneingeschränkte Erfahrung, näher ans Objekt als das gefilterte, nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft zurechtgestutzte Residuum. Unreduzierte Subjektivität vermag ihrem gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Stellenwert nach, dem polemischen, objektiver zu fungieren als objektivistische Reduktionen. Verhext ist alle Erkenntnis unterm Bann nicht zuletzt darin, daß die überlieferten epistemologischen Thesen ihren Gegenstand auf den Kopf stellen: fair is foul, and foul is fair. Der objektive Gehalt individueller Erfahrung wird hergestellt nicht durch die Methode komparativer Verallgemeinerung, sondern durch Auflösung dessen, was jene Erfahrung, als selber befangene, daran hindert, dem Objekt so ohne Vorbehalt, nach Hegels Wort, mit der Freiheit sich zu überlassen, die das Subjekt der Erkenntnis entspannte, bis es wahrhaft in dem Objekt erlischt, dem es verwandt ist vermöge seines eigenen Objektseins. Die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt, wesentlich Deformation. Die Anstrengung von Erkenntnis ist überwiegend die Destruktion ihrer üblichen Anstrengung, der Gewalt gegen das Objekt. Seiner Erkenntnis nähert sich der Akt, in dem das Subjekt den Schleier zerreißt, den es um das Objekt webt. Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut. An den Stellen, wo die subjektive Vernunft subjektive Zufälligkeit wittert, schimmert der Vorrang des Objekts durch; das an diesem, was nicht subjektive Zutat ist. Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens von Objekt; das hat auch fürs Verhältnis von Theorie und Praxis seine Konsequenz.
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Auch nach der zweiten Reflexion der Kopernikanischen Wendung behält Kants anfechtbarstes Theorem, die Distinktion von transzendentem Ding an sich und konstituiertem Gegenstand, einige Wahrheit. Denn Objekt wäre einmal das Nichtidentische, befreit vom subjektiven Bann und zu greifen durch dessen Selbstkritik hindurch – wenn es überhaupt schon ist und nicht vielmehr das, was Kant mit dem Begriff der Idee umriß. Ein solches Nichtidentisches käme dem Kantischen Ding an sich recht nahe, obwohl jener an dem Fluchtpunkt seiner Koinzidenz mit Subjekt festhielt. Es wäre kein Relikt eines entzauberten mundus intelligibilis, sondern realer als der mundus sensibilis insofern, als die Kantische Kopernikanische Wendung von jenem Nichtidentischen abstrahiert und daran ihre Schranke findet. Dann jedoch ist kantisch das Objekt das vom Subjekt »Gesetzte«, das subjektive Formgespinst über dem entqualifizierten Etwas; schließlich das Gesetz, welches die durch ihre subjektive Rückbeziehung desintegrierten Erscheinungen zum Gegenstand zusammenfaßt. Die Attribute der Notwendigkeit und Allgemeinheit, die Kant an den emphatischen Gesetzesbegriff heftet, besitzen dinghafte Festigkeit und sind undurchdringlich gleich der gesellschaftlichen Welt, mit der die Lebendigen kollidieren. Jenes Gesetz, welches Kant zufolge das Subjekt der Natur vorschreibt, die höchste Erhebung von Objektivität in seiner Konzeption, ist vollkommener Ausdruck des Subjekts sowohl wie seiner Selbstentfremdung: das Subjekt unterschiebt sich auf der Spitze seiner formenden Prätention als Objekt. Das indessen hat wieder sein paradoxes Recht: tatsächlich ist Subjekt auch Objekt, vergißt nur eben in seiner Verselbständigung zur Form, wie und wodurch es selbst konstituiert wird. Genau trifft die Kantische Kopernikanische Wendung die Objektivierung des Subjekts, die Realität von Verdinglichung. Ihr Wahrheitsgehalt ist der keineswegs ontologische sondern geschichtlich aufgetürmte Block zwischen Subjekt und Objekt. Ihn errichtet das Subjekt dadurch, daß es die Suprematie über das Objekt beansprucht und dadurch um es sich betrügt. Als in Wahrheit Nichtidentisches wird das Objekt dem Subjekt desto ferner gerückt, je mehr das Subjekt das Objekt »konstituiert«. Der Block, an dem die Kantische Philosophie sich die Stirn eindenkt, ist zugleich Produkt jener Philosophie. Subjekt als reine Spontaneität, ursprüngliche Apperzeption, scheinbar das absolut dynamische Prinzip, ist aber, vermöge des Chorismos von jeglichem Material, nicht weniger verdinglicht als die nach dem Modell der Naturwissenschaften konstituierte Dingwelt. Denn durch den Chorismos wird die behauptete absolute Spontaneität, an sich, wenngleich nicht für Kant, stillgelegt; Form, die zwar die von etwas sein soll, der eigenen Beschaffenheit nach jedoch mit keinem Etwas in Wechselwirkung treten kann. Ihre schroffe Scheidung von der Tätigkeit der Einzelsubjekte, die als kontingent-psychologisch abgewertet werden muß, zerstört die ursprüngliche Apperzeption, Kants innerstes Prinzip. Sein Apriorismus beraubt das reine Tun eben der Zeitlichkeit, ohne welche unter Dynamik schlechterdings nichts sich verstehen läßt. Tun schlägt zurück in ein Sein zweiter Ordnung; ausdrücklich, wie allbekannt, in der Wendung des späten Fichte gegenüber der Wissenschaftslehre von 1794. Solche objektive Doppeldeutigkeit im Begriff des Objekts kodifiziert Kant, und kein Theorem übers Objekt darf sie überspringen. Strenggenommen hieße Vorrang des Objekts, daß es Objekt als ein dem Subjekt abstrakt Gegenüberstehendes nicht gibt, daß es aber als solches notwendig erscheint; die Notwendigkeit dieses Scheins wäre zu beseitigen.
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Ebensowenig allerdings »gibt« es eigentlich Subjekt. Dessen Hypostasis im Idealismus führt auf Ungereimtheiten. Sie mögen dahin zusammengefaßt werden, daß die Bestimmung von Subjekt in sich involviert, wogegen es gesetzt ist. Und zwar keineswegs bloß erst, weil es als Konstituens das Konstitutum voraussetzt. Es ist selber Objekt insofern, als das »gibt«, das die idealistische Konstitutionslehre impliziert – es muß Subjekt geben, damit es irgend etwas konstituieren kann –, seinerseits der Sphäre von Faktizität entlehnt ward. Der Begriff dessen, was es gibt, meint nichts anderes als der des Daseienden, und als Daseiendes fällt Subjekt vorweg unter Objekt. Als reine Apperzeption aber möchte Subjekt das schlechthin Andere alles Daseienden sein. Auch darin erscheint negativ ein Stück Wahrheit: daß die Verdinglichung, die das souveräne Subjekt allem, es inbegriffen, angetan hat, Schein ist. In den Abgrund seiner selbst verlegt es, was der Verdinglichung entrückt wäre; freilich mit der widersinnigen Konsequenz, daß es damit einer jeden anderen Verdinglichung den Freibrief ausstellt. Der Idealismus projiziert die Idee richtigen Lebens falsch nach innen. Das Subjekt als produktive Einbildungskraft, reine Apperzeption, schließlich freie Tathandlung, verschlüsselt jene Tätigkeit, in der real das Leben der Menschen sich reproduziert, und antezipiert in ihr, mit Grund, die Freiheit. Darum verschwindet so wenig Subjekt einfach in Objekt, oder irgendeinem vorgeblich Höheren, dem Sein, wie es hypostasiert werden darf. Subjekt ist in seiner Selbstsetzung Schein und zugleich ein geschichtlich überaus Wirkliches. Es enthält das Potential der Aufhebung seiner eigenen Herrschaft.
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Die Differenz von Subjekt und Objekt schneidet sowohl durch Subjekt wie durch Objekt hindurch. Sie ist so wenig zu verabsolutieren wie vom Gedanken fortzuschaffen. An Subjekt läßt eigentlich alles dem Objekt sich zurechnen; was daran nicht Objekt ist, sprengt semantisch das »Ist«. Die reine subjektive Form der traditionellen Erkenntnistheorie ist dem eigenen Begriff nach jeweils nur als Form von Objektivem, nicht ohne es und ohne es nicht einmal zu denken. Das Feste des erkenntnistheoretischen Ichs, die Identität des Selbstbewußtseins ist ersichtlich der unreflektierten Erfahrung des beharrenden, identischen Objekts nachgebildet; wird auch von Kant wesentlich darauf bezogen. Dieser hätte nicht die subjektiven Formen als Bedingungen von Objektivität reklamieren können, hätte er nicht stillschweigend ihnen eine Objektivität zugebilligt, die er von der erborgt, welcher er das Subjekt entgegensetzt. Am Extrem jedoch, in das Subjektivität sich zusammenzieht, vom Punkt seiner synthetischen Einheit her, wird immer nur das zusammengenommen, was auch an sich zusammengehört. Sonst wäre Synthesis bloße klassifikatorische Willkür. Freilich ist solche Zusammengehörigkeit ohne den subjektiven Vollzug der Synthesis ebensowenig vorzustellen. Noch vom subjektiven Apriori ist die Objektivität seiner Geltung einzig so weit zu behaupten, wie es eine objektive Seite hat; ohne diese wäre das vom Apriori konstituierte Objekt eine pure Tautologie für Subjekt. Dessen Inhalt endlich, bei Kant die Materie der Erkenntnis, ist vermöge seiner Unauflöslichkeit, Gegebenheit, seiner Äußerlichkeit zum Subjekt, ebenfalls Objektives in diesem. Danach dünkt leicht Subjekt seinerseits, wie es Hegel nicht gar so fern lag, ein Nichts und Objekt absolut. Doch das ist abermals transzendentaler Schein. Zum Nichts wird Subjekt durch seine Hypostasis, die Verdinglichung des Undinglichen. Sie geht zu Protest, weil sie dem zuinnerst naiv-realistischen Kriterium von Dasein nicht genügen kann. Die idealistische Konstruktion des Subjekts scheitert an seiner Verwechslung mit einem Objektiven als einem Ansichseienden, das es gerade nicht ist: nach dem Maß des Seienden ist Subjekt zur Nichtigkeit verurteilt. Subjekt ist um so mehr, je weniger es ist, und um so weniger, je mehr es zu sein, ein für sich Objektives zu sein wähnt. Als Moment indessen ist es untilgbar. Nach Eliminierung des subjektiven Moments ginge Objekt diffus auseinander gleich den flüchtigen Regungen und Augenblicken subjektiven Lebens.
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Objekt ist, wenngleich abgeschwächt, auch nicht ohne Subjekt. Fehlte Subjekt als Moment an Objekt selber, so würde dessen Objektivität zum Nonsens. An der Schwäche von Humes Erkenntnistheorie wird das flagrant. Sie war subjektiv gerichtet, während sie des Subjekts entraten zu können wähnte. Danach ist über das Verhältnis von individuellem und transzendentalem Subjekt zu urteilen. Das individuelle ist, wie seit Kant ungezählte Male variiert ward, Bestandteil der empirischen Welt. Seine Funktion jedoch: seine Fähigkeit zur Erfahrung – die dem transzendentalen Subjekt abgeht, denn kein rein Logisches könnte irgend erfahren – ist in Wahrheit weit konstitutiver als die vom Idealismus dem transzendentalen Subjekt zugesprochene, seinerseits einer Abstraktion vom individuellen Bewußtsein, die zutiefst vorkritisch hypostasiert ward. Gleichwohl erinnert der Begriff des Transzendentalen daran, daß Denken vermöge der ihm immanenten Allgemeinheitsmomente die eigene unabdingbare Individuation übersteigt. Auch die Antithese von Allgemeinem und Besonderem ist notwendig sowohl wie trügend. Keines von beiden ist ohne das andere, das Besondere nur als Bestimmtes und insofern allgemein, das Allgemeine nur als Bestimmung von Besonderem und insofern besonders. Beide sind und sind nicht. Das ist eines der stärksten Motive nicht-idealistischer Dialektik.
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Die Reflexion des Subjekts auf seinen eigenen Formalismus ist die auf die Gesellschaft, mit der Paradoxie, daß, gemäß der Intention des späten Durkheim, die konstitutiven Formanten gesellschaftlich entsprungen sind, andererseits jedoch, worauf die gängige Erkenntnistheorie pochen kann, objektiv gültig; von Durkheims Argumentationen werden sie bereits vorausgesetzt in jedem Satz, der ihre Bedingtheit demonstriert. Die Paradoxie dürfte eins sein mit der objektiven Gefangenschaft des Subjekts in sich. Die Erkenntnisfunktion, ohne die Differenz so wenig wie Einheit des Subjekts wäre, entsprang ihrerseits. Sie besteht wesentlich in jenen Formanten; soweit es Erkenntnis gibt, muß sie nach ihnen sich vollziehen, auch wo sie darüber hinausblickt. Sie definieren den Erkenntnisbegriff. Dennoch sind sie nicht absolut sondern geworden wie die Erkenntnisfunktion überhaupt. Daß sie vergehen könnten, ist nicht jenseits aller Möglichkeit. Ihre Absolutheit zu prädizieren setzte die Erkenntnisfunktion, das Subjekt absolut; sie zu relativieren widerriefe die Erkenntnisfunktion dogmatisch. Dagegen wird vorgebracht, das Argument involviere den törichten Soziologismus: Gott habe die Gesellschaft geschaffen und diese den Menschen und Gott nach seinem Bild. Aber die These von der Vorgängigkeit ist widersinnig nur, solange das Individuum oder dessen biologische Vorform hypostasiert wird. Entwicklungsgeschichtlich ist eher das zeitliche Prius, wenigstens die Gleichzeitigkeit der Gattung zu vermuten. Daß »der« Mensch vor jener soll gewesen sein, ist entweder biblische Reminiszenz oder schierer Platonismus. Die Natur ist auf ihren niedrigen Stufen voll von nicht-individuierten Organismen. Werden nach der These neuerer Biologen tatsächlich die Menschen soviel unausgerüsteter geboren als andere Lebewesen, so haben sie wohl überhaupt nur assoziiert, durch rudimentäre gesellschaftliche Arbeit am Leben sich erhalten können; das principium individuationis ist deren Sekundäres, hypothetischerweise eine Art biologischer Arbeitsteilung. Daß irgendein einzelner Mensch zuerst, urbildlich hervortrat, ist unwahrscheinlich. Der Glaube daran projiziert mythisch das bereits historisch voll ausgebildete principium individuationis nach rückwärts oder auf den ewigen Ideenhimmel. Die Gattung mochte durch Mutation sich individuieren, um dann durch Individuation, in Individuen unter Anlehnung ans biologisch Singuläre sich zu reproduzieren. Der Mensch ist Resultat, kein eidos; die Erkenntnis von Hegel und Marx reicht bis ins Innerste der sogenannten Konstitutionsfragen hinein. Die Ontologie »des« Menschen – Modell der Konstruktion des transzendentalen Subjekts – ist am entfalteten Einzelnen orientiert, so wie es sprachlich die Äquivokation in dem Ausdruck »der« anzeigt, welcher ebenso das Gattungswesen wie das Individuum benennt. Insofern enthält der Nominalismus, wider die Ontologie, viel eher als diese den Primat der Gattung, der Gesellschaft. Diese freilich ist mit dem Nominalismus darin sich einig, daß sie die Gattung sogleich verleugnet, vielleicht weil sie an die Tiere mahnt: Ontologie, indem sie den Einzelnen zur Form von Einheit und gegenüber dem Vielen zum Ansichseienden erhebt; Nominalismus, indem er unreflektiert den Einzelnen, nach dem Modell des Einzelmenschen, zum wahrhaft Seienden erklärt. Er verleugnet die Gesellschaft in den Begriffen dadurch, daß er sie zur Abbreviatur für Einzelnes herabsetzt.
Marginalien zu Theorie und Praxis
Für Ulrich Sonnemann
1
Wie sehr die Frage nach Theorie und Praxis abhängt von der nach Subjekt und Objekt, tut eine einfache historische Besinnung dar. Zur selben Zeit, da die Cartesianische Zweisubstanzenlehre die Dichotomie von Subjekt und Objekt ratifizierte, wurde in der Dichtung Praxis erstmals als fragwürdig wegen ihrer Spannung zur Reflexion dargestellt. Die reine praktische Vernunft ist bei allem eifrigen Realismus so objektlos wie die Welt, für Manufaktur und Industrie, zum qualitätslosen Material der Bearbeitung wird, die ihrerseits nirgendwo anders als auf dem Markt sich legitimiert. Während Praxis verspricht, die Menschen aus ihrem Verschlossensein in sich hinauszuführen, ist sie eh und je verschlossen; darum sind die Praktischen unansprechbar, die Objektbezogenheit von Praxis a priori unterhöhlt. Wohl ließe sich fragen, ob nicht bis heute alle naturbeherrschende Praxis in ihrer Indifferenz gegens Objekt Scheinpraxis sei. Ihren Scheincharakter erbt sie fort auch an all die Aktionen, die den alten gewalttätigen Gestus von Praxis ungebrochen übernehmen. Man hat dem amerikanischen Pragmatismus seit seiner Frühzeit mit Grund vorgeworfen, daß er, indem er zum Kriterium von Erkenntnis deren praktische Verwertbarkeit erklärt, sie auf bestehende Verhältnisse vereidige; nirgends sonst lasse der praktische Nutzeffekt der Erkenntnis sich überprüfen. Wird aber am Ende Theorie, der es ums Ganze geht, wenn sie nicht vergeblich sein soll, auf ihren Nutzeffekt jetzt und hier festgenagelt, so widerfährt ihr dasselbe, trotz des Glaubens, sie entrinne der Systemimmanenz. Dieser entwände Theorie sich allein, wo sie die gleichviel wie modifizierte pragmatistische Fessel abstreifte. Daß alle Theorie grau sei, läßt Goethe Mephistopheles dem Schüler predigen, den er an der Nase herumführt; der Satz war Ideologie schon am ersten Tag, Betrug darüber, wie wenig grün des Lebens Baum ist, den die Praktiker gepflanzt haben, und den der Teufel im gleichen Atemzug mit dem Metall Gold vergleicht; das Grau der Theorie seinerseits ist Funktion des entqualifizierten Lebens. Nichts soll sein, was nicht sich anpacken läßt; nicht der Gedanke. Das auf sich selbst zurückgeworfene, durch einen Abgrund von seinem Anderen getrennte Subjekt sei unfähig zur Tat. Hamlet ist ebenso die Urgeschichte des Individuums in dessen subjektiver Reflexion wie das Drama des im Handeln durch jene Reflexion Gelähmten. Die Selbstentäußerung des Individuums zu dem, was ihm nicht gleicht, spürt es als ihm unangemessen und wird gehemmt, sie zu vollbringen. Wenig später schon beschreibt der Roman, wie es auf jene Situation reagiert, die durch das Wort Entfremdung falsch benannt ist – so als wäre im vorindividuellen Zeitalter Nähe gewesen, die doch anders als von Individuierten schwerlich empfunden werden kann: die Tiere sind nach Borchardts Wort »einsame Gemeinde« –; mit Pseudo-Aktivität. Die Narrheiten des Don Quixote sind Versuche der Kompensation fürs entgleitende Andere, nach psychiatrischer Sprache Restitutionsphänomene. Was seitdem als Problem der Praxis gilt und heute abermals sich zuspitzt zur Frage nach dem Verhältnis von Praxis und Theorie, koinzidiert mit dem Erfahrungsverlust, den die Rationalität des Immergleichen verursacht. Wo Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt überwertet. So ist, was das Problem der Praxis heißt, mit dem der Erkenntnis verflochten. Die abstrakte Subjektivität, in der der Rationalisierungsprozeß terminiert, kann strengen Sinnes so wenig irgend etwas tun, wie vom transzendentalen Subjekt vorzustellen ist, was gerade ihm attestiert wird, Spontaneität. Seit der Cartesianischen Doktrin von der zweifelsfreien Gewißheit des Subjekts – und die Philosophie, die sie beschrieb, kodifizierte ein geschichtlich Vollzogenes, eine Konstellation von Subjekt und Objekt, in der, dem antiken Topos zufolge, nur Ungleiches Ungleiches soll erkennen können – nimmt Praxis etwas Scheinhaftes an, so als trüge sie nicht über den Graben hinüber. Worte wie Betriebsamkeit und Geschäftigkeit treffen die Nuance recht prägnant. Die Scheinrealitäten mancher praktischer Massenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, welche zur blutigsten Realität wurden und dennoch vom nicht ganz Realen, Wahnhaften überschattet sind, hatten ihre Geburtsstunde, als erst einmal nach der Tat gefragt wurde. Während Denken zur subjektiven, praktisch verwertbaren Vernunft sich beschränkt, wird korrelativ das Andere, das ihr entgleitet, einer zunehmend begriffslosen Praxis zugewiesen, die kein Maß anerkennt als sich selbst. So antinomisch wie die Gesellschaft, die ihn trägt, vereint der bürgerliche Geist Autonomie und pragmatistische Theoriefeindschaft. Die Welt, die von der subjektiven Vernunft tendenziell nur noch nachkonstruiert wird, soll zwar immerfort, ihrer wirtschaftlichen Expansionstendenz gemäß, verändert werden, aber doch bleiben, was sie ist. Coupiert wird am Denken, was daran rührt: zumal Theorie, die mehr will als Nachkonstruktion. Herzustellen wäre ein Bewußtsein von Theorie und Praxis, das beide weder so trennt, daß Theorie ohnmächtig würde und Praxis willkürlich; noch Theorie durch den von Kant und Fichte proklamierten, urbürgerlichen Primat der praktischen Vernunft bricht. Denken ist ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis; allein die Ideologie der Reinheit des Denkens täuscht darüber. Es hat Doppelcharakter: ist immanent bestimmt und stringent, und gleichwohl eine unabdingbar reale Verhaltensweise inmitten der Realität. Soweit Subjekt, die denkende Substanz der Philosophen, Objekt ist, soweit es in Objekt fällt, soweit ist es vorweg auch praktisch. Die stets wieder obenauf kommende Irrationalität der Praxis aber – ihr ästhetisches Urbild sind die jähen Zufallsaktionen, durch die Hamlet das Geplante realisiert und an der Realisierung scheitert – belebt unermüdlich den Schein absoluter Getrenntheit von Subjekt und Objekt. Wo Objekt dem Subjekt als schlechthin Inkommensurables vorgegaukelt wird, erbeutet blindes Schicksal die Kommunikation zwischen beiden.
2
Man vergröberte, wollte man der geschichtsphilosophischen Konstruktion zuliebe die Divergenz von Theorie und Praxis so spät wie auf die Renaissance datieren. Nur ist sie damals, nach dem Einsturz jenes ordo, der wie der Wahrheit so auch den guten Werken ihren hierarchischen Ort anzuweisen sich vermaß, erstmals reflektiert worden. Man erfuhr die Krise von Praxis in der Gestalt: nicht wissen, was man tun soll. Samt der mittelalterlichen Hierarchie, die mit ausgeführter Kasuistik verbunden war, sind die praktischen Anweisungen zergangen, die damals, bei all ihrer Fragwürdigkeit, zumindest als der Sozialstruktur adäquat erschienen. Im vielbefehdeten Formalismus der Kantischen Ethik kulminiert eine Bewegung, die mit der Emanzipation autonomer Vernunft unaufhaltsam, und mit kritischem Recht, ins Rollen kam. Die Unfähigkeit zur Praxis war primär das Bewußtsein des Mangels an Regulativen, Schwäche schon ursprünglich; das Zaudern, der Vernunft als Kontemplation verschwistert und Hemmung der Praxis, rührt daher. Der formale Charakter der reinen praktischen Vernunft konstituierte deren Versagen vor der Praxis; veranlaßte freilich auch zur Selbstbesinnung, die über den schuldhaften Begriff von Praxis hinausgeleitet. Hat die autarkische Praxis seit je manische und zwangshafte Züge, so heißt diesen gegenüber Selbstbesinnung: die Unterbrechung der blind nach außen zielenden Aktion; Unnaivetät als Übergang zum Humanen. Wer nicht das Mittelalter romantisieren will, muß die Divergenz von Theorie und Praxis bis auf die älteste Trennung körperlicher und geistiger Arbeit zurückverfolgen, wahrscheinlich bis in die finstere Vorgeschichte. Praxis ist entstanden aus der Arbeit. Zu ihrem Begriff gelangte sie, als Arbeit nicht länger bloß das Leben direkt reproduzieren sondern dessen Bedingungen produzieren wollte: das stieß zusammen mit den nun einmal vorhandenen Bedingungen. Ihre Abkunft von Arbeit lastet schwer auf aller Praxis. Bis heute begleitet sie das Moment von Unfreiheit, das sie mitschleppte: daß man einst wider das Lustprinzip agieren mußte um der Selbsterhaltung willen; obwohl doch die auf ein Minimum reduzierte Arbeit nicht länger mit Verzicht gekoppelt zu sein brauchte. Auch daß die Sehnsucht nach Freiheit der Aversion gegen Praxis eng verwandt ist, verdrängt der gegenwärtige Aktionismus. Praxis war der Reflex von Lebensnot; das entstellt sie noch, wo sie die Lebensnot abschaffen will. Insofern ist Kunst Kritik von Praxis als Unfreiheit; damit hebt ihre Wahrheit an. Der Abscheu vor Praxis, die heute allerorten so hoch im Kurs steht, läßt schockhaft sich nachfühlen an naturgeschichtlichen Phänomenen wie den Bauten der Biber, der Emsigkeit der Ameisen und Bienen, der grotesk mühseligen Geducktheit des Käfers, der einen Halm transportiert. Jüngstes verschränkt in Praxis sich mit einem Ältesten; sie wird abermals zum heiligen Tier, so wie es in der Vorwelt als Frevel dünken mochte, nicht mit Haut und Haaren dem selbsterhaltenden Betrieb der Gattung sich auszuliefern. Die Physiognomie von Praxis ist tierischer Ernst; er löst sich, wo das Ingenium von Praxis sich emanzipiert: das wohl war von Schillers Spieltheorie gemeint. Die meisten Aktionisten sind humorlos auf eine Weise, die nicht weniger beängstigt als der Mitlacher-Humor anderer. Der Mangel an Selbstbesinnung rührt nicht nur von ihrer Psychologie her. Er markiert Praxis, sobald sie als ihr eigener Fetisch zur Barrikade vor ihrem Zweck wird. Desperat ist die Dialektik, daß aus dem Bann, den Praxis um die Menschen legt, allein durch Praxis hinauszugelangen ist, daß sie aber einstweilen zwangshaft als Praxis am Bann verstärkend mitwirkt, dumpf, borniert, geistfern. Die neueste Theoriefeindschaft, die das innerviert, macht ein Programm daraus. Aber der praktische Zweck, der die Befreiung von allem Bornierten einschließt, ist gegen die Mittel, die ihn erreichen wollen, nicht gleichgültig; sonst artet Dialektik in vulgären Jesuitismus aus. Der blödsinnige Parlamentarier von Dorés Karikatur, der sich rühmt: »Meine Herren, ich bin vor allem praktisch«, offenbart sich als Wicht, der über anfallende Aufgaben nicht hinaussieht und sich auch noch etwas darauf einbildet; sein Gestus denunziert den Geist von Praxis selber als Ungeist. Das nicht Bornierte wird von Theorie vertreten. Trotz all ihrer Unfreiheit ist sie im Unfreien Statthalter der Freiheit.
3
Heute wird abermals die Antithese von Theorie und Praxis zur Denunziation der Theorie mißbraucht. Als man einem Studenten das Zimmer zerschlug, weil er lieber arbeitete als an Aktionen sich zu beteiligen, schmierte man ihm an die Wand: wer sich mit Theorie beschäftige, ohne praktisch zu handeln, sei ein Verräter1 am Sozialismus. Praxis wurde nicht ihm allein gegenüber zum ideologischen Vorwand von Gewissenszwang. Das von ihnen diffamierte Denken strengt offenbar die Praktischen ungebührlich an: es bereitet zuviel Arbeit, ist zu praktisch. Wer denkt, setzt Widerstand; bequemer ist, mit dem Strom, erklärte er sich auch als gegen den Strom, mitzuschwimmen. Indem man einer regressiven und deformierten Gestalt des Lustprinzips nachgibt, es sich leichter macht, sich gehenläßt, darf man überdies eine moralische Prämie von den Gleichgesinnten erhoffen. Das kollektive Ersatz-Überich gebietet in roher Umkehrung, was das alte Überich mißbilligte: die Zession seiner selbst qualifiziert den Willigen als besseren Menschen. Auch bei Kant war emphatische Praxis guter Wille; der aber soviel wie autonome Vernunft. Ein nicht bornierter Begriff von Praxis indessen kann einzig noch auf Politik sich beziehen, auf die Verhältnisse der Gesellschaft, welche die Praxis eines jeden Einzelnen weithin zur Irrelevanz verurteilen. Das ist der Ort der Differenz zwischen der Kantischen Ethik und den Anschauungen Hegels, der, wie Kierkegaard sah, Ethik im traditionellen Verstande eigentlich nicht mehr kennt. Die moralphilosophischen Schriften Kants waren, dem Stand von Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert gemäß, bei allem Antipsychologismus und aller Anstrengung zu schlechthin verbindlicher, übergreifender Gültigkeit, individualistisch soweit, wie sie an das Individuum sich wendeten als an das Substrat richtigen – bei Kant: radikal vernünftigen – Handelns. Kants Beispiele kommen allesamt aus der Privat- und der geschäftlichen Sphäre; der Begriff der Gesinnungsethik, deren Subjekt der individuierte Einzelne sein muß, wird davon bedingt. In Hegel meldet erstmals die Erfahrung sich an, daß das Verhalten des Individuums, sei es noch so reinen Willens, nicht heranreicht an eine Realität, die dem Individuum die Bedingungen seines Handelns vorschreibt und einschränkt. Indem Hegel den Begriff des Moralischen ins Politische erweitert, löst er ihn auf. Keine unpolitische Reflexion über Praxis seitdem ist triftig. Ebensowenig jedoch sollte man darüber sich täuschen, daß in eben der politischen Erweiterung des Praxisbegriffs Repression des Einzelnen durchs Allgemeine mitgesetzt ist. Humanität, die ohne Individuation nicht ist, wird durch deren schnöselige Abfertigung virtuell widerrufen. Ist aber einmal das Handeln des Einzelnen, und damit aller Einzelnen, verächtlich gemacht, so lähmt das auch das kollektive. Spontaneität erscheint angesichts der tatsächlichen Übermacht der objektiven Verhältnisse vorweg als nichtig. Kants Moral-und Hegels Rechtsphilosophie repräsentieren zwei dialektische Stufen des bürgerlichen Selbstbewußtseins von Praxis. Beide sind, gespalten nach den Polen des Besonderen und des Allgemeinen, die jenes Bewußtsein auseinanderreißt, auch falsch; beide behalten so lange gegeneinander recht, wie nicht in der Realität eine mögliche höhere Gestalt von Praxis sich enthüllt; ihre Enthüllung bedarf der theoretischen Reflexion. Kein Zweifel und unbestritten, daß die vernünftige Analyse der Situation die Voraussetzung zumindest von politischer Praxis ist: sogar in der militärischen Sphäre, der des kruden Vorrangs von Praxis, wird so verfahren. Analyse der Situation erschöpft sich nicht in der Anpassung an diese. Indem sie darüber reflektiert, hebt sie Momente hervor, welche über die Situationszwänge hinausführen mögen. Das ist von unabsehbarer Relevanz für das Verhältnis von Theorie und Praxis. Durch ihre Differenz von dieser als dem unmittelbaren, situationsgebundenen Handeln, durch Verselbständigung also, wird Theorie zur verändernden, praktischen Produktivkraft. Betrifft Denken irgend etwas, worauf es ankommt, so setzt es allemal einen, wie sehr auch dem Denken verborgenen praktischen Impuls. Der allein denkt, welcher das je Gegebene nicht passiv hinnehmen will; von dem Primitiven, der sich überlegt, wie er sein Feuerchen vorm Regen beschützen oder wohin er vorm Gewitter sich verkriechen kann, bis zum Aufklärer, der konstruiert, wie die Menschheit durchs Interesse an der Selbsterhaltung aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit hinausgelange. Derlei Motive wirken fort; erst recht vielleicht, wo keine praktischen Anlässe unmittelbar thematisch sind. Es gibt keinen Gedanken, wofern er irgend mehr ist als Ordnung von Daten und ein Stück Technik, der nicht sein praktisches Telos hätte. Jegliche Meditation über die Freiheit verlängert sich in die Konzeption ihrer möglichen Herstellung, solange die Meditation nicht an die praktische Kandare genommen und auf ihr anbefohlene Ergebnisse zugeschnitten wird. So wenig indessen die Getrenntheit von Subjekt und Objekt durch den Machtspruch des Gedankens unmittelbar revozierbar ist, so wenig gibt es unmittelbare Einheit von Theorie und Praxis: sie imitierte die falsche Identität von Subjekt und Objekt und perpetuierte das identitätssetzende Herrschaftsprinzip, gegen das anzugehen in wahrer Praxis liegt. Der Wahrheitsgehalt der Rede von der Einheit von Theorie und Praxis war an geschichtliche Bedingungen geknüpft. An Knotenpunkten, Bruchstellen der Entwicklung mögen Reflexion und Handlung zünden; selbst dann jedoch sind beide nicht eins.
4
Der Vorrang des Objekts ist von Praxis zu achten; die Kritik des Idealisten Hegel an Kants Gewissensethik hat das erstmals verzeichnet. Recht verstanden ist Praxis, insofern Subjekt seinerseits ein Vermitteltes ist, das, was das Objekt will: sie folgt seiner Bedürftigkeit. Aber nicht durch Anpassung des Subjekts, welche die heteronome Objektivität bloß befestigte. Die Bedürftigkeit des Objekts ist durchs gesellschaftliche Gesamtsystem vermittelt; daher nur durch Theorie kritisch bestimmbar. Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis, muß mißlingen, und ihrem Begriff nach möchte Praxis es realisieren. Falsche Praxis ist keine. Verzweiflung, die, weil sie die Auswege versperrt findet, blindlings sich hineinstürzt, verbindet noch bei reinstem Willen sich dem Unheil. Feindschaft gegen Theorie im Geist der Zeit, ihr keineswegs zufälliges Absterben, ihre Ächtung durch die Ungeduld, welche die Welt verändern will, ohne sie zu interpretieren, während es doch an Ort und Stelle geheißen hatte, die Philosophen hätten bislang bloß interpretiert – solche Theoriefeindschaft wird zur Schwäche der Praxis. Daß dieser die Theorie sich beugen soll, löst deren Wahrheitsgehalt auf und verurteilt Praxis zum Wahnhaften; das auszusprechen ist praktisch an der Zeit. Kollektivbewegungen, offenbar einstweilen gleich welchen Inhalts, verschafft das Quentchen Wahnsinn ihre sinistre Anziehungskraft. Durch Integration in den Kollektivwahn werden die Individuen mit der eigenen Desintegration, nach Ernst Simmels Einsicht durch die kollektive mit der privaten Paranoia fertig. Sie äußert sich im Augenblick vorab als Unfähigkeit, objektive, vom Subjekt nicht in Harmonie aufzulösende Widersprüche reflektierend ins Bewußtsein hineinzunehmen; krampfhaft unangefochtene Einheit ist das Deckbild unaufhaltsamer Selbstentzweiung. Der sanktionierte Wahn dispensiert von der Realitätsprüfung, die notwendig auf dem geschwächten Bewußtsein unerträgliche Antagonismen wie den von subjektivem Bedürfnis und objektiver Versagung gerät. Schmeichlerisch bösartiger Diener des Lustprinzips, steckt das wahnhafte Moment mit einer Krankheit an, die das Ich durch den Schein seiner Geborgenheit tödlich bedroht. Davor sich zu fürchten wäre die einfachste und darum ebenfalls verdrängte Selbsterhaltung: die unbeirrte Weigerung, den rasch eintrocknenden Rubikon zwischen Vernunft und Wahn zu überschreiten. Der Übergang zur theorielosen Praxis wird motiviert von der objektiven Ohnmacht der Theorie und vervielfacht jene Ohnmacht durch die Isolierung und Fetischisierung des subjektiven Moments der geschichtlichen Bewegung, der Spontaneität. Ihre Deformation ist abzuleiten als reaktiv auf die verwaltete Welt. Indem sie jedoch vor deren Totalität krampfhaft die Augen verschließt und sich verhält, als stünde es bei den Menschen unmittelbar, ordnet sie der objektiven Tendenz fortschreitender Entmenschlichung sich ein; auch in ihren Praktiken. Spontaneität, welche die Bedürftigkeit des Objekts innervierte, müßte an die anfälligen Stellen der verhärteten Realität sich heften, an die, wo die Brüche nach außen kommen, die der Druck der Verhärtung bewirkt; nicht wahllos, abstrakt, ohne Rücksicht auf den Inhalt des oft nur der Reklame zuliebe Bekämpften um sich schlagen.
5
Riskiert man ausnahmsweise, über die historischen Differenzen hinweg, in denen die Begriffe Theorie und Praxis ihr Leben haben, eine sogenannte große Perspektive, so gewahrt man das unendlich Fortschrittliche der von der Romantik beklagten und in ihrem Gefolge von vielen Sozialisten – nicht dem reifen Marx – diffamierten Trennung von Theorie und Praxis. Wohl ist der Dispens des Geistes von der materiellen Arbeit Schein, denn Geist setzt zur eigenen Existenz materielle Arbeit voraus. Aber er ist nicht nur Schein, dient nicht nur der Repression. Die Trennung markiert die Stufe eines Prozesses, der aus der blinden Vorherrschaft materieller Praxis hinausführt, potentiell hin auf Freiheit. Daß einige ohne materielle Arbeit leben und, wie Nietzsches Zarathustra, ihres Geistes sich freuen, das ungerechte Privileg, sagt auch, daß es allen möglich sei; vollends auf einem Stand der technischen Produktivkräfte, der den allgemeinen Dispens von materieller Arbeit, ihre Reduktion auf einen Grenzwert absehbar macht. Durch Machtspruch jene Trennung widerrufen dünkt sich idealisch und ist regressiv. Der ohne Überschuß in die Praxis heimbefohlene Geist würde Konkretismus. Er verstünde sich mit der technokratisch-positivistischen Tendenz, der er zu opponieren meint und zu der er, übrigens auch in gewissen Parteiungen, mehr Affinität besitzt, als er sich träumen läßt. Mit der Trennung von Theorie und Praxis erwacht Humanität; fremd ist sie jener Ungeschiedenheit, die in Wahrheit dem Primat von Praxis sich beugt. Tiere, ähnlich wie regredierende Gehirnverletzte, kennen nur Aktionsobjekte: Wahrnehmung, List, Fressen sind einerlei unterm Zwang, der auf den Subjektlosen schwerer noch lastet als auf den Subjekten. List muß sich verselbständigt haben, damit die Einzelwesen jene Distanz vom Fressen gewinnen, deren Telos das Ende der Herrschaft wäre, in welcher Naturgeschichte sich perpetuiert. Das Mildernde, Gutartige, Zarte – auch das Versöhnliche an Praxis ahmt den Geist nach, ein Produkt der Trennung, deren Widerruf die allzu unreflektierte Reflexion betreibt. Entsublimierung, die man ohnehin im gegenwärtigen Zeitalter kaum eigens zu empfehlen braucht, verewigte den finsteren Zustand, den ihre Fürsprecher aufhellen möchten. Daß Aristoteles die dianoetischen Tugenden am höchsten stellte, hatte fraglos seine ideologische Seite, die Resignation des hellenistischen Privatmanns, der der Einwirkung auf die öffentlichen Dinge aus Angst sich entziehen muß und nach Rechtfertigung dafür sucht. Aber seine Tugendlehre öffnete auch den Horizont seliger Betrachtung; selig, weil sie dem Ausüben und Erleiden von Gewalt entronnen wäre. Die Aristotelische Politik ist so viel humaner als der Platonische Staat, wie ein quasi-bürgerliches Bewußtsein humaner ist als ein restauratives, das, um einer bereits aufgeklärten Welt sich zu oktroyieren, prototypisch ins Totalitäre umschlägt. Das Ziel richtiger Praxis wäre ihre eigene Abschaffung.
6
Marx hat in dem berühmten Brief an Kugelmann vor dem drohenden Rückfall in die Barbarei gewarnt, der damals schon absehbar gewesen sein muß. Nichts hätte besser die Wahlverwandtschaft von Konservativismus und Revolution ausdrücken können. Diese erschien bereits Marx als ultima ratio, um den von ihm prognostizierten Zusammenbruch abzuwenden. Aber die Angst, die Marx nicht zuletzt wird bewogen haben, ist überholt. Der Rückfall hat stattgefunden. Nach Auschwitz und Hiroshima ihn für die Zukunft zu erwarten, hört auf den armseligen Trost, es könne immer noch schlimmer werden. Die Menschheit, die das Schlimme ausübt und über sich ergehen läßt, ratifiziert dadurch das Schlimmste: man muß nur dem Gewäsch von den Gefahren der Entspannung lauschen. Fällige Praxis wäre allein die Anstrengung, aus der Barbarei sich herauszuarbeiten. Diese ist, mit der Beschleunigung der Geschichte zur Überschallgeschwindigkeit, so weit gediehen, daß sie alles ansteckt, was ihr widerstrebt. Vielen klingt die Ausrede plausibel, gegen die barbarische Totalität verfingen nur noch barbarische Mittel. Unterdessen jedoch ist ein Schwellenwert erreicht. Was vor fünfzig Jahren der allzu abstrakten und illusionären Hoffnung auf totale Veränderung für eine kurze Phase noch gerecht erscheinen mochte, Gewalt, ist nach der Erfahrung des nationalsozialistischen und stalinistischen Grauens und angesichts der Langlebigkeit totalitärer Repression unentwirrbar verstrickt in das, was geändert werden müßte. Ist der Schuldzusammenhang der Gesellschaft, und mit ihm der Prospekt der Katastrophe, wahrhaft total geworden – und nichts erlaubt, daran zu zweifeln –, so ist dem nichts entgegenzusetzen, als was jenen Verblendungszusammenhang aufkündigt, anstatt in den eigenen Formen daran zu partizipieren. Entweder die Menschheit verzichtet auf das Gleich um Gleich der Gewalt, oder die vermeintlich radikale politische Praxis erneuert das alte Entsetzen. Schmählich wird die Spießbürgerweisheit, Faschismus und Kommunismus seien dasselbe, oder die jüngste, die ApO hülfe der NPD, verifiziert: die bürgerliche Welt ist vollends so geworden, wie die Bürger sie sich vorstellen. Wer nicht den Übergang zu irrationaler und roher Gewalt mitvollzieht, sieht in die Nachbarschaft jenes Reformismus sich gedrängt, der seinerseits mitschuldig ist am Fortbestand des schlechten Ganzen. Aber kein Kurzschluß hilft, und was hilft, ist dicht zugehängt. Dialektik wird zur Sophistik verdorben, sobald sie pragmatistisch auf den nächsten Schritt sich fixiert, über den doch die Erkenntnis der Totale längst hinausreicht.
7
Das Falsche des heute geübten Primats von Praxis wird deutlich an dem Vorrang von Taktik über alles andere. Die Mittel haben zum Äußersten sich verselbständigt. Indem sie reflexionslos den Zwecken dienen, haben sie diesen sich entfremdet. So fordert man allerorten Diskussion, zunächst gewiß aus anti-autoritärem Impuls. Aber Taktik hat die Diskussion, übrigens wie Öffentlichkeit eine durchaus bürgerliche Kategorie, vollends zunichte gemacht. Was aus Diskussionen resultieren könnte, Beschlüsse von höherer Objektivität darum, weil Intentionen und Argumente ineinandergreifen und sich durchdringen, interessiert die nicht, welche automatisch, auch in ganz inadäquaten Situationen, Diskussion wollen. Jeweils dominierende Cliquen haben vorweg die von ihnen gewollten Ergebnisse parat. Die Diskussion dient der Manipulation. Jedes Argument ist auf die Absicht zugeschnitten, unbekümmert um Stichhaltigkeit. Was der Kontrahent sagt, wird kaum wahrgenommen; allenfalls, damit man mit Standardformeln dagegen aufwarten kann. Erfahrungen will man nicht machen, wofern man sie überhaupt machen kann. Der Diskussionsgegner wird zur Funktion des jeweiligen Plans: verdinglicht von verdinglichtem Bewußtsein malgré lui-même. Entweder man will ihn durch Diskussionstechnik und Solidaritätszwang zu etwas Verwertbarem bewegen, oder ihn vor den Anhängern diskreditieren; oder sie reden einfach zum Fenster hinaus, der Publizität zuliebe, deren Gefangene sie sind: Pseudo-Aktivität vermag einzig durch unablässige Reklame sich am Leben zu erhalten. Gibt der Kontrahent nicht nach, so wird er disqualifiziert und des Mangels eben der Eigenschaften bezichtigt, welche von der Diskussion vorausgesetzt würden. Deren Begriff wird ungemein geschickt so zurechtgebogen, daß der andere sich überzeugen lassen müsse; das erniedrigt die Diskussion zur Farce. Hinter der Technik waltet ein autoritäres Prinzip: der Dissentierende müsse die Gruppenmeinung annehmen. Unansprechbare projizieren die eigene Unansprechbarkeit auf den, welcher sich nicht will terrorisieren lassen. Mit all dem fügt der Aktionismus in den Trend sich ein, dem sich entgegenzustemmen er meint oder vorgibt: dem bürgerlichen Instrumentalismus, welcher die Mittel fetischisiert, weil seiner Art Praxis die Reflexion auf die Zwecke unerträglich ist.
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Pseudo-Aktivität, Praxis, die sich um so wichtiger nimmt und um so emsiger gegen Theorie und Erkenntnis abdichtet, je mehr sie den Kontakt mit dem Objekt und den Sinn für Proportionen verliert, ist Produkt der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen. Sie wahrhaft ist angepaßt: an die Situation des huis clos. Der scheinrevolutionäre Gestus ist komplementär zu jener militärtechnischen Unmöglichkeit spontaner Revolution, auf die vor Jahren bereits Jürgen von Kempski hinwies. Gegen die, welche die Bombe verwalten, sind Barrikaden lächerlich; darum spielt man Barrikaden, und die Gebieter lassen temporär die Spielenden gewähren. Mit den Guerillatechniken der Dritten Welt mag es anders sich verhalten; nichts in der verwalteten Welt funktioniert bruchlos. Darum erwählt man in fortgeschrittenen Industrieländern die unterentwickelten sich als Muster. Diese sind so unkräftig wie der Personenkult hilflos und schmählich ermordeter Führer. Modelle, die nicht einmal im bolivianischen Busch sich bewährten, lassen sich nicht übertragen.
Pseudo-Aktivität wird herausgefordert vom Stand der technischen Produktivkräfte, der zugleich zum Schein sie verdammt. Wie die Personalisierung falsch darüber tröstet, daß es im anonymen Getriebe auf keinen Einzelnen mehr ankommt, so betrügt Pseudo-Aktivität über die Depotenzierung einer Praxis, welche den frei und autonom Handelnden voraussetzt, der nicht länger existiert. Relevant auch für politische Aktivität ist, ob es zur Mondumseglung der Astronauten überhaupt bedurft hätte, die nicht nur nach ihren Knöpfen und Apparaturen sich zu richten hatten, sondern obendrein minuziöse Ordres von der großen Zentrale drunten empfingen. Physiognomik und Sozialcharakter bei Columbus und Borman differieren ums Ganze. Als Reflex auf die verwaltete Welt wiederholt Pseudo-Aktivität jene in sich selbst. Die Prominenzen des Protests sind Virtuosen der Geschäftsordnungen und formalen Prozeduren. Mit Vorliebe verlangen die geschworenen Feinde der Institutionen, man müsse dies oder jenes, meist Wünsche zufällig konstituierter Gremien, institutionalisieren; worüber man redet, soll um jeden Preis »verbindlich« sein. Subjektiv wird all das befördert vom anthropologischen Phänomen des gadgeteering, der jegliche Vernunft überschreitenden, über alle Lebensbereiche sich ausdehnenden affektiven Besetzung der Technik. Ironisch – Zivilisation in ihrer tiefsten Erniedrigung – behält McLuhan recht: the medium is the message. Die Substitution der Zwecke durch Mittel ersetzt die Eigenschaften in den Menschen selbst. Verinnerlichung wäre das falsche Wort dafür, weil jener Mechanismus feste Subjektivität gar nicht mehr sich bilden läßt; Instrumentalisierung usurpiert deren Stelle. In Pseudo-Aktivität bis hinauf zur Scheinrevolution findet die objektive Tendenz der Gesellschaft mit subjektiver Rückbildung fugenlos sich zusammen. Parodistisch bringt abermals die Weltgeschichte diejenigen hervor, deren sie bedarf.
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Die objektive Theorie der Gesellschaft, als eines den Lebendigen gegenüber Verselbständigten, hat den Primat über die Psychologie, die ans Maßgebende nicht heranreicht. Freilich schwang in dieser Einsicht, seit Hegel, vielfach Rancune gegen den Einzelnen und seine sei's noch so pratikulare Freiheit, zumal gegen den Trieb mit. Sie begleitete als Schatten den bürgerlichen Subjektivismus, war am Ende dessen schlechtes Gewissen. Askese gegen die Psychologie ist aber auch objektiv nicht durchzuhalten. Seitdem die Marktökonomie zerrüttet ist und von einem Provisorium bis zum nächsten zusammengeflickt wird, reichen ihre Gesetze allein zur Erklärung nicht aus. Anders als durch die Psychologie hindurch, in der die objektiven Zwänge stets aufs neue sich verinnerlichen, wäre weder zu verstehen, daß die Menschen einen Zustand unverändert destruktiver Irrationalität passiv sich gefallen lassen, noch daß sie sich in Bewegungen einreihen, deren Widerspruch zu ihren Interessen keineswegs schwer zu durchschauen wäre. Dem verwandt ist die Funktion der psychologischen Determinanten bei den Studenten. Im Verhältnis zur realen Macht, die sich kaum gekitzelt fühlt, ist der Aktionismus irrational. Klügere sind seiner Aussichtslosigkeit sich bewußt, andere verhehlen sie sich mühsam. Da größere Personengruppen zum Martyrium kaum sich entschlossen haben, muß man psychologische Triebfedern in Rechnung stellen; übrigens fehlen direkt ökonomische Interessenmotive weniger, als das Geschwätz von der Wohlstandsgesellschaft glauben macht: nach wie vor vegetieren zahlreiche Studenten an der Grenze des Hungers. Wohl ist die Errichtung der Scheinrealität schließlich von den objektiven Sperren erzwungen; vermittelt wird sie psychologisch, die Sistierung des Denkens bedingt durch die Triebdynamik. Dabei ist ein Widerspruch eklatant. Während die Aktionisten an sich selbst, ihren seelischen Bedürfnissen, am sekundären Lustgewinn der Beschäftigung mit sich libidinös überaus interessiert sind, erregt das subjektive Moment, wofern es in den Kontrahenten zutage kommt, in ihnen hämische Wut. Man wird darin zunächst die Freudsche These aus ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ verlängert finden, daß die imagines von Autorität subjektiv den Charakter des Lieb- und Beziehungslosen, der Kälte haben. Wie in den Anti-Autoritären Autorität fortwest, so staffieren sie ihre negativ besetzten imagines mit den traditionellen Führerqualitäten aus und werden unruhig, sobald sie anders sind, nicht dem entsprechen, was die Anti-Autoritären insgeheim doch von Autoritäten begehren. Die am heftigsten protestieren, gleichen den autoritätsgebundenen Charakteren in der Abwehr von Introspektion; wo sie sich mit sich beschäftigen, geschieht es kritiklos, richtet sich ungebrochen, aggressiv nach außen. Die eigene Relevanz überschätzen sie narzißtisch, ohne zureichenden Sinn für Proportionen. Ihre Bedürfnisse installieren sie unmittelbar, etwa unter dem Schlagwort »Lernprozesse«, als Maß von Praxis; für die dialektische Kategorie der Entäußerung blieb bislang wenig Raum. Sie verdinglichen die eigene Psychologie und erwarten von jenen, die ihnen gegenübertreten, verdinglichtes Bewußtsein. Eigentlich tabuieren sie Erfahrung und werden allergisch, sobald etwas an diese sie gemahnt. Sie nivelliert sich ihnen zu dem, was sie »Informationsvorsprung« nennen, ohne zu bemerken, daß die von ihnen ausgeschlachteten Begriffe der Information und Kommunikation aus der monopolistischen Kulturindustrie und der auf sie geeichten Wissenschaft importiert sind. Objektiv tragen sie bei zur regressiven Verwandlung dessen, was von Subjekt etwa noch übrig ist, in Bezugspunkte von conditioned reflexes.
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Wissenschaftlich hat die Trennung von Theorie und Praxis in neuerer Zeit, und zwar in der Soziologie, der sie thematisch sein müßte, unreflektiert und extrem sich abgedrückt in Max Webers Lehre von der Wertfreiheit. Bald siebzig Jahre alt, wirkt sie weiter bis in die jüngste positivistische Soziologie hinein. Was dagegen vorgebracht wurde, hat auf die etablierte Wissenschaft wenig Einfluß ausgeübt. Die mehr oder minder ausdrückliche, unvermittelte Gegenposition, die einer materialen Wertethik, welche, unmittelbar evident, Praxis lenken solle, diskreditierte sich durch restaurative Willkür. Die Webersche Wertfreiheit war festgemacht an seinem Begriff von Rationalität. Dahin steht, welche der beiden Kategorien in ihrer Weberschen Version die andere trägt. Wie bekannt, heißt Rationalität, das Zentrum der gesamten Arbeit Webers, bei ihm vorwiegend soviel wie Zweckrationalität. Sie wird definiert als Relation zwischen angemessenen Mitteln und Zwecken. Diese seien prinzipiell außerhalb von Rationalität; werden einer Art von Entscheidung überlassen, deren finstere Implikationen, die Weber nicht wollte, bald nach seinem Tod offenbar wurden. Solche Exemtion der Zwecke von der ratio, die Weber zwar verklausulierte, die indessen unverkennbar den Tenor seiner Wissenschaftslehre und vollends seiner Wissenschaftsstrategie bildete, ist aber nicht weniger Willkür als das Dekret von Werten. Rationalität läßt so wenig wie die subjektive Instanz, die ihr dient, das Ich, von Selbsterhaltung einfach sich abspalten; der antipsychologische, aber subjektiv gerichtete Soziologe Weber hat das auch nicht versucht. Als Instrument der Selbsterhaltung, das der Realitätsprüfung, ist ratio überhaupt entstanden. Ihre Allgemeinheit, die Weber zupaß kam, weil sie ihm die Abhebung von Psychologie gestattete, hat sie über ihren unmittelbaren Träger, den einzelnen Menschen hinaus erweitert. Das emanzipierte sie, wohl seit es sie gibt, von der Zufälligkeit individueller Zwecksetzung. Das sich selbst erhaltende Subjekt der ratio ist in seiner immanenten, geistigen Allgemeinheit ein real Allgemeines, die Gesellschaft, in voller Konsequenz die Menschheit. Deren Erhaltung liegt unaufhaltsam im Sinn von Rationalität: sie hat ihren Zweck an einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft, sonst würde sie ihre eigene Bewegung autoritär stillstellen. Vernünftig ist die Menschheit eingerichtet einzig, wofern sie die vergesellschafteten Subjekte ihrer ungefesselten Potentialität nach erhält. Irrational wahnhaft dagegen wäre – und das Beispiel ist mehr als nur Beispiel –, daß zwar die Adäquanz von Zerstörungsmitteln an den Zweck der Zerstörung rational sein soll, der Zweck des Friedens jedoch und der Beseitigung der Antagonismen, die ihn ad Calendas Graecas verhindern, irrational. Weber hat, als getreuer Schalltrichter seiner Klasse, das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität auf den Kopf gestellt. Wie zur Rache schlägt bei ihm, wider seine Intention, die Zweck-Mittel-Rationalität dialektisch um. Die von Weber mit offenem Schauder prophezeite Entwicklung der Bürokratie, der reinsten Form rationaler Herrschaft, in die Gesellschaft des Gehäuses ist irrational. Worte wie Gehäuse, Verfestigung, Verselbständigung der Apparatur und ihre Synonyma indizieren, daß die damit bezeichneten Mittel sich zum Selbstzweck werden, anstatt ihre Zweck-Mittel-Rationalität zu erfüllen. Das jedoch ist keine Entartungserscheinung, wie es dem bürgerlichen Selbstverständnis behagt. Weber erkannte so durchdringend wie für seine Konzeption konsequenzlos, daß die von ihm beschriebene und verschwiegene Irrationalität aus der Bestimmung von ratio als Mittel, ihrer Abblendung gegen Zwecke und gegen das kritische Bewußtsein von ihnen folge. Die resignative Webersche Rationalität wird irrational gerade dadurch, daß, wie Weber in wütender Identifikation mit dem Angreifer postuliert, ihrer Askese die Zwecke irrational bleiben. Ohne Halt an der Bestimmtheit der Objekte, entläuft ratio sich selbst: ihr Prinzip wird zu einem schlechter Unendlichkeit. Ersonnen war Webers scheinbare Entideologisierung der Wissenschaft als Ideologie gegen die Marxische Analyse. Sie demaskiert sich aber in ihrer Gleichgültigkeit gegen den offenbaren Wahnsinn, untriftig und widerspruchsvoll in sich. Ratio darf nicht weniger sein als Selbsterhaltung, nämlich die der Gattung, von der das Überleben jedes Einzelnen buchstäblich abhängt. Durch Selbsterhaltung hindurch freilich gewinnt sie das Potential jener Selbstbesinnung, die einmal die Selbsterhaltung transzendieren könnte, auf welche sie durch ihre Limitation zum Mittel eingeebnet ward.
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Aktionismus ist regressiv. Im Bann jener Positivität, die längst zur Armatur der Ichschwäche rechnet, weigert er sich, die eigene Ohnmacht zu reflektieren. Die unablässig »zu abstrakt« schreien, befleißigen sich des Konkretismus, einer Unmittelbarkeit, der die vorhandenen theoretischen Mittel überlegen sind. Der Scheinpraxis kommt das zugute. Besonders Gewitzigte sagen, Theorie sei – ähnlich summarisch wie sie über Kunst urteilen – repressiv; und welche Tätigkeit inmitten des status quo wäre es nicht auf ihre Weise. Aber das unmittelbare Tun, das allemal ans Zuschlagen mahnt, ist unvergleichlich viel näher an Unterdrückung als der Gedanke, der Atem schöpft. Der Archimedische Punkt: wie eine nicht repressive Praxis möglich sei, wie man durch die Alternative von Spontaneität und Organisation hindurchsteuern könne, ist, wenn überhaupt, anders als theoretisch nicht aufzufinden. Wird der Begriff fortgeworfen, so werden Züge sichtbar wie die einseitige, in Terror ausartende Solidarität. Geradeswegs setzt die bürgerliche Suprematie der Mittel über die Zwecke sich durch, jener Geist, den man dem Programm nach beficht. Die technokratische Universitätsreform, die man, vielleicht noch bona fide, abwenden will, ist nicht erst der Gegenschlag auf den Protest. Dieser befördert sie von sich selbst aus. Freiheit der Lehre wird zum Kundendienst erniedrigt und soll sich Kontrollen fügen.
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Von den Argumenten, über die der Aktionismus verfügt, ist eines zwar weitab von der politischen Strategie, deren man sich rühmt, doch dafür von desto größerer Suggestivkraft: man müsse für die Protestbewegung optieren, gerade weil man ihre objektive Hoffnungslosigkeit erkenne; nach dem Muster von Marx während der Pariser Kommune oder auch des Einspringens der kommunistischen Partei beim Zusammenbruch der anarcho-sozialistischen Räteregierung 1919 in München. Wie jene Verhaltensweisen von Verzweiflung ausgelöst worden seien, so müßten die an der Möglichkeit Verzweifelnden aussichtsloses Tun unterstützen. Die unabwendbare Niederlage gebiete als moralische Instanz Solidarität auch denen, welche die Katastrophe vorausgesehen und dem Diktat einseitiger Solidarität nicht sich gebeugt hätten. Aber der Appell an den Heroismus verlängert in Wahrheit jenes Diktat; wer das Sensorium für dergleichen nicht sich hat austreiben lassen, wird den hohlen Ton darin nicht verkennen. Im sicheren Amerika vermochte man als Emigrant die Nachrichten von Auschwitz zu ertragen; nicht leicht wird man irgendeinem glauben, Vietnam raube ihm den Schlaf, zumal jeder Gegner von Kolonialkriegen wissen muß, daß die Vietcong ihrerseits auf chinesische Weise foltern. Wer sich einbildet, er sei, als Produkt dieser Gesellschaft, von der bürgerlichen Kälte frei, hegt Illusionen wie über die Welt so über sich selbst; ohne jene Kälte könnte keiner mehr leben. Die Fähigkeit zur Identifikation mit fremdem Leiden ist, ausnahmslos in allen, gering. Daß man es einfach nicht mehr habe mitansehen können, und daß keiner guten Willens es länger mitansehen dürfe, rationalisiert den Gewissenszwang. Möglich und bewundernswert war jene Haltung am Rand des äußersten Grauens, so wie die Verschwörer vom 20. Juli es erfuhren, die lieber ihren qualvollen Untergang riskierten als Untätigkeit. Aus der Distanz zu beanspruchen, man fühle wie jene, verwechselt die Vorstellungskraft mit der Gewalt unmittelbarer Gegenwart. Purer Selbstschutz verhindert im Abwesenden die Imagination des Schlimmsten; vollends Handlungen, die ihn selbst dem Schlimmsten aussetzen. Am Erkennenden ist es, die objektiv ihm aufgenötigten Grenzen einer Identifikation, die mit seinem Anspruch auf Selbsterhaltung und Glück zusammenprallt, einzugestehen, nicht sich zu gebärden, als wäre er bereits ein Mensch von der Art, wie sie erst im Stande von Freiheit, also dem ohne Angst, vielleicht sich realisiert. Vor der Welt, wie sie ist, kann man sich gar nicht genug fürchten. Opfert einer nicht nur seinen Intellekt sondern auch sich selbst, so darf keiner ihn daran hindern, obwohl es objektiv falsches Martyrium gibt. Ein Gebot aus dem Opfer zu machen, gehört zum faschistischen Repertoire. Solidarität mit einer Sache, deren unvermeidliches Scheitern man durchschaut, mag erlesenen narzißtischen Gewinn abwerfen; an sich ist sie so wahnhaft wie die Praxis, von der man bequem eine Approbation sich erhofft, die doch vermutlich im nächsten Augenblick widerrufen wird, weil kein Opfer des Intellekts den unersättlichen Ansprüchen der Geistlosigkeit je genügt. Brecht, der der damaligen Lage gemäß noch mit Politik zu tun hatte, nicht mit ihrem Surrogat, sagte einmal, dem Sinn nach, ihn interessiere, wenn er ganz ehrlich mit sich sei, au fond das Theater mehr als die Veränderung der Welt.2 Solches Bewußtsein wäre das beste Korrektiv eines Theaters, das heute mit der Realität sich verwechselt, so wie die happenings, welche die Aktionisten zuweilen inszenieren, ästhetischen Schein und Realität verfransen. Wer hinter Brechts freiwilligem und gewagtem Geständnis nicht zurückbleiben möchte, dem ist die meiste Praxis heute verdächtig als Mangel an Talent.
Fußnoten
1 Der Begriff des Verräters kommt aus dem ewigen Vorrat kollektiver Repression, gleichgültig welcher Farbe. Das Gesetz verschworener Gemeinschaften ist die Unwiderruflichkeit; darum wärmen Verschwörer gern den mythischen Begriff des Eides auf. Wer anderen Sinnes wird, ist nicht nur ausgestoßen sondern härtesten moralischen Sanktionen ausgesetzt. Der Begriff der Moral erheischt Autonomie, sie wird aber von denen nicht toleriert, die Moral im Munde führen. Wer in Wahrheit Verräter genannt zu werden verdiente, wäre der Frevler an der eigenen Autonomie.
2 Vgl. Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt a.M. 1966, S. 118.
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Der gegenwärtige Praktizismus stützt sich auf ein Moment, das die abscheuliche Sprache der Wissenssoziologie Ideologieverdacht getauft hat, so als wäre der Motor zur Kritik von Ideologien nicht die Erfahrung ihrer Unwahrheit, sondern die spießbürgerliche Geringschätzung allen Geistes wegen seiner angeblichen Interessenbedingtheit, die der skeptische Interessent auf den Geist projiziert. Vernebelt aber Praxis durchs Opiat der Kollektivität die eigene aktuelle Unmöglichkeit, so wird sie Ideologie ihrerseits. Dafür gibt es ein untrügliches Anzeichen: das automatische Einschnappen der Frage nach dem Was tun, die auf jeglichen kritischen Gedanken antwortet, ehe er nur recht ausgesprochen, geschweige denn mitvollzogen ist. Nirgendwo ist der Obskurantismus jüngster Theoriefeindschaft so flagrant. Sie erinnert an den Gestus des den Paß Abverlangens. Unausdrücklich, doch desto mächtiger ist das Gebot: du mußt unterschreiben. Der Einzelne soll sich ans Kollektiv zedieren; zum Lohn dafür, daß er in den melting pot springt, wird ihm die Gnadenwahl der Zugehörigkeit verheißen. Schwache, Verängstigte fühlen sich stark, wenn sie rennend sich an den Händen halten. Das ist der reale Umschlagspunkt in Irrationalismus. Mit hundert Sophismen wird verteidigt, mit hundert Mitteln moralischen Drucks den Adepten eingeprägt, man werde durch Verzicht auf eigene Vernunft und eigenes Urteil höherer, eben kollektiver Vernunft teilhaftig, während man doch, um die Wahrheit zu erkennen, jener unabdingbar individuierten Vernunft bedürfte, von der einem eingehämmert wird, sie sei überholt und, was sie etwa anzumelden habe, von der allemal überlegenen Weisheit der Genossen längst widerlegt und erledigt. Zurückgefallen wird auf jene disziplinäre Attitüde, die einst die Kommunisten einübten. Als Komödie wiederholt sich in den Scheinrevolutionären, einem Diktum von Marx gemäß, was todernst und von furchtbaren Folgen war, als die Situation noch offen dünkte. Anstatt auf Argumente stößt man auf standardisierte Parolen, die offensichtlich von Führern und ihrem Anhang ausgegeben sind.
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Sind Theorie und Praxis weder unmittelbar eins noch absolut verschieden, so ist ihr Verhältnis eines von Diskontinuität. Kein stetiger Weg führt von der Praxis zur Theorie – das eben wird vom Hinzutretenden als dem spontanen Moment gemeint. Theorie aber gehört dem Zusammenhang der Gesellschaft an und ist autonom zugleich. Trotzdem verläuft Praxis nicht unabhängig von Theorie, diese nicht unabhängig von jener. Wäre Praxis das Kriterium von Theorie, so würde sie dem thema probandum zuliebe zu dem von Marx angeprangerten Schwindel und könnte darum nicht erreichen, was sie will; richtete Praxis sich einfach nach den Anweisungen von Theorie, so verhärtete sie sich doktrinär und fälschte die Theorie obendrein. Was Robespierre und St. Just mit der Rousseauschen volonté générale anstellten, der allerdings der repressive Zug nicht fehlte, ist dafür der berühmteste, keineswegs der einzige Beleg. Das Dogma von der Einheit von Theorie und Praxis ist entgegen der Lehre, auf die es sich beruft, undialektisch: es erschleicht dort simple Identität, wo allein der Widerspruch die Chance hat, fruchtbar zu werden. Während Theorie aus dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß nicht herausoperiert werden kann, hat sie in diesem auch Selbständigkeit; sie ist nicht nur Mittel des Ganzen sondern auch Moment; sonst vermöchte sie nicht dem Bann des Ganzen irgend zu widerstehen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist, nachdem beide einmal voneinander sich entfernten, der qualitative Umschlag, nicht der Übergang, erst recht nicht die Subordination. Sie stehen polar zueinander. Diejenige Theorie dürfte noch die meiste Hoffnung auf Verwirklichung haben, welche nicht als Anweisung auf ihre Verwirklichung gedacht ist, analog etwa zu dem, was in der Naturwissenschaft zwischen Atomtheorie und Kernspaltung sich zutrug; das Gemeinsame, die Rückbeziehung auf mögliche Praxis steckte in der technologisch orientierten Vernunft an sich, nicht im Gedanken an Verwendung. Die Marxische Einheitslehre galt, wohl aus dem Vorgefühl heraus, sonst könne es zu spät werden, dem Jetzt oder Nie. Insofern war sie gewiß praktisch; aber es fehlen der eigentlich ausgeführten Theorie, der Kritik der politischen Ökonomie, alle konkreten Übergänge zu jener Praxis, die der elften Feuerbach-These zufolge ihre raison d'être sein sollte. Die Scheu von Marx vor theoretischen Rezepten für Praxis war kaum geringer als die, eine klassenlose Gesellschaft positiv zu beschreiben. Das ›Kapital‹ enthält zahllose Invektiven, meist übrigens gegen Nationalökonomen und Philosophen, aber kein Aktionsprogramm; jeder Sprecher der ApO, der sein Vokabular gelernt hat, müßte das Buch abstrakt schelten. Aus der Mehrwerttheorie war nicht herauszulesen, wie man Revolution machen soll; der antiphilosophische Marx ging im Hinblick auf Praxis generell – nicht in politischen Einzelfragen – kaum über das Philosophem hinaus, die Emanzipation des Proletariats könne nur dessen eigene Sache sein; und damals war das Proletariat noch sichtbar. In den jüngstvergangenen Dezennien wurden die ›Studien über Autorität und Familie‹, die ›Authoritarian Personality‹, auch die in vielem heterodoxe Herrschaftstheorie der ›Dialektik der Aufklärung‹ ohne praktische Absicht geschrieben und übten doch wohl einige praktische Wirkung aus. Was davon ausstrahlte, rührte nicht zuletzt daher, daß in einer Welt, in der auch die Gedanken zu Waren geworden sind und sale's resistance provozieren, es bei der Lektüre dieser Bände keinem einfallen konnte, irgend etwas solle ihm verkauft, aufgeschwätzt werden. Wo ich im engeren Sinn unmittelbar, mit sichtbarer praktischer Wirkung eingegriffen habe, geschah es durch Theorie allein: in der Polemik gegen die musikalische Jugendbewegung und ihren Anhang, in der Kritik am neudeutschen Jargon der Eigentlichkeit, die einer sehr virulenten Ideologie das Vergnügen versalzte, indem sie abgeleitet und auf ihren eigenen Begriff gebracht wurde. Sind tatsächlich jene Ideologien falsches Bewußtsein, so inauguriert ihre Auflösung, die im Medium des Gedankens weit sich verbreitete, eine gewisse Bewegung hin zur Mündigkeit; sie allerdings ist praktisch. Der Marxische Kalauer über »kritische Kritik«, der witzlos pleonastische, ausgewalzte Witz, der Theorie damit vernichtet meint, daß sie Theorie ist, verdeckt nur die Unsicherheit bei deren direkter Umsetzung in Praxis. Dieser hat Marx sich denn auch später, trotz der Internationale, mit der er sich zerstritt, keineswegs überantwortet. Praxis ist Kraftquelle von Theorie, wird nicht von ihr empfohlen. In der Theorie erscheint sie lediglich, und allerdings mit Notwendigkeit, als blinder Fleck, als Obsession mit dem Kritisierten; keine kritische Theorie ist im einzelnen auszuführen, die nicht das Einzelne überschätzte; aber ohne die Einzelheit wäre sie nichtig. Der Zusatz des Wahnhaften dabei indessen warnt vor Überschreitungen, in denen es unaufhaltsam sich vergrößert.