Luccheser Memorial
Für Z.
Daß das Leben im Süden auf der Straße sich abspiele, sagen alle, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Ebenso wird die Straße zum Hausinnern. Nicht nur ihrer Enge wegen, die sie in einen Gang verwandelt, sondern vor allem auch, weil es keine Trottoirs gibt. Die Straße gleicht selbst dann noch keiner Fahrbahn, wenn Autos sich durchwinden. Diese werden nicht chauffiert, sondern kutschiert; als hielten die Fahrer sie kurz, am Zügel und wichen den Fußgängern um Zentimeter aus. Soweit das Leben noch das ist, was Hegel substantiell nannte, absorbiert es auch die Technik: es liegt also nicht an dieser. Die Enge ist die des Basars und dadurch phantasmagorisch: Wohnen unter freiem Himmel wie in Kabinen von Flußkähnen oder in Zigeunerwagen. Die Trennung zwischen dem Offenen und dem, was überdacht ist, wird vergessen, als erinnerte sich das Leben seiner nomadischen Vorzeit. Die Auslagen in den Läden, selbst die dürftigen, haben etwas von Schätzen. Über sie verfügt bereits, wer nur daran vorbeigeht. Ihre Lockung ist das Glück, das sie verheißt.
Selbst von den häßlichsten Mädchen, an denen es nicht fehlt, kann man in Italien schwer sich vorstellen, daß sie, nach einem lieblos genauen Wort des neudeutschen Jargons, zickig seien, nichtexistente Angriffe auf eine Tugend abwehren, die ebensowenig existiert. Ist in nördlichen Gegenden einer der Rock zu hoch hinaufgerutscht, so mag sie ihn eifrig herunterziehen und ihren Unwillen bekunden, auch wenn keiner will. Dieselbe Geste bei einer Italienerin sagt: die Sitte gebietet es, decoro. Gerade aber indem sie ein Ritual übt, ohne den Anspruch, es wäre ihre eigene Regung, ist sie mit der Geste so identisch wie mit einer menschenwürdigen Konvention. Sie läßt die Möglichkeiten von Abweichung und Gewähren. Zu lernen ist daran, daß Koketterie ein Verhalten in gelungener Kultur sei. Geht aber ein Ladenmädchen am Feierabend allein und eilig von der Arbeit nach Hause, so hat sich darin etwas vom Abenteuer der unbegleiteten Dame erhalten.
In Italien überleben Züge der patriarchalen Ordnung des Lebens, der Unterordnung der Frauen unter den männlichen Willen, die Emanzipation der Frauen, die auch dort nicht aufzuhalten war. Für die Männer muß das ungemein angenehm sein; den Frauen bereitet es wahrscheinlich viel Leiden. Vielleicht sind darum manche Mädchengesichter so todernst.
Gesichter, die aussehen, als wären sie zu großen, womöglich tragischen Schicksalen bestimmt, die aber wahrscheinlich bloß als Rudimente jener Zeiten übriggeblieben sind, da es so etwas gab, wenn anders es wirklich dergleichen gegeben haben sollte.
Lucca, bei großer Vergangenheit, ist heute, nach der Rolle, die es im Lande spielt, provinziell, auch die meisten Läden sind es und die Kleidung. Illusionär wohl, sich einzubilden, das Bewußtsein der Einwohner wäre es weniger. Aber sie wirken nicht so. Die Tradition ihres Volkes und ihrer besonderen Gegend ist so tief in Erscheinung und Gebärde eingedrungen, daß sie geformt, der Barbarei der Provinz entrückt sind, vor der in nördlichen Breiten noch die schönsten mittelalterlichen Städte ihre Einwohner nicht feien. Provinz ist nicht Provinz.
Nach endlosem Hinundherfragen im Palazzo Guinigi, in einem Quartier, das ich noch nicht kannte. Würdevoll toscanisch und halbverfallen, der Verputz abgesprungen wie von Palästen der Wiener Innenstadt. Auf dem sehr hohen Turm eine Steineiche, Wahrzeichen der Stadt, doch nicht vereinzelt in der Toscana. Das Parterre angefüllt mit Fahrrädern und allerlei Abhub. Ich fand mich durch zum Rand eines Gartens von verwahrlostem Glanz, der einbrachte, was das Grau des Vorplatzes versagte. Über den Büschen strahlend eine Palme, im Hintergrund die fensterlose, aber doch nicht kahle Seitenwand eines der mittelalterlichen Paläste, welche die ganze Straße bilden.
In italienischen Situationen finden häufig auf schwer erklärliche Weise Leute sich zusammen, die sogleich an dem teilhaben, was man will, womöglich sich anschließen. Zuweilen wird man die Corona nicht los. Andererseits sind manche hilfsbereit und interesselos freundlich. Ohne einen bramarbasierenden Tausendsasa, der es mit der Wahrheit nicht genau nahm und mit Konfessionen aufwartete, die niemand hören mochte, wäre es nicht zum Besuch des Botanischen Gartens, der Villa Bottoni und der Ruine des antiken Theaters am Rand ihres Grundstücks gekommen. Das Peinliche verschränkt unauflöslich sich mit dem, wofür zu danken ist.
Im Omnibus nach Pistoia. Selbst der Anstrengung der Autobahn, allem auszuweichen, was anders wäre als nüchtern oder Reklame, gelingt es nicht gänzlich, die Schönheit der toscanischen Landschaft zu verbergen. So groß ist sie, daß sie noch gegen die verwüstende Praxis sich behauptet.
In Pistoia eine Gasse tiefster Armut: Via dell' abbundanza. So las ich einmal in Whitechapel das Schild: High Life Bar.
Zur Physiognomik von toscanischen Städten: manchmal erscheinen mächtige Domplätze mit bezwingender Architektur plötzlich, unvermittelt, im Gewebe der Straßen, auch sehr triste münden darauf. Der Glanz, der ins Elend herniederfährt, vergegenwärtigt unmittelbar, vor aller Symbolik, Wunder und Gnade, die jene lehrt.
Die ganze Stadt Lucca ist von einem Wall eingehegt. Nicht anders als in deutschen Städten hat man später dort Anlagen gepflanzt, aber ihn geschont, nicht geschleift. Er ist dicht mit Platanen bestanden. Sie bilden Alleen, wie man sie sonst von Pappeln gewöhnt ist, dunkel, ein wenig wie gemalte Träume von Henri Rousseau. Die Flugzeuge, die regelmäßig gegen zehn Uhr am Morgen darüber ihre Kavalkaden aufführen, passen nicht schlecht dazu. Vielfach sind auf dem großen steinernen Wall kleine Erdwälle aufgeworfen. Dort sieht man an den sommerwarmen Herbsttagen Clochards friedlich schlafen. Das Tröstende darin: wäre einmal keine Armut mehr, so müßte die Menschheit so unbewacht schlafen können wie heute nur ihre Ärmsten.
Sich vorstellen, daß wer weiß wie viele Millionen aus diesem Land nach Kanada, den Staaten, Argentinien auswandern, wo es doch umgekehrt sein müßte. Ohne Unterlaß, als wäre es ein Ritual, wiederholt sich die Austreibung aus dem Paradies, sie müssen im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot essen. Davor wird alle theoretische Gesellschaftskritik überflüssig.
Bei der Pisanisch-Lucchesischen Architektur fällt mir, dem kunsthistorischen Laien, trotz vieler Gegenbeispiele ein Mißverhältnis zwischen den ausschweifend formenreichen, schon fünfhundert Jahre vorm Barock dekorativ losgelassenen Fassaden und dem Innern mit einfachen Basilikadecken auf. Historisch mag das durchs Alter erklärt werden. Die Kirchen erheben sich durchweg an den Plätzen vorromanischer und bewahren wohl einiges von deren Struktur. Aber dem Musiker fällt dabei doch der Vorrang der Oberstimmenmelodie über die anderen Dimensionen in so vielen italienischen Kompositionen ein. Homophone Architektur. Wo in Kunstwerken konstruiert wird, ist allemal das naturbeherrschende Moment stark, gekräftigt am Widerstand der Natur. Ist diese warm und üppig, so dürfte das Bedürfnis zum Konstruieren schwächer bleiben. Das vielberufene Formgefühl der lateinischen Völker scheint gerade a-konstruktiv, entspannt; daher der leichtere Übergang zur Konvention, auch daß diese unverfänglicher ist als im Norden.
Entdeckung, mögen auch andere sie vorher schon gemacht haben: am Taufbecken der Basilika San Frediano ein Relief, das zugleich en face und als Profil sich präsentiert, beherrscht von einem großen, eckigen Auge, geometrisch dabei und, durch die jeder Ähnlichkeit mit Lebendigen entrückte Stilisierung, von bannend antikischem Ausdruck. Unabweisbar die Assoziation mit dem späten Picasso. Er wird die extravagante Plastik kaum kennen. Jenes Substantielle des lateinischen Lebens nährt eine unterirdische Tradition bis dorthin, wo Tradition verworfen ist.
Im Freien vor der Bar San Michele, gegenüber der berühmten Kirche. Tiefe, kalte Dämmerung. Schutzlos, als könnte sie jeden Augenblick einstürzen, streckte sich die leere, vierstöckige Fassade in den graublauen Himmel. Ich verstand mit einem Mal, warum sie, ohne alle Funktion, wider die architektonische Weisheit so schön ist. Sie zeigt die eigene Funktionslosigkeit, beansprucht keinen Augenblick, ein anderes zu sein als das Ornament, das sie ist. Der nackte Schein ist es nicht länger: entsühnt.