Kolisch und die neue Interpretation

Rudolf Kolisch begeht am 20. Juli 1956 seinen 60. Geburtstag. Als Primarius des Kolisch-Quartetts, erst in Europa, dann in Amerika, ist er weltberühmt geworden. Die wichtigsten Kammerwerke der neuen Musik nach dem ersten Weltkrieg hat er uraufgeführt und unermüdlich bekannt gemacht. Genannt seien das Dritte und Vierte Quartett von Arnold Schönberg ebenso wie dessen Serenade op. 24 und die Kammersuite op. 29, die Lyrische Suite von Alban Berg, das Streichquartett op. 28 von Webern. Auch die Premiere der letzten Quartette von Béla Bartók ist ihm zu danken: er hat sich des großen ungarischen Komponisten angenommen, längst ehe er – nach seinem Tode 1945 – in allgemeine Mode kam.

Aber nichts wäre verkehrter, als wenn man die Leistung Kolischs mit dem abscheulichen Begriff eines Vorkämpfers, und gar eines solchen für neue Musik, etikettieren wollte. Ihm ging und geht es nicht um das fragwürdige Ideal von Modernität um ihrer selbst willen; in der zeitgenössischen Produktion hat er aufs wählerischste unterschieden. Was er in Wahrheit vollbrachte, ist nichts Geringeres als die Realisierung einer Vorstellung von musikalischer Interpretation, welche die besten Musiker von je gehegt haben mögen, die er aber erstmals mit allem Bewußtsein und aller Konsequenz formulierte und weitertrieb. Sie ist von den kompositorischen Funden Arnold Schönbergs, dem Lehrer und später dem Schwager Kolischs, nicht zu trennen; zu ihm hat das Kolisch-Quartett geistig ähnlich gestanden wie wohl einst das Joachim-Quartett zu Brahms. Der Gedanke des integralen Komponierens, eines Verfahrens, in dem jede Note thematisch, im Zusammenhang des Ganzen zu verantworten ist, wurde von Kolisch auf die musikalische Darstellung übertragen. Man kann von integraler Interpretation reden. Sie setzt sich zur Aufgabe, nicht etwa in bloßem Wohllaut und glattem Ablauf das Werk widerzuspiegeln, sondern dessen Struktur ganz und gar in seiner Erscheinung zu verwirklichen, die ›Röntgenphotographie des Werkes‹ zu bieten. Dies Interpretationsideal geht nicht von der klanglichen Fassade aus, sondern bestimmt diese funktionell, von den vielfach latenten musikalischen Ereignissen her. Die genaueste Analyse des Werkes, die präzise Erfahrung seiner ›subkutanen‹ Elemente werden vorausgesetzt. Bezeichnend, daß beim Ensemblespiel jedes Mitglied des Quartetts nicht seine Stimme, sondern die Partitur des gesamten Werks vor Augen hat. Die Kenntnis der gespielten Musik reicht so weit, daß grundsätzlich auswendig gespielt wird. Das befreit die musikalische Gestaltung vom sichtbaren Notentext und wendet sie nach innen, zur Imagination, zum geistigen Vollzug. Der kammermusikalische Vortrag gewinnt eine Flexibilität, wie sie sonst nur Solisten vorbehalten dünkte. Symbolisch, daß Kolisch, wegen einer Verletzung der linken Hand, die Geige in der rechten hält und den Bogen mit der linken führt: Triumph des musikalischen Ingeniums über das bloße Dasein, die physische Gegebenheit.

Die Errungenschaften des neuen Interpretationsstils kommen aber der traditionellen Musik ebenso zugute wie der neuen, im Sinne der künstlerischen Erkenntnis, daß von einem zentralsten Standpunkt her bei authentischen Werken der Unterschied neuer und traditioneller Musik nicht gilt. Die konstruktiven Ergebnisse des zeitgenössischen Komponierens werden gleichsam rückwirkend auf die ältere Literatur angewandt. Es resultieren Aufführungen insbesondere von Beethoven, Schubert und Brahms, deren Strenge die Werke jener Tradition entreißt, die nach Mahlers Wort Schlamperei ist. So werden die allvertrauten eigentlich überhaupt erst wieder zur Erfahrung gebracht.

Nun hat es gewiß an gleichsinnigen Tendenzen nicht gefehlt. Kolisch verfolgt keine isolierte, private Intention, sondern vollstreckt eine objektive Tendenz. Man wird ihm jedoch nur dann ganz gerecht, wenn man auszudrücken sucht, was ihn von scheinbar parallelen Bestrebungen zur konstruktiven Versachlichung und zur bewußten Rechenschaft über das Musizierte unterscheidet. Das ist aber wohl nichts anderes, als daß seine Darstellungsweise bei der Reflexion und Analyse nicht stehen bleibt. Man könnte diese Darstellungsweise vorweg als eine Kritik des Musikanten bezeichnen. Dennoch aber verfügt der Wiener Kolisch, Kind der großen europäischen Musiziertradition, selber in eminentem Maße über eben jene Qualitäten, die der unselige Ausdruck Musikant hilflos beschwören möchte. Er hat das Musikantenideal, das seine jedem Konformismus abholde Praxis tilgte, zugleich festgehalten; er hat es wirklich im viel mißbrauchten Hegelschen Doppelsinn ›aufgehoben‹. Die strukturellen Momente, die sein Spiel offenbar werden läßt, bleiben nicht Selbstzweck, sondern werden, wie nach Valérys Wort jegliches Technische in der Kunst, Träger des Gehalts. Er überflügelt alle bloße Sachlichkeit. In dem Idiom, das Kolischs Geige spricht, kehren die Musizierimpulse sublimiert, versöhnt wieder. Kein Mensch hat jemals wohl den Schubertschen Ton, Todtraurigkeit, Ergebung, die Affinität des Sinnlichen zum Tode, den Gestus des Ja zum Nein rührender und spontaner getroffen als der bewußteste aller Geiger. In keiner musikalischen Regung tut seine Bewußtheit der Natur Gewalt an, stets wird das Lebendige bewahrt, indem es seiner selbst inne wird.

Heute wirkt er, mit seinem Quartett, an der Universität von Madison in Wisconsin, ist aber, dank der Initiative des Kranichsteiner Musikinstituts, seit einigen Jahren wieder vielfach in Deutschland tätig und übermittelt seine Erfahrung jungen Musikern. Kaum etwas wäre dem deutschen Musikleben, das ihn durch die Hitlerdiktatur verlor, so sehr zu wünschen, als daß es gelingen möchte, ihn wieder ganz an die Sphäre zu binden, deren bestes Erbe in seinen kühnsten Neuerungen überdauert.

1956