Zur gesellschaftlichen Lage der Musik
I
Umriß, Produktion
Wann immer heute Musik erklingt, zeichnet sie in den bestimmtesten Linien die Widersprüche und Brüche ab, welche die gegenwärtige Gesellschaft durchfurchen und ist zugleich durch den tiefsten Bruch von eben der Gesellschaft abgetrennt, die sie selber samt ihren Brüchen produziert, ohne doch mehr als Abhub und Trümmer der Musik aufnehmen zu können. Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozeß ist ausschließend die der Ware; ihr Wert der des Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bedürfnis und Gebrauch, sondern fügt sich mit allen anderen Gütern dem Zwang des Tausches um abstrakte Einheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, wo immer er übrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter. Die Inseln eines vorkapitalistischen ›Musizierens‹, wie sie das 19. Jahrhundert noch dulden konnte, sind überspült; die Technik von Radio und Tonfilm, mächtigen Monopolen zugehörig und in unbeschränkter Verfügung über den gesamten kapitalistischen Propagandaapparat, hat selbst von der innersten Zelle musikalischer Übung, dem häuslichen Musizieren, Besitz ergriffen, deren Möglichkeit bereits im 19. Jahrhundert, gleich dem bürgerlichen Privatleben insgesamt, nur die Rückseite eines gesellschaftlichen Körpers bildete, dessen Vorderseite die privatkapitalistische Produktion ausmacht. Die Dialektik der kapitalistischen Entwicklung hat auch diese letzte Unmittelbarkeit – selber eine bloß scheinhafte, in welcher die Balance zwischen der individuellen Produktion und dem gesellschaftlichen Verständnis stets bedroht und seit dem »Tristan« gestört war – gänzlich aufgehoben. Indem der kapitalistische Prozeß die musikalische Produktion und Konsumtion restlos in sich hineinzieht, wird die Entfremdung zwischen der Musik und den Menschen vollkommen. Wohl hatte die Objektivierung und Rationalisierung der Musik, ihre Ablösung von der bloßen Unmittelbarkeit des Gebrauchs, sie als Kunst erst geprägt: an Stelle ephemeren Erklingens ihr die Dauer verliehen; die Macht weitreichender Triebsublimierung, verbindlicher Aussprache des Humanen ihr geschenkt. Nun aber verfällt die rationalisierte Musik den gleichen Gefahren wie die rationalisierte Gesellschaft, in der das Klasseninteresse der Rationalisierung Einhalt gebietet, sobald sie wider die Klassenverhältnisse selber sich kehren könnte; das nun die Menschen in einem Stande der Rationalisierung beläßt, der, wenn ihm die Möglichkeit dialektischer Weiterentfaltung versperrt ist, zwischen seinen unaufgelösten Widersprüchen die Menschen zerreibt. Die gleiche Macht der Verdinglichung, die die Musik als Kunst konstituierte und die nie in bloße Unmittelbarkeit sich rückverwandeln ließe, wollte man nicht die Kunst auf ein vor-arbeitsteiliges Stadium zurückverweisen – die gleiche Macht der Verdinglichung hat heute den Menschen die Musik genommen und ihnen bloß deren Schein gelassen; die Musik aber, soweit sie sich nicht dem Gebot der Warenproduktion unterwirft, ihres gesellschaftlichen Haftes beraubt, in den luftleeren Raum verbannt und ihre Gehalte ausgehöhlt. Davon hat jede Betrachtung der gesellschaftlichen Lage der Musik auszugehen, die nicht den Täuschungen verfallen will, die heute – guten Teiles der Verhüllung des tatsächlichen Zustandes, auch der vermittelnden Apologie der ökonomisch eingeschüchterten Musik zuliebe – die Diskussion beherrschen. Diese Täuschungen rühren daher, daß die Musik selber unter der Übermacht des monopolkapitalistischen Musikbetriebes zum Bewußtsein ihrer eigenen Verdinglichung, der Entfremdung von den Menschen gelangte; in einer Unkenntnis des gesellschaftlichen Prozesses indessen, die ebenfalls gesellschaftlich produziert und erhalten wird, die Schuld daran nicht der Gesellschaft sondern sich selber zuschreibt und sich in der Illusion hält, die Isolierung der Musik sei isoliert, nämlich bloß von der Musik aus korrigierbar. Statt dessen gilt es hart einzusehen, daß die Gesellschafts-Fremdheit der Musik, all das, wofür ein eilfertiger und rational unerhellter musikalischer Reformismus Schimpfwörter wie Individualismus, Artistentum, technische Esoterik verwendet, selber gesellschaftliches Faktum, selber gesellschaftlich produziert ist. Und darum auch korrigierbar nicht innermusikalisch, sondern bloß gesellschaftlich: durch Veränderung der Gesellschaft. Es steht dahin, was zu solcher Veränderung dialektisch Musik etwa beitragen mag; gering aber wird ihr Beitrag sein, wenn sie von sich aus eine Unmittelbarkeit herzustellen trachtet, die gesellschaftlich nicht bloß heute verwehrt, sondern schlechterdings nicht wiederherstellbar noch selbst wünschbar ist; und damit zur Verhüllung der Lage beiträgt. Es ist weiter die Frage, wie weit Musik, soweit sie etwa selber in den gesellschaftlichen Prozeß eingreifen sollte, in der Lage sein wird, als Kunst einzugreifen. Wie immer jedoch es damit sich verhalte: heute und hier vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen Antinomien darzustellen, die auch an ihrer Isolation Schuld tragen. Sie wird um so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt die Macht jener Widersprüche und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Überwindung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer eigenen Formensprache, die Not des gesellschaftlichen Zustandes ausspricht und in der Chiffrenschrift des Leidens zur Veränderung aufruft. Ihr frommt es nicht, in ratlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfüllt ihre gesellschaftliche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie. Wollte man die immanente Entfaltung der Musik absolut setzen, als bloße Spiegelung des gesellschaftlichen Prozesses, so würde man damit eben den Fetischcharakter der Musik sanktionieren, der ihre Not und das heute gerade von ihr darzustellende Grundproblem ist. Daß sie andererseits nicht nach der bestehenden Gesellschaft gemessen werden darf, die sie produziert und zugleich von sich fernhält, steht klar. Daß sie vollends nicht, abstrakt und fern von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, als ›geistiges‹ Phänomen genommen werden sollte, das irgendwelche Wünsche der gesellschaftlichen Veränderung unabhängig von deren empirischer Verwirklichung im Bilde vorwegnehmen kann, ist die Voraussetzung jeder historisch-materialistischen und nicht bloß ›geistesgeschichtlichen‹ Methode. Damit ist die Relation von gegenwärtiger Musik und Gesellschaft nach allen Richtungen hin gleich problematisch. Ihre Aporien teilt sie mit der gesellschaftlichen Theorie; zugleich aber auch die Verhaltensweisen, in der diese den Aporien gegenübertritt oder gegenübertreten sollte. Von Musik, die heute ihr Lebensrecht bewähren will, ist in gewissem Sinne Erkenntnischarakter zu fordern. In ihrem Material muß sie die Probleme rein ausformen, die das Material – selber nie reines Naturmaterial, sondern gesellschaftlich-geschichtlich produziert – ihr stellt; die Lösungen, die sie dabei findet, stehen Theorien gleich: in ihnen sind gesellschaftliche Postulate enthalten, deren Verhältnis zur Praxis zwar äußerst vermittelt und schwierig sein mag und die keinesfalls umstandlos sich mögen realisieren lassen, über die aber in letzter Instanz entscheidet, ob und wie sie in die gesellschaftliche Wirklichkeit einzugehen vermögen. Der Kurzschluß: diese Musik ist unverständlich, also esoterisch-privat, also reaktionär, muß abgewiesen werden: ihm liegt mit einer romantischen Vorstellung primitiver musikalischer Unmittelbarkeit zugleich die Meinung zugrunde, das empirische Bewußtsein der gegenwärtigen Gesellschaft, das in Enge und Unerhelltheit, ja bis zur neurotischen Dummheit von der Klassenherrschaft zu deren Erhaltung gefördert wird, könne als positives Maß einer nicht mehr entfremdeten, sondern dem freien Menschen zugehörigen Musik gelten. So wenig die Politik von diesem Bewußtseinsstand abstrahieren darf, mit dem die gesellschaftliche Dialektik zentral rechnen muß, so wenig darf sich dafür die Erkenntnis von einem Bewußtsein Grenzen setzen lassen, das von der Klassenherrschaft produziert ist und auch als Klassenbewußtsein des Proletariats die Male der Verstümmelung durch den Klassenmechanismus weiter trägt. Wie die Theorie über dies gegenwärtige Bewußtsein der Massen hinausgreift, muß auch Musik darüber hinausgreifen. Wie aber die Theorie dialektisch zur Praxis steht, an welche sie nicht bloß Forderungen richtet, sondern von der sie auch Forderungen übernimmt, so wird auch eine Musik, die das Selbstbewußtsein ihrer gesellschaftlichen Funktion erlangt hat, dialektisch zur Praxis stehen. Nicht indem sie heute und hier, Ware gerade im Schein der Unmittelbarkeit, sich dem ›Gebrauch‹ fügt; wohl aber indem sie in sich selber, in Übereinstimmung mit dem Stande der gesellschaftlichen Theorie, alle die Elemente ausbildet, deren objektive Intention die Überwindung der Klassenherrschaft ist, auch wofern deren Ausbildung gesellschaftlich isoliert und zellenhaft während der Klassenherrschaft sich vollzieht. Wenn die fortgeschrittenste kompositorische Produktion der Gegenwart, lediglich unterm Zwang der immanenten Entfaltung ihrer Probleme, bürgerliche Grundkategorien wie die schöpferische Persönlichkeit und ihren Seelenausdruck, die Welt der privaten Gefühle und die verklärte Innerlichkeit außer Aktion setzte und an ihre Stelle höchst rationale und durchsichtige Konstruktionsprinzipien rückte, so ist diese Musik, gebunden an den bürgerlichen Produktionsvorgang, zwar gewiß nicht als ›klassenlose‹ und eigentliche Zukunftsmusik anzuschauen, wohl aber als die, welche ihre dialektische Erkenntnisfunktion am genauesten erfüllt. Der ungemein heftige Widerstand, dem in der gegenwärtigen Gesellschaft gerade solche Musik begegnet und der den gegen alle, sei's noch so sehr literarisch-politisch akzentuierte, Gebrauchs- und Gemeinschaftsmusik übertrifft – dieser Widerstand scheint immerhin darauf hinzudeuten, daß die dialektische Funktion dieser Musik in der Praxis, ob auch bloß negativ, als ›Destruktion‹, bereits fühlbar wird.
Unterm gesellschaftlichen Aspekt läßt sich die gegenwärtige Musikübung, Produktion und Konsumtion, drastisch aufteilen in solche, die den Warencharakter umstandslos anerkennt und, unter Verzicht auf jeden dialektischen Eingriff, nach den Erfordernissen des Marktes sich richtet und in solche, die sich prinzipiell nicht nach dem Markt richtet. Anders gewandt: in der Entfremdung von Gesellschaft und Musik stellt die erste Gruppe – passiv und undialektisch – sich auf die Seite der Gesellschaft, die zweite auf die der Musik. Die herkömmliche, in der bürgerlichen Musikkultur sanktionierte Scheidung von ›leichter‹ und ›ernster‹ Musik fällt mit dieser scheinbar zusammen. Freilich nur scheinbar. Denn ein großer Teil der vorgeblich ›ernsten‹ Musik richtet sich wie die Komponisten leichter Musik nach den Erfordernissen des Marktes, wäre es auch unterm Schutz ökonomisch undurchsichtiger ›Mode‹, oder kalkuliert wenigstens die Markterfordernisse der Produktion ein; die Verhüllung der Marktfunktion solcher Musik durch den Begriff der Persönlichkeit, der Schlichtheit, des Lebens dient nur dazu, sie zu verklären und damit ihren Marktwert mittelbar zu steigern. Andererseits enthält gerade die ›leichte‹ Musik, von der gegenwärtigen Gesellschaft geduldet, verachtet und benutzt gleich der Prostitution, mit der sie als ›leichtgeschürzt‹ nicht umsonst verglichen wird, Elemente, die wohl Triebbefriedigungen der heutigen Gesellschaft darstellen, deren offiziellen Ansprüchen aber widerstreiten und damit in gewissem Sinne die Gesellschaft transzendieren, der sie dienen. In der Scheidung von leichter und ernster Musik spiegelt die Entfremdung von Menschen und Musik sich nur verzerrt, nämlich so, wie sie dem Bürgertum selbst sich darstellt. Sie will die ›ernste‹ Musik von der Entfremdung ausnehmen, die doch Strawinskys Psalmensymphonie mit dem letzten Schlager von Robert Stolz teilt, und dafür die Last der Entfremdung unter dem Titel ›Kitsch‹ allein jener Musik aufbürden, die als exakte Reaktion auf Triebkonstellationen der Gesellschaft als einzige dieser angemessen ist, aber gerade durch ihre Angemessenheit die Gesellschaft desavouiert. Darum ist die Scheidung leichter und ernster Musik durch jene andere zu ersetzen, die die beiden Hälften der musikalischen Weltkugel gleichermaßen im Zeichen der Entfremdung sieht: Hälften eines Ganzen, das freilich durch deren Addition niemals rekonstruierbar wäre.
Die musikalische Produktion im engeren Sinne, die sich nicht umstandslos dem Marktgesetz unterwirft, also die ›ernste‹ unter Ausschluß der quantitativ freilich überwiegenden, die verkappt ebenfalls dem Markt dient, ist die, welche die Entfremdung gestaltet. Grob läßt sich schematisieren: ihr erster Typ ist einer, der ohne Bewußtsein des gesellschaftlichen Ortes oder gleichgültig dagegen, bloß immanent seine Probleme und Lösungen auskristallisiert und gewissermaßen fensterlos wie die Leibnizsche Monade zwar nicht eine prästabilierte Harmonie, wohl aber eine historisch produzierte Dissonanz, nämlich die gesellschaftlichen Antinomien ›vorstellt‹. Dieser erste Typ, als ›moderne‹ Musik der allein ernstlich chokierende, wird wesentlich von Arnold Schönberg und seiner Schule vertreten. – Dem zweiten Typ rechnet Musik zu, die die Tatsache der Entfremdung, als ihre eigene Isolierung und als ›Individualismus‹, erkennt und ins Bewußtsein hebt, aber in sich selbst, formimmanent und bloß ästhetisch, also ohne Rücksicht auf die tatsächliche Gesellschaft, aufzuheben trachtet; meist durch einen Rückgriff auf vergangene Stilformen, die sie der Entfremdung enthoben meint, ohne zu sehen, daß sie in völlig veränderter Gesellschaft und völlig verändertem Musikmaterial nicht wiederherstellbar sind. Insofern diese Musik, ohne sich auf eine gesellschaftliche Dialektik einzulassen, im Bilde eine nichtexistente ›objektive‹ Gesellschaft oder, nach ihrer Intention, ›Gemeinschaft‹ zitieren möchte, mag sie Objektivismus heißen. Zum Objektivismus zählt in den hochkapitalistisch-industriellen Ländern der Neoklassizismus, in den unentwickelteren agrarischen der Folklorismus. Der wirksamste Autor des Objektivismus, nacheinander übrigens, aufschlußreicher Weise, seiner beiden Hauptrichtungen, ist Igor Strawinsky. – Der dritte Typ ist eine Zwischenform. Mit dem Objektivismus geht er von der Erkenntnis der Entfremdung aus. Zugleich aber erkennt er, gesellschaftlich erhellter als jener, dessen Lösungen als Schein. Er verzichtet auf die positive Lösung und begnügt sich, die gesellschaftlichen Brüche durch brüchige, sich selbst als scheinhaft setzende Faktur hervortreten zu lassen, ohne sie mehr durch ästhetische Totalität zu überwölben. Er bedient sich dabei der Formsprache teils der bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts, teils der heutigen Konsummusik, um sie zu enthüllen. Mit der Sprengung der ästhetischen Formimmanenz transzendiert dieser Typ zum Literarischen. Weitreichende sachliche Übereinstimmungen mit den französischen Surrealisten berechtigen dazu, beim dritten Typ von surrealistischer Musik zu sprechen. Sie ist ausgegangen vom mittleren Strawinsky, dem der Histoire du soldat zumal. Am konsequentesten ist sie von Kurt Weill in den gemeinsam mit Brecht produzierten Werken, besonders der ›Dreigroschenoper‹ und ›Mahagonny‹ ausgebildet worden. – Der vierte Typ ist der solcher Musik, die die Entfremdung von sich aus und real zu durchbrechen trachtet, sei es auch auf Kosten der immanenten Gestalt. Er wird gemeinhin mit dem Namen ›Gebrauchsmusik‹ belegt. Doch zeigt gerade die charakteristische Gebrauchsmusik, wie sie zumal von Rundfunk- und Theaterbestellungen hervorgerufen wird, bereits zu deutliche Abhängigkeiten vom Markt, als daß sie hier zur Diskussion stünde. Statt ihrer erheischen Aufmerksamkeit Bestrebungen wie etwa die einer vom Neoklassizismus ausgehenden ›Gemeinschaftsmusik‹, die Hindemith vertritt, und die proletarischen Chorwerke von Hanns Eisler.
Arnold Schönberg, als intellektualistisch, destruktiv, abstrakt und esoterisch verfemt, trifft mit jedem neuen Werk auf Widerstände, die denen gegen die Psychoanalyse nicht unähnlich sind. In der Tat zeigt er, nicht zwar dem konkreten Gehalt seiner heute von allem psychologischen Bezug abgelösten Musik, wohl aber der gesellschaftlichen Struktur nach weitreichende Übereinstimmungen mit Freud. Gleich ihm und gleich Karl Kraus, zu dessen sprachkritischer Bemühung seine Reinigung des musikalischen Materials das Seitenstück abgibt, rechnet der Wiener Schönberg zu jenen dialektischen Erscheinungen des bürgerlichen Individualismus – das Wort ganz allgemein genommen –, die ohne Rücksicht auf eine vorgedachte gesellschaftliche Totalität in ihren angeblich ›spezialisierten‹ Problemkreisen arbeiten, in ihnen aber Lösungen gewinnen, die sich unvermerkt wider die Voraussetzungen des Individualismus kehren und umschlagen; Lösungen, wie sie einem gesellschaftlich orientierten bürgerlichen Reformismus prinzipiell versagt sind, der seine auf die Totalität abzielende Einsicht, die doch nicht den Grund erreicht, mit ›vermittelnden‹ und damit verhüllenden Lösungen bezahlen muß. Wenn Freud, um zu den objektiven Symbolen und schließlich der objektiven Dialektik des Bewußtseins der Menschen in der Geschichte zu gelangen, die Analyse des individuellen Bewußtseins und Unbewußtseins durchführen mußte; wenn Kraus, um in der Sphäre des ›Überbaus‹ die Konzeption des Sozialismus gleichsam zum zweiten Mal zu vollbringen, nichts anderes tat, als das bürgerliche Leben mit seiner eigenen Norm des richtigen individuellen zu konfrontieren und mit den Individuen deren Norm enthüllte: dann hat, nach dem gleichen Schema, Schönberg die Ausdrucksmusik des privaten bürgerlichen Individuums, lediglich ihre eigenen Konsequenzen verfolgend, zur Aufhebung gebracht und eine andere Musik an ihre Stelle gesetzt, der zwar unmittelbare gesellschaftliche Funktionen nicht zukommen, ja die die letzte Kommunikation mit der Hörerschaft durchschnitten hat, die aber einmal an immanent-musikalischer Qualität, dann an dialektischer Aufklärung des Materials alle andere Musik der Zeit hinter sich zurückläßt und eine so vollkommene rationale Durchkonstruktion darbietet, daß sie mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfassung schlechterdings unvereinbar ist, die denn auch in all ihren kritischen Repräsentanten unbewußt sich zur Wehr setzt und die Natur wider den Angriff des Bewußtseins zu Hilfe ruft, den sie bei Schönberg erfuhr. Mit ihm hat, zum ersten Male vielleicht in der Geschichte der Musik, Bewußtsein das musikalische Naturmaterial ergriffen und beherrscht es. Der Durchbruch des Bewußtseins aber ist bei ihm nicht idealistisch: nicht als Produzieren von Musik aus bloßem Geist zu verstehen. Vielmehr darf in strengem Sinn von Dialektik die Rede sein. Denn die Bewegung, die Schönberg vollzogen hat, geht aus von Fragestellungen, wie sie im Material selbst gelegen sind, und die Produktivkraft, die sie in Bewegung bringt, ist eine Triebrealität, nämlich der Drang zu unverstellter und ungehemmter Expression des Psychischen und gerade des Unbewußten, wie sie in Schönbergs mittlerer Phase, der der »Erwartung«, der »Glücklichen Hand« und der Kleinen Klavierstücke, sein Werk in unmittelbare Beziehung zur Psychoanalyse setzt. Das objektive Problem aber, das diesem Drang gegenüber liegt, ist dies: wie vermag das technisch durchgebildetste Material – das also, das Schönberg von Wagner und andererseits von Brahms empfing – der radikalen Expression des Psychischen sich zu unterwerfen? Das vermag es nur, indem es sich von Grund auf verändert: nämlich alle die vorgegebenen Bindungen aufgibt, die – Spiegelungen eines ›Einverständnisses‹ der bürgerlichen Gesellschaft mit der Psyche des Individuums, welches nun von dessen Leiden aufgekündigt wird – der Freizügigkeit des individuellen Ausdrucks im Wege stehen. Es sind das die überkommenen musikalischen Symmetrieverhältnisse in jedem Betracht, die auf einer wie immer gearteten Technik der Wiederholung basieren, und ihre Kritik ereignet sich, abermals in Übereinstimmung mit Karl Kraus, aber auch etwa den architektonischen Absichten von Adolf Loos, als Kritik jeglichen Ornaments. Bei der Verschränktheit aller musikalischen Elemente bleibt diese Kritik nicht etwa bei der musikalischen Architektur, deren Symmetrie und Ornamentik sie negiert, stehen; sie geht ebenso auf das harmonische Korrelat der tektonischen Symmetrieverhältnisse, die Tonalität, die zugleich von der Dissonanz als dem Träger des radikalen Ausdrucksprinzips getroffen wird; mit dem Zerfall des tonalen Schemas emanzipiert sich der bislang akkordisch eingeengte Kontrapunkt und erzeugt jene Form von Polyphonie, die unter dem Namen der ›Linearität‹ bekannt ist; schließlich wird auch der totale, homogene Klang, wie er von der Substanz des orchestralen Streichertuttis getragen war, angegriffen. Es ist nun die eigentlich zentrale und in der üblichen Betrachtungsweise niemals recht gewürdigte Leistung Schönbergs, daß er schon von den frühsten Werken, etwa den Liedern op. 6 an die expressive Kritik des vorgegebenen Materials und seiner Formen niemals ›expressionistisch‹, durch selbstherrliches und rücksichtsloses Einlegen subjektiver Intentionen ins heterogene Material vollzog, sondern daß jede Geste, mit der er ins materiale Gefüge eingreift, zugleich die präzise Antwort ist auf Fragen, welche das Material in Gestalt der material-eigenen Probleme an ihn richtet. Jede subjektiv-expressive Errungenschaft Schönbergs ist zugleich eine Auflösung objektiv-materialer Widersprüche, wie sie sowohl in der chromatischen Sequenztechnik Wagners wie der diatonischen Variationstechnik Brahmsens fortbestanden. Wenn der esoterische Schönberg nicht einer spezialisierten und gesellschaftlich irrelevanten Musikgeschichte als Geistesgeschichte vorbehalten ist, sondern in seiner materialen Dialektik auf die gesellschaftliche projiziert werden darf, so rechtfertigt sich das damit, daß er in Gestalt der materialen Probleme, die er übernahm und weitertrieb, die Probleme der Gesellschaft vorfand, die das Material produzierte und in ihm ihre Widersprüche als technische Probleme aufstellte. Daß Schönbergs Lösungen der technischen Probleme trotz ihrer Isoliertheit gesellschaftlich belangvoll sind, erweist sich daran, daß er, trotz und vermöge seiner eigenen expressiven Ursprünge, in ihnen allen an Stelle der privaten Zufälligkeit, die man recht wohl als eine Art anarchischer Musikproduktion bezeichnen könnte, eine objektive Gesetzmäßigkeit rückte, die dem Material nicht von außen aufgezwungen, sondern aus ihm selber herausgeholt ist und es in geschichtlichem Prozeß rationaler Durchsichtigkeit annähert. Das ist der Sinn des Umschlages, der technologisch als »Zwölftonkomposition« figuriert. Im gleichen Augenblick, da das gesamte musikalische Material der Macht der Expression unterworfen ist, erlischt die Expression – als ob sie nur am Widerstand des subjekt-fremden, selber ›entfremdeten‹ Materials sich entzündete. Die subjektive Kritik der ornamentalen und Wiederholungsmomente zeitigt eine objektive, nicht-expressive Struktur, die an Stelle von Symmetrie und Wiederholung den Ausschluß der Wiederholung in der Zelle, nämlich die Verwendung aller zwölf Töne des Chromas vor der Wiederholung eines Tones daraus setzt und zugleich den ›freien‹, zufälligen, konstruktiv ungebunden Einsatz irgendeines Tones verwehrt. Entsprechend tritt für die expressiv gebundene leittönige Harmonik eine komplementäre ein. Der äußersten Strenge des immanenten Gefüges ist zugeordnet radikale Freiheit von allen dinglichen, von außen der Musik gesetzten Normen, so daß sie wenigstens in sich selber die Entfremdung als eine von subjektiver Formung und objektivem Material aufgehoben hat und dem zustrebt, wofür Alois Hába den schönen Ausdruck ›Musikstil der Freiheit‹ fand. Freilich überwindet sie die Entfremdung nach innen nur durch deren Vollendung nach außen. Und es wäre romantische Verklärung der Meisterschaft, auch der Schönbergs, der größten der gegenwärtigen Musik, Verkennung der heute unauflöslichen Aporien der Musik, wollte man annehmen, deren immanente Bewältigung sei tatsächlich bruchlos möglich. Denn mit der Textwahl zu seiner letzten Oper ›Von heute auf morgen‹, einer Verherrlichung der bürgerlichen Ehe gegenüber der Libertinage, die ›Liebe‹ und ›Mode‹ bedenkenlos kontrastiert, unterstellt immerhin Schönberg selber seine eigene Musik einer bürgerlichen Privatsphäre, die sie ihrer objektiven Beschaffenheit nach angreift. Gewisse klassizistische Neigungen in der großen Formarchitektur, wie sie sich beim letzten Schönberg verfolgen lassen, mögen in die gleiche Richtung weisen. Vor allem aber: es ist die Frage, ob das Ideal des geschlossenen, in sich ruhenden Kunstwerkes, das Schönberg von der Klassik übernahm und treu festhält, mit den Mitteln, die er auskristallisierte, noch vereinbar ist und ob es, als Totalität und Kosmos, sich überhaupt noch halten läßt. Mag immer in der tiefsten Schicht Schönbergs Werk diesem Ideal entgegen sein – das Moment der Scheinlosigkeit zeugt dafür, das schon in seinem Kampf gegen die Ornamentik sich aussprach und mehr noch in der Nüchternheit seiner heutigen musikalischen Diktion, auch der der Texte –; mag selbst seinem Werk als dessen Geheimnis Kunstfeindschaft innewohnen: dem expliziten Anspruch nach will es mit historisch durchrationalisierten Mitteln das Beethovensche, autonome, sich selbst genügende und symbolkräftige Kunstwerk noch einmal herbeizwingen, und die Möglichkeit solcher Rekonstruktion ist, wie die der Krausschen Rekonstruktion einer reinen Sprache, zu bezweifeln. Hier, freilich nur hier und nicht in der Unpopularität seines Werkes stößt die gesellschaftliche Einsicht auf seine Grenze; auf die Grenze nicht sowohl seiner Begabung als vielmehr die der Funktion von Begabung überhaupt. Sie läßt sich musikalisch nicht mehr überschreiten. An ihr hat Alban Berg, Schönbergs Schüler, sich angesiedelt. Kompositionstechnisch stellt sein Werk gewissermaßen die rückwärtige Verbindungslinie zwischen dem vorgeschobenen Schönbergschen oeuvre und der vorangegangenen Generation: Wagner, Mahler, in mancher Hinsicht auch Debussy dar. Diese Linie ist aber vom Schönbergschen Niveau aus gezogen: dessen technische Errungenschaften: extreme Variation und Durchkonstruktion, auch das Zwölftonverfahren sind auf das ältere, chromatisch-leittönige Material angewandt, ohne es, wie es im Werke Schönbergs geschieht, ›aufzuheben‹: die expressive Funktion wird erhalten. Bleibt nun Berg damit mehr als Schönberg der bürgerlich-individualistischen Musik – in den herkömmlichen Kategorien der Stilkritik: der neudeutschen Schule – verhaftet, so entringt er sich ihr in anderer Richtung ebenso vollkommen wie Schönberg. Seine Dialektik trägt sich zu im Bereich des musikalischen Ausdrucks, der nicht, wie die Anwälte einer leer-kollektivistischen Neusachlichkeit ohne Unterlaß proklamieren, ohne weiteres als ›individualistisch‹ verworfen werden kann. Die Frage nach dem Ausdruck läßt sich statt dessen nur konkret, nur nach dem Substrat des Ausdrucks, dem Ausgedrückten, und nach der Bündigkeit des Ausdrucks selber beantworten. Wird diese Frage im Bereich der bürgerlich-individualistischen Ausdrucksmusik ernstlich gestellt, so zeigt sich, daß diese Ausdrucksmusik nicht nur als Musik, sondern ebenso auch als Ausdruck fragwürdig ist: daß, ähnlich wie in einem großen Teil der ›psychologischen‹ Romanliteratur des 19. Jahrhunderts, gar nicht die psychische Realität des Bezugssubjekts, sondern einen fiktive, stilisierte und in vielem Betracht gefälschte ausgedrückt ward. Auf diesen Sachverhalt deutet in der Musik die Verschränkung des psychologischen Ausdrucks- mit dem Stilbegriff der Romantik hin. Gelingt es nun der Musik, das fiktive psychologische Substrat, also vorweg das heroisch-erotische Menschenbild Wagners zu durchstoßen und ins reale Substrat einzudringen, so ändert sich die Funktion der Musik dem bürgerlichen Individuum gegenüber. Sie will es dann nicht mehr verklären und als Norm statuieren, sondern seine Not und sein Leiden aufdecken, die von der Konvention, der musikalischen nicht anders als der psychologischen, verborgen werden; indem sie die Not – oder die Gemeinheit – des Individuums ausspricht, ohne es in seiner Isolierung zu belassen, sondern indem sie es zugleich objektiviert, kehrt sie sich schließlich gegen die Ordnung der Dinge, in der sie zwar als Musik entspringt wie das ausgedrückte Individuum als Individuum, die aber in ihr zum Bewußtsein ihrer selbst und ihrer Verzweiflung gelangt. Sobald solche Musik, ihrerseits inhaltlich der Psychoana-lyse verwandt genug und nicht umsonst in den Regionen von Traum und Wahnsinn beheimatet, die konventionelle Ausdrucks-psychologie tilgt, kehrt sie sich zugleich auch gegen die konventionelle Formensprache der Musik, die jener Psychologie entspricht, zerfällt deren Oberflächenzusammenhänge und baut aus den Partikeln des musikalischen Ausdrucks musikalisch-immanent eine neue Sprache, die trotz des gänzlich verschiedenen Weges mit der konstruktiven Schönbergs konvergiert. Diese Dialektik trägt im Werke Bergs sich zu, und sie allein läßt seine Komposition von Büchners Trauerspiel ›Wozzeck‹ in ihrer Tragweite verstehen. Wenn eine Parallele zur bildenden Kunst erlaubt ist: Berg verhält sich zur Ausdrucksmusik des späteren 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie die Porträts Kokoschkas zu denen der Impressionisten. Die wahrhafte Darstellung der individuellen Psyche, der bürgerlichen und der vom Bürgertum produzierten proletarischen, schlägt mit dem Wozzeck in die gesellschaftskritische Intention um, ohne freilich den Rahmen der ästhetischen Immanenz zu sprengen. Dabei ist es das tiefe Paradoxon Bergs, in dem die gesellschaftliche Antinomik werk-immanent sich abzeichnet, daß diese kritische Wendung gerade im Bezug auf ein vergangenes und von seiner Kritik nun transparent gemachtes Material möglich wird. So stellt es in einem der bedeutendsten Teile des Wozzeck, der großen Wirtshausszene sich dar, und hier überschneidet sich sein Verfahren mit dem surrealistischen. Dieser Bezug ist es zugleich, der bislang Bergs Werk, zumindest das dramatische, vor der vollkommenen Isolierung behütet hat und ihm beim bürgerlichen Publikum eine gewisse Resonanz schuf, die, mag sie immer im Mißverständnis des Wozzeck als des letzten ›Musikdramas‹ Wagnerischer Provenienz gründen, durch die Kanäle des Mißverstehens ins herrschende Bewußtsein einiges von dem einsickern ließ, was als dunkler und gefährlicher Strom im Wozzeck aus den Höhlen des Unbewußten entspringt. – Es ist in diesem Zusammenhang schließlich in Kürze des dritten Repräsentanten der Schönbergschule zu gedenken, dessen gesellschaftliche Interpretation, so fraglos die außerordentliche musikalische Qualität steht, einstweilen noch die größte Schwierigkeit bereitet und hier nicht einmal versucht werden darf: Anton Weberns. Einsamkeit und Entfremdung der Gesellschaft gegenüber, bei Schönberg durch die Formstruktur des Werkes bedingt, werden ihm thematisch und zum Inhalt: die Aussage des Unaussagbaren, also der vollkommenen Entfremdung ist mit jedem Laut seiner Musik gemeint. Wollte man den für die Schönberg-Schule konstitutiven Grundbegriff der immanenten Dialektik auf Webern anwenden: man müßte, mit einem Untertitel Kierkegaards, der Webern nahe genug liegt, von »dialektischer Lyrik« reden. Denn hier wird die äußerste individuelle Differenzierung, eine Auflösung des vorgegebenen Materials, die musikalisch noch über Schönberg und expressiv noch über Berg hinausgeht, zu keinem anderen Zweck geübt als dem: eine Art Natursprache der Musik, den reinen Laut freizumachen, wie er dem Rückgriff auf ein Naturmaterial, also die Tonalität und die ›natürlichen‹ Obertonverhältnisse, unweigerlich sich versagte. Das Bild der Natur in geschichtlicher Dialektik zu produzieren: das ist die Absicht seiner Musik und das Rätsel, das sie aufgibt; das, als Rätsel, zu jeder positiven Natur-Romantik als Antwort gänzlich konträr steht. Es wird erst später sich dechiffrieren.
Zur Meisterschaft Schönbergs und seiner Schule setzt die genaue Antithesis die Virtuosität Strawinskys und seines Gefolges; zur Scheinlosigkeit das Spiel; zur gebundenen Dialektik, deren Substrat umschlagend sich verwandelt, der verführerisch-beliebige Wechsel der Masken, deren Träger dafür identisch, aber nichtig bleibt. Die Musik des Objektivismus ist gesellschaftlich um soviel durchsichtiger denn die der Schönberg-Schule, als sie sich technologisch weniger dicht in sich verschließt. Darum hat die gesellschaftliche Interpretation des Objektivismus gerade von dessen technischer Verfahrungsweise auszugehen. Technisch wird in jeglicher objektivistischen Musik der Versuch gemacht, die Entfremdung der Musik von innen her, also ohne Ausblick auf die gesellschaftliche Realität zu korrigieren: nicht aber durch Weiterverfolgung ihrer immanenten Dialektik, die als individualistisch-überdifferenziert – Strawinsky hat, absurd genug, Schönberg einmal mit Oscar Wilde verglichen –, intellektualistisch-abstrakt und naturentfremdet gescholten wird. Sondern die musikimmanente Korrektur der Entfremdung wird erhofft von einem Rückgriff auf ältere, durchwegs vorbürgerliche Musikformen, in denen man einen urtümlichen Naturstand der Musik, man könnte sagen: eine musikalische Anthropologie behaupten möchte, der, zugehörig dem Wesen Mensch und seiner leibhaften Konstitution – daher die Neigung alles Objektivismus zu Tanzformen und im Tanz entspringender Rhythmik –, dem geschichtlichen Wechsel enthoben und jederzeit zugänglich sein soll. Vom stilhistorisch prägnanten Begriff der Romantik, mit einer extremen Formel: dem ›Legendenton‹ Schumanns unterscheidet der Objektivismus sich dadurch, daß er nicht sowohl einen vergangenen musikalischen Zustand als positiv dem negativen gegenwärtigen gegenübergestellt und sehnsüchtig ihn wiederherzustellen trachtet, als vielmehr im Vergangenen das Bild eines schlechterdings Gültigen konstruiert, das heut und hier wie jederzeit zu realisieren sei. Darum hat der Objektivismus in seinen theoretischen Äußerungen gerade die Romantik aufs heftigste befehdet. Das besagt aber praktisch-musikalisch nichts anderes, als daß der Rückgriff des Objektivismus auf seine historischen Modelle, sei es nun echte und falsche bäuerliche Volksmusik, mittelalterliche Polyphonie oder der ›vorklassische‹ Konzertatstil, nicht einfach auf Wiedereinsetzung jener Modelle abzielt: nur in Ausnahmefällen hat der Objektivismus, als Stilkopie, um solche Wiedereinsetzung sich bemüht. In der Breite seiner Produktion aber strebt der Objektivismus, als »neue Sachlichkeit« seine Arriviertheit und Zeitgemäßheit geflissentlich betonend, die alten und vermeintlich ewigen Modelle gerade auf das aktuelle Material anzuwenden: das gleiche harmonisch-freizügige, zur Polyphonie prädisponierte, vom Ausdruckszwang emanzipierte Material, wie es aus der Dialektik der Schönbergschule hervorgeht und undialektisch vom Objektivismus übernommen wird. Die vor-arbeitsteilige, statisch-naturhafte Formung eines höchst differenzierten, in sich alle Merkmale der Arbeitsteilung aufweisenden Materials: das ist das Ideal des musikalischen Objektivismus.
Damit drängen unabweislich aktuelle gesellschaftliche Analogien sich auf. Die ständisch-korporative Gliederung eines hochindustriellen Wirtschaftszusammenhanges: sie scheint in der objektivistischen Musik konform abgebildet, und wie im Faschismus über den ›Organismus‹ der Gesellschaft eine ›Führerelite‹, in Wahrheit nämlich die Monopolkapitalisten gebieten, so gebietet über den vorgeblich musikalischen Organismus in Freiheit der souveräne Komponist; wann eine Dissonanz einzuführen, wann ein Vorhalt aufzulösen sei, darüber entscheidet weder ein vorgesetztes Schema, das ja durchs aktuelle Material außer Kraft gesetzt ist, noch die Immanenz des Gefüges, deren rationale Zwangsmäßigkeit gerade im Namen der Natur verneint wird, sondern einzig das Belieben, nämlich der ›Geschmack‹ des Komponisten. So verlockend nun aber die Analogie ist und so viel sie vom wahren Sachverhalt erschließt: Erkenntnis darf sich ihr nicht ohne Widerstand überlassen. Zwar ist bei dem russischen Emigranten Strawinsky selber oder gar einem kunstpolitisch ambitionierten Neoklassizisten wie Casella der Zusammenhang mit dem Faschismus außer Frage. Jedoch die gesellschaftliche Interpretation von Musik hat es nicht mit dem individuellen Bewußtsein der Autoren sondern mit der Funktion ihres oeuvres zu tun. Und da ergeben sich Schwierigkeiten. Zunächst müßten für die Beziehung Objektivismus – Faschismus, soll sie real verstanden werden, die Vermittlungskategorien gefunden und die Vermittlung expliziert werden. Der Vermittlungsmechanismus ist aber noch unbekannt. Er könnte sich am ehesten erschließen einer Analyse des Sachverhalts der Mode, die – wie es im Fall Strawinskys etwa seine allgemein geläufigen Abhängigkeiten dartun – wesentliche Formelemente des Neoklassizismus nicht in immanent-technischen Fragestellungen sich ausprägen ließ, sondern sie zunächst von außen hereinwarf, bis sie dann in die technische Immanenz des Kunstwerkes übergeführt wurden. Die Mode selbst aber weist einsichtig auf gesellschaftlich-ökonomische Tatsachen zurück. Indessen es ist damit nicht sowohl eine Lösung des Vermittlungsproblems für die Musik angegeben als vielmehr nur der Ort des Problems genauer bezeichnet. Weiter jedoch ergeben sich für die gesellschaftliche Interpretation des Objektivismus auf den Faschismus inhaltliche Schwierigkeiten. Und zwar durch den gleichen Sachverhalt der Entfremdung, dessen immanent-ästhetische Beseitigung oder Verdeckung der Objektivismus sich zur Aufgabe gestellt hat. Gesetzt nämlich, er wäre in der Tat der Intention und objektiven Struktur nach die Musik der fortgeschrittensten monopolkapitalistischen Schicht: sie vermöchte ihn trotzdem nicht zu konsumieren und nicht zu verstehen. Indem der Objektivismus die Entfremdung nur im Bilde zu beseitigen trachtet, läßt er sie in der Realität unverändert bestehen. Die technische Spezialisierung der Musik ist so weit gediehen, daß das Publikum eine Musik selbst dann nicht mehr adäquat zu begreifen vermag, wenn sie objektiv seine eigene Ideologie ist. Dazu kommt, daß ideologische Mächte anderer Art wie der Begriff der ›Bildung‹ als einer Akkumulation von geistigem Gut aus der Vergangenheit auf das Publikum auch musikalisch weit stärker wirken als die unmittelbare Ausformung seiner Gesellschaftsideale in der Musik; allzufremd ist es bereits der Musik geworden, um solcher Ausformung noch zentralen Wert beizumessen. Mag immer die Musik Strawinskys großbürgerliche Ideologien unvergleichlich viel genauer widerspiegeln als etwa die von Richard Strauss als des großbürgerlichen Komponisten der letzten Generation: das Großbürgertum wird trotzdem Strawinsky als ›Destrukteur‹ beargwöhnen und an seiner Statt lieber Richard Strauss und noch lieber Beethovens Siebente Symphonie hören. So kompliziert Entfremdung die gesellschaftliche Gleichung. Sie kommt aber auch immanent-ästhetisch zutage – und hier mag der wahre Ursprung des Mißtrauens der Großbürger gegen ›ihre‹ Musik zu suchen sein. Dem Belieben nämlich, mit dem der Komponist über sein Material zu schalten vermag, ohne daß es objektiv verbindlich vorgeformt wäre, ohne daß aber auch die innere Gefügtheit des musikalischen Gebildes selber über musikalisches Recht und Unrecht eindeutig richtete – diesem schlechten Belieben entspricht die Unstimmigkeit des Gebildes bei sich selber, in dem der Widerspruch zwischen der beschworenen Formintention und dem tatsächlichen Materialstand unaufgelöst bleibt.
Am gerechtesten wird ihm noch ein Kompositionsverfahren, das, wie etwa der bedeutende ungarische Komponist und Volksliedforscher Béla Bartók, auf die Fiktion von Formobjektivität verzichtet und statt dessen auf ein vor-objektives, wahrhaft archaisches Material zurückgreift, das aber gerade in seiner partikularen Aufgelöstheit dem aktuellen überaus nahesteht, so daß ein radikaler Folklorismus in der rationalen Durchkonstruktion von partikularem Material der Schönbergschule sich erstaunlich angleicht. Bartók aber ist im Raume des Objektivismus durchaus singulär; schon bei seinem früheren Mitarbeiter Kodály ist die echte Folklore zu einem romantischen Wunschbild ungeteilt-völkischen Lebens verfälscht, das durch den Kontrast urtümelnder Melodik und sinnlichweicher, spätimpressionistischer Harmonik sich selber denunziert. Vor solcher Demaskierung ist Strawinskys Maskenspiel durch den genauesten und vorsichtigsten Kunstverstand geschützt. Es ist seine große und gefährliche, auch für ihn selbst gefährliche Leistung, daß seine Musik das Wissen um ihre zwangsmäßige Antinomik nutzt, indem sie sich als Spiel gibt; niemals aber blank als Spiel, niemals als offenes Kunstgewerbe: sondern sich in einer steten Schwebe zwischen Spiel und Ernst wie zwischen den Stilen hält, die es fast unmöglich macht, sie beim Namen zu rufen und in der die Ironie jede Durchschaubarkeit der objektivistischen Ideologie verhindert, der Hintergrund einer Verzweiflung aber, der jeder Ausdruck erlaubt ist, weil ihr keiner eindeutig zukommt, das Maskenspiel von der Tiefe seines düsteren Hintergrundes abhebt. Dies Schwanken, darin jeden Augenblick das Spiel Ernst werden, ins satanische Gelächter umschlagen kann und mit der Möglichkeit nichtentfremdeter Musik die Gesellschaft verhöhnt: dies ist es, was die Aufnahme Strawinskys als des Modekomponisten, dessen Prätention gleichzeitig seine Musik erhebt, unmöglich macht. Gerade die artistische Sicherheit, mit der er die Unmöglichkeit einer positiv-ästhetischen Lösung der gesellschaftlich bedingten Antinomien anerkennt, damit aber die gesellschaftliche Antinomik selber, macht ihn dem Großbürgertum suspekt und provozierte bei seinen besten und exponiertesten Stücken, wie der Histoire du soldat, Widerspruch. Strawinskys Überlegenheit im Metier gegenüber allen anderen objektivistischen Autoren gefährdet die ungebrochene ideologische Positivität seines Stiles, wie sie die Gesellschaft von ihm verlangte: so wird auch bei ihm die artistische Folgerichtigkeit gesellschaftlich-dialektisch. Den Verdacht der herrschenden Mächte gegen großstädtische ›Atelier‹-Kunst, décadence und Zersetzung scheint er erst mit der gewalttätigen Theologie der Psalmensymphonie abgewehrt zu haben.
Es ist die wesentliche gesellschaftliche Funktion Hindemiths, den Objektivismus Strawinskys durch die Naivetät zu entgiften, mit der er ihn übernimmt. Sein Objektivismus gibt sich ungebrochenernst; die artifizielle Sicherheit wird zur handwerkerlichen Biederkeit, wobei die Idee des Handwerkers als eines ›Musikanten‹ wieder dem Ideal eines nicht-arbeitsteiligen Produktionsstandes entspricht, der in der Musik die Differenz von Produktion und Reproduktion nicht kenne; die satanische Ironie zum ›gesunden Humor‹, dessen Gesundheit auf den unreflektierten Naturstand des Objektivismus deutet, den das Grinsen der Strawinskyschen Masken verstörte, während der Humor, gegenüber der aggressiven, sei's avantgardistischen, sei's snobistischen Ironie, seine prinzipielle Versöhnlichkeit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen einbekennt. Die Strawinskysche Verzweiflung aber, eine sehr geschichtliche Verzweiflung, die in der »Histoire du soldat« bis zur Grenze der Schizophrenie getrieben ist, als Ausdruck einer Subjektivität, welche nur noch von Fetzen und Gespenstern der vergangenen objektiven Musiksprache erreicht wird – diese Verzweiflung moderiert sich bei Hindemith zu einer bloß naturhaften, ungelösten, aber auch undialektischen Schwermut, die auf den Tod als einen ewigen Sachverhalt blickt gleich manchen Intentionen der zeitgenössischen Philosophie, als ›existentiell‹ den konkreten gesellschaftlichen Widersprüchen ausweicht und damit dem anthropologisch-außergeschichtlichen Ideal des Objektivismus willig sich einordnet. Strawinsky hat die gesellschaftlichen Widersprüche in die künstlerische Antinomik aufgenommen und gestaltet; Hindemith verdeckt sie, und dafür gerät ihm die blinde Gestalt widerspruchsvoll. Der schärfere technische Blick, der die Oberfläche lückenlos ineinandergeschlossener Bewegungen und untrüglich instrumentensicherer Klangfaktur zu durchdringen vermag, wird allerorten der Brüchigkeit des Hindemithschen Verfahrens inne: der Differenzen zwischen zufälligem Motivmaterial und behaupteter Formgesetzlichkeit; zwischen der prinzipiellen Unwiederholbarkeit der Elemente und den Wiederholungsformen, die sie äußerlich zusammenfassen; zwischen der Terrassenarchitektur im großen und der Wahllosigkeit, mit welcher die Terrassen im einzelnen angelegt sind und angelegt sein müssen, eben weil die ›objektive‹ Architektur nicht, als eine vorgegebene, die einzelnen Produktionsmomente apriorisch umfängt, sondern ihnen von der kompositorischen Willkür aufgeklebt wird, falsche Fassade im Zeichen der neuen Sachlichkeit. Zufällig bleibt hier, wie bei Strawinsky und gewiß der Schar der Gefolgsleute, der Gehalt des Objektivismus; zufällig, das will sagen, auswechselbar nach dem wechselnden ideologischen Bedürfnis und nicht eindeutig vorgezeichnet von einer gesellschaftlichen Verfassung, die an keiner Stelle der ordo ist, für den die Musik zeugen möchte, sondern eine Klassenordnung, die die Musik im Zeichen ihrer Menschlichkeit verdecken soll. Bald wird bloße Formobjektivität ohne allen Gehalt, in ihrer Leere, als Gehalt ausgegeben, Objektivität um der Objektivität willen wie häufig bei Strawinksky, und dabei die dunkle Leere als irrationale Naturmacht gepriesen; bald wird sie, wie bei Hindemith, als Beleg einer Gemeinschaft angeführt, wie sie zwar als kleinbürgerlicher Protest gegen die kapitalistischen Mechanisierungsformen sich ausbilden und als Jugendbewegung auch auf die Produktion einwirken mag, dem kapitalistischen Produktionsprozeß aber lediglich ausweicht. Bald soll die Musik tönendes Spiel sein, das die Menschen entspannt oder ihre Gemeinschaft stiftet, bald soll sie als kultischer oder existentieller Ernst ihnen begegnen, wie in jenem Augenblick, als die Kritik von dem damals noch aggressiveren Hindemith ›Vertiefung‹ verlangte, welchem Verlangen er mit der Komposition des Rilkeschen Marienlebens entsprach. Die Gehalte des musikalischen Objektivismus sind so divergent wie die Interessen der herrschenden Mächte der Gesellschaft, und vollends eine Differenz wie die von Groß- und Kleinbürgertum – die Begriffe so vag gebraucht, wie es der Stand der gesellschaftlichen Erkenntnis einstweilen noch vorschreibt – spiegelt in den objektivistischen Produktionen sich deutlich wieder; die Frage nach der ›Vermittlung‹ wäre auch hier zu stellen. Gemeinsam ist den objektivistischen Musiken nur eines: die Intention der Ablenkung vom gesellschaftlichen Zustand. Den einzelnen will sie glauben machen, er sei nicht einsam, sondern mit den anderen in einer Verbundenheit, die die Musik ihm vorführt, ohne ihre gesellschaftliche Funktion zu bestimmen; die Gesamtheit will sie, durch ihre bloße Transformation ins tönende Medium, als eine sinnvolle, das individuelle Schicksal positiv erfüllende vorstellen. Grund und Sinn aber des Verbundenseins sind auswechselbar. Soweit die Intention der Ablenkung real gemeint und nicht bloß Spiegelung von Wünschen im isoliert-ästhetischen Bereich ist, darf sie als mißlungen gelten. Das Kleinbürgertum, um welches mit Singgemeinden und Spielgruppen, ›Musikantengilden‹ und Arbeitskollektiven der Objektivismus intensiv warb, hat für den Absatz völlig versagt. Die Not der kapitalistischen Krise hat die vom Objektivismus oder seinen Popularisatoren gemeinten Schichten auf andere, handlichere Ideologien verwiesen als die inhaltlich recht unbestimmten und kompliziert geschalteten des Objektivismus. Sie werden kaum Neigung spüren, den ›esoterischen‹ Schönberg vom ›musikantischen‹ Hindemith zu unterscheiden, beide mitsamt der Jazzmusik als kulturbolschewistisch ablehnen und sich ihrerseits an die auferstandenen Militärmärsche halten.
Es ist damit bereits das Wesentliche vorweggenommen zur gesellschaftlichen Problematik derjenigen Typen, die die Tatsache der Entfremdung nicht mehr im ästhetischen Bilde meistern, sondern real überwinden wollen durch Einrechnung des tatsächlichen gesellschaftlichen Bewußtseinsstandes ins kompositorische Verfahren: durch Verwandlung des musikalischen terminus a quo in einen gesellschaftlichen terminus ad quem. Zu solchem Verfahren tendiert auf seinen niedrigen Stufen merkbar bereits der Objektivismus; sprunglos verwandelt sich ihm die Forderung nach ästhetisch-immanent gemeinschaftsmäßiger Musik in die nach ästhetisch gehobener Gebrauchsmusik. Wenn solchem Verfahren und dem schlechten Ideal des Gehobenen gegenüber Kurt Weill als Repräsentant des musikalischen Surrealismus sich weit überlegen zeigt, so rührt das daher, daß er, in besserer Kenntnis des gesellschaftlichen Zustandes, nicht sowohl die positive Veränderung der Gesellschaft durch Musik als möglich annimmt als vielmehr ihre Enthüllung. Er präsentiert nicht den Menschen eine primitivierte Kunstmusik zum Gebrauch, er hält ihnen ihre eigene Gebrauchsmusik im Zerrspiegel seines künstlerischen Verfahrens vor und zeigt sie als Ware. Nicht umsonst steht der Stil der Dreigroschenoper und von »Mahagonny« der »Histoire du soldat« näher als Hindemith: ein Stil der Montage, welche die ›organische‹ Oberflächengestalt des Neoklassizismus aufhebt und Trümmer und Bruchstücke aneinander rückt oder die Falschheit und Scheinhaftigkeit, die heute an der Harmonik des 19. Jahrhunderts zutage kommt, real auskomponiert durch Zusatz falscher Töne. Der Choc, mit welchem Weills Kompositionsverfahren die gewohnten kompositorischen Mittel, überbelichtet, als Gespenster präsentiert, wird zum Schrecken über die Gesellschaft, aus der sie entspringen und zugleich zur Negation der Möglichkeit einer positiven Gemeinschaftsmusik, die im Gelächter der teuflischen Vulgär- als der wahren Gebrauchsmusik zusammenbricht. Mit den Mitteln vergangenen Scheines bekennt das gegenwärtige kompositorische Verfahren sich selbst als scheinhaft, und im grellen Schein wird die Chiffrenschrift eines gesellschaftlichen Zustandes lesbar, der nicht nur jede Beschwichtigung im ästhetischen Bilde verwehrt und samt seinen Widersprüchen darin wiederkehrt, sondern den Menschen so nah auf den Leib rückte, daß er nicht einmal Frage und Versuch des autonomen Kunstwerkes mehr zuläßt. Bewundernswert, welche qualitative Fülle von Ergebnissen Weill mit Brecht aus dieser Konstellation entwickelte, welche Neuerungen des Operntheaters im Blitzlicht von Momenten angelegt sind, die zugleich dialektisch sich gegen die Möglichkeit des Operntheaters überhaupt kehren. Fraglos ist Weills Musik heute die einzige von echter gesellschaftlich-polemischer Schlagkraft, solange sie auf der Spitze ihrer Negativität sich hält; sie hat sich auch als solche erkannt und eingeordnet. Ihre Problematik rührt daher, daß sich auf dieser Spitze nicht verbleiben läßt; daß der Musiker Weill den Bindungen einer Arbeitsweise auszuweichen trachten muß, die von der Musik aus notwendig ›literarisch‹ erscheint wie die Bilder der Surrealisten. Das Publikumsmißverständnis, das die Songs der Dreigroschenoper, die doch sich selbst und dem Publikum feind sind, friedlich als Schlager konsumierte, mag als Mittel dialektischer Kommunikation legitimiert sein. Der weitere Gang der Dinge aber läßt Zweideutigkeit als Gefahr erkennen: der vordem enthüllte Schein spielt in falsche Positivität, die Destruktion in Gemeinschaftskunst im Rahmen des Bestehenden hinüber, und hinter der höhnischen Primitivität wird, herbeigelockt von ihrer Schmerzlichkeit, der naturgläubige Primitivismus eines Rückgriffs nun nicht mehr auf alte Polyphonie, wohl aber auf Händelsche Homophonie sichtbar. Doch steht gerade der Experimentator Weill jeglichem Glauben ans unbewußt Organische so gründlich fern, daß sich damit rechnen läßt, er werde der Gefahr des Ungefährlichen nicht erliegen.
Ihr ist die Gemeinschafts- und Gebrauchsmusik im weitesten Umfang verfallen. Indem ihre Aktivität an der falschen Stelle, bei der Musik anstatt bei der Gesellschaft, ansetzt, versäumt sie beide. Denn das menschliche Miteinander, von dem sie ausgeht, ist in der kapitalistischen Gesellschaft fiktiv, und wo es etwa real sein mag, ohnmächtig gegenüber dem kapitalistischen Produktionsprozeß; die Fiktion von ›Gemeinschaft‹ in der Musik verbirgt ihn, ohne ihn zu verändern. Zugleich ist die Gemeinschaftsmusik innermusikalisch reaktionär: in gleicher Richtung wie der Objektivismus, nur weit gröber lehnt sie die dialektische Weiterbewegung des musikalischen Materials als ›intellektuell‹ oder ›individualistisch‹ ab und zielt auf einen schlechten, statischen Naturbegriff in der Restitution der Unmittelbarkeit: den ›Musikanten‹. Anstatt die – gewiß berechtigte – Kritik am Individualismus dialektisch zu üben und ihn mit der Korrektur seiner immanenten Widersprüche zu korrigieren, aber als notwendige Stufe der Befreiung der Musik für die Menschen anzuerkennen, wird hier allenthalben auf eine primitive, vorindividualistische Stufe rekurriert, ohne daß auch nur noch die neoklassizistische Frage nach der Umformung des Materials mehr gestellt wäre. Der gründende Irrtum liegt in der Auffassung der Funktion von Musik dem Publikum gegenüber. Dessen Bewußtsein wird verabsolutiert: in der kleinbürgerlichen Gemeinschaftsmusik als ›Natur‹, in der klassenbewußt-proletarischen, wie etwa Eisler sie vertritt, als proletarisches Klassenbewußtsein, das bereits heute und hier positiv genommen wird. Dabei ist verkannt, daß eben die Forderungen, nach denen hier die Produktion sich richten soll, Singbarkeit, Einfachheit, kollektive Wirksamkeit als solche, notwendig geknüpft sind an einen Bewußtseinsstand, der durch die Klassenherrschaft derart gedrückt und gefesselt ist – keiner hat das extremer formuliert als Marx –, daß er, soll sich die Produktion einseitig an ihm orientieren, zur Fessel der musikalischen Produktivkraft wird. Die immanent-ästhetischen Resultate der bürgerlichen Geschichte, auch der der letzten fünfzig Jahre, können nicht einfach von der proletarischen Kunsttheorie und -praxis beiseite geschoben werden, will sie nicht einen von der Klassenherrschaft produzierten Zustand in der Kunst verewigen, dessen Abschaffung in der Gesellschaft das unverrückbare Ziel des proletarischen Klassenkampfes ist. Dabei wird die Fügsamkeit der Gemeinschaftsmusik gegenüber dem gegenwärtigen Bewußtsein von diesem selber Lügen gestraft, weil es den Tonfilmschlager vom kleinen Gardeoffizier immer noch lieber gebraucht als eine populär gedachte Gemeinschaftsmusik zur Verherrlichung des Proletariats. Der agitatorische Wert und damit das politische Recht proletarischer Gemeinschaftsmusik wie etwa der Eislerschen Chöre steht außer Frage, und nur utopisch-idealistisches Denken könnte an ihrer Statt eine innerlich der Funktion des Proletariats angemessene, ihm selber aber unverständliche Musik fürs Proletariat fordern. Sobald aber diese Musik aus der Front der unmittelbaren Aktion heraustritt, reflektiert und sich als Kunstform setzt, ist unverkennbar, daß die produzierten Gebilde gegenüber der fortgeschrittenen bürgerlichen Produktion nicht standhalten und sich als fragwürdige Mischung aus Abfällen innerbürgerlich überholter Stilformen, selbst der kleinbürgerlichen Männerchorliteratur, und aus Abfällen der fortgeschrittenen ›neuen‹ Musik darstellen, die durch die Mischung um die Schärfe des Angriffs wie um die Bündigkeit jeder technischen Formulierung gebracht werden. Denkbar wäre an Stelle solcher Zwischenlösungen, daß man etwa in Umlauf befindlichen Melodien der bürgerlichen Vulgärmusik neue Texte unterlegte, um sie auf diese Art dialektisch ›umzufunktionieren‹. Immerhin verdient es Aufmerksamkeit, daß in der Figur des bislang konsequentesten proletarischen Komponisten, Eisler, die Schönbergschule, aus der er hervorging, mit Bestrebungen sich berührt, die scheinbar ihr konträr entgegengesetzt sind. Damit diese Berührung fruchtbar würde, müßte der Gebrauch seine Dialektik finden: es müßte die Musik sich nicht passiv-einseitig nach dem Stand des Verbraucherbewußtseins, auch des proletarischen, richten, sondern mit ihrer Gestalt selber aktiv ins Bewußtsein eingreifen.
II
Reproduktion, Konsum
Die Entfremdung zwischen Musik und Gesellschaft spiegelt in den Antinomien der musikalischen Produktion sich wider: als reale gesellschaftliche Tatsache wird sie greifbar am Verhältnis von Produktion und Konsumtion. Zwischen beiden vermittelt die musikalische Reproduktion. Sie dient der Produktion, die nur reproduziert unmittelbar gegenwärtig zu werden vermag, anders als toter Text verharrte; sie ist die Form jeglichen musikalischen Konsums, weil nur an reproduzierten Werken und nie an bloßen Texten die Gesellschaft Anteil gewinnen kann. Die Forderung der Produktion – als die nach Authentizität – und die der Konsumtion – als die nach Verständlichkeit – richten sich gleichermaßen an die Reproduktion und verschränken sich in ihr: das Postulat ›deutlicher‹ Wiedergabe des Werkes etwa kann ebensowohl von der sinngemäßen Darstellung des Textes wie von der Auffaßbarkeit für den Hörer her an die Reproduktion ergehen. Wenn dergestalt in den innersten Zellen der Reproduktion Produktion und Konsumtion sich begegnen, dann bietet Reproduktion den genauesten Schauplatz für die Konflikte, die sie miteinander auszutragen haben. Als Reproduktion entfremdeter Musik vermag sie die Gesellschaft nicht mehr zu erreichen; als Reproduktion für die Gesellschaft verfehlt sie die Werke. Denn konkrete Reproduktion hat es – wie die landläufige Kunstkritik stets wieder möchte vergessen machen – weder mit einem ewigen Werk an sich noch mit einem an konstante Naturbedingungen gebundenen Hörer zu tun, sondern mit geschichtlichen. Nicht bloß ist das Bewußtsein der Hörerschaft vom Wechsel der gesellschaftlichen Bedingungen abhängig; nicht bloß das der Reproduzierenden vom Stande der musikalischen Gesamtverfassung: die Werke selber haben ihre Geschichte und verändern sich in ihr. Ihr Text nämlich ist eine bloße Chiffrenschrift, die Eindeutigkeit nicht verbürgt und in der mit der Entfaltung der musikalischen Dialektik – die wieder gesellschaftliche Momente in sich faßt – wechselnde Gehalte erscheinen. Die Veränderung der Werke selbst stellt sich dar in der Reproduktion. Und zwar, im Zeichen der radikalen Entfremdung, als Schwinden der reproduktiven Freiheit. Die vorkapitalistische Reproduktion war beherrscht von Tradition: Tradition musikalischer Zünfte, Tradition oft auch einzelner Familien. Das traditionale Moment garantierte einen stetigen Zusammenhang zwischen der Musik und ihrer Hörerschaft in der Stetigkeit der Wiedergabe; das Werk stand nicht isoliert der Gesellschaft gegenüber, sondern in der Reproduktion behauptete sie Einfluß auf die Produktion, und bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also bis zur Beseitigung der Generalbaßpraxis durch die Wiener Klassik, gingen Produktion, Reproduktion, Improvisation ohne scharfe Grenze ineinander über; selbst ein so streng auskomponierter Formtyp wie die Bachische Fuge, die sich, Erbin der mittelalterlichen Polyphonie, der Generalbaßpraxis nicht unterworfen hatte, läßt dem Interpreten in Tempo und Dynamik, die im Text nur gelegentlich fixiert sind, volle Freiheit und gibt die Regelung einer Tradition anheim, die noch Jahrhunderte nach der Einführung der temperierten Stimmung irrational bleibt. All das ändert sich mit dem Sieg der bürgerlichen Klasse. Das Werk setzt sich selbständig und in einem rationalen Zeichensystem der Gesellschaft als Ware gegenüber; die Tradition der Interpreten und ihrer Zünfte reißt mit der Durchsetzung der freien Konkurrenz ab; die ›Schulen‹ werden zu Lern-und Gesinnungsgemeinschaften ohne Verbindlichkeit der übermittelten Lehrgehalte; die Restbestände traditionaler Musikübung, wie etwa Mahler in Wien sie vorfand, sind, nach seinem Wort, durchsichtig als ›Schlamperei‹. Der Eingriff des Interpreten ins Werk, in der Zeit vor der definitiven Verdinglichung der Werke jeweils möglich und selbst gefordert, wird zur schlechten Willkür, die die Authentizität des rational bezeichneten Werkes von sich fernhalten muß. Die Geschichte der musikalischen Reproduktion im letzten Jahrhundert hat die reproduktive Freiheit vernichtet. Der Interpret hat einzig noch die Wahl zwischen zwei Anforderungen rationaler Art; er muß entweder sich streng auf die Realisierung, allenfalls Entzifferung der genauen Sprache der musikalischen Zeichen beschränken, oder er muß den Wünschen entsprechen, die die Gesellschaft als Markt an ihn richtet und in denen die Gestalt des Werkes untergeht. Zwischen beiden Forderungen vermittelte im 19. Jahrhundert die ›Interpretenpersönlichkeit‹ als letztes musikalisches Refugium irrationaler Reproduktion im kapitalistischen Prozeß. Sie steht in deutlicher Beziehung zur Form der freien Konkurrenz und enthält so viel Irrationales in sich wie diese. Dem Werk dient sie, indem sie dessen Gehalte, im Rahmen des vorgezeichneten Textes und seiner Zeichen, nochmals gleichsam aus sich selbst hervorbringt; das wird möglich durch die Homogenität der Struktur von Autor und Interpret, die beide in gleicher Weise bürgerliche ›Individuen‹ sind und in gleicher Weise den ›Ausdruck‹ bürgerlicher Individualität vollbringen: Liszt, Rubinstein, beide expressive Komponisten und als Interpreten ›Nachschöpfer‹, sind Urbilder solcher Interpretation. Die Gesellschaft, der sie die Musik darbieten, ist ebenso individualistisch beschaffen wie sie; in ihnen erkennt sie sich wieder, in ihnen nimmt sie von den Werken Besitz, und in den Triumphen, die sie den Virtuosen, weit mehr als den Komponisten, bereitet, feiert sie sich selber. Es ist die entscheidende Veränderung, die die gegenwärtige musikalische Reproduktion dem 19. Jahrhundert gegenüber erfuhr, daß das Gleichgewicht von individualistischer Gesellschaft und individualistischer Produktion vernichtet, die Freiheit der Reproduktion vollends problematisch geworden ist und nirgends besser als hier mag an musikalischen Phänomenen der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus sich erkennen lassen. Zwar die ›Interpretenpersönlichkeit‹ besteht im Musikleben fort und dürfte gesellschaftlich wirksamer sein als je zuvor: aber ihre Funktion ist völlig geändert, und die Souveränität, mit der sie Werken und Publikum gleichermaßen gebietet, verbirgt diktatorisch den Sprung zwischen freiem Interpreten und Werk. Die musikalische Produktion aber, soweit sie dem Markt gegenüber Selbständigkeit behauptet, fordert gänzliche Unterordnung des Interpreten unter den Text, und diese Unterordnung bleibt nicht auf die gegenwärtige Produktion beschränkt, sondern wird zum notwendigen Postulat auch der vergangenen gegenüber, wofern nicht im Lichte der fortgeschrittensten Produktion die Wiedergabe der alten überhaupt unmöglich ist und die vergangenen Werke dem strengen Interpreten transparent und stumm vor Augen liegen. Indem Schönberg als Komponist die tonale Kadenz und alle in ihr entspringenden Formmittel beseitigte, entfielen auch die ihnen als selbstverständlich zugeordneten und darum nicht ausdrücklich vermerkten Mittel der Darstellung, deren Selbstverständlichkeit gerade dem früheren Interpreten seine Freiheit garantierte. Jetzt ist der Text bis zur letzten Note und bis zur unmerklichsten Temponuance bezeichnet, und der Interpret wird zum Exekutor des eindeutigen Autorenwillens. Wenn solche Strenge bei Schönberg dialektisch in der Strenge eines Kompositionsverfahrens entspringt, nach welchem ohne alles vorgegebene und sozial garantierte Material die Musik gänzlich ›auskomponiert‹ wird, dann ist bei den minder genau bezeichneten Notentexten Strawinkskys, undialektisch zwar, doch mit ähnlichem Ergebnis, die Freiheit des Interpreten ausgeschlossen durch Stil und ›Geschmack‹ eines Objektivismus, der sich zwar nicht rein auskonstruiert, aber doch vom Interpreten gänzliche Unterordnung unter seine objektive Attitüde verlangt und diese Unterordnung, wenn sie schon nicht in Komposition und Zeichengebung festgelegt ist, wenigstens in einer affektlosen, dem Spiel mechanischer Instrumente angeglichenen Vortragsweise zum Ausdruck bringen möchte. Die Verbesserungen und Erfindungen im Bereich der mechanischen Musikinstrumente, die eine präzisere Wiedergabe jedenfalls als die durch mittlere und unkontrollierte ›freie‹ Interpreten gewährleisten, mögen dabei das Reproduktionsideal mitgeformt haben, und jedenfalls bekräftigt es die Ansprüche gesellschaftlicher Deutung der musikalischen Reproduktionsverhältnisse, daß deren immanente Problematik die gleiche Einschränkung der reproduktiven Freiheit, die gleichen Tendenzen zu Technisierung und Rationalisierung zeitigte, welche von außen mit der gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung: durch Vervollkommnung der Maschinen und Ersatz der menschlichen durch mechanische Arbeitskräfte musikalisch aktuell wurden. Diese Tendenzen blieben nun nicht auf die Wiedergabe zeitgenössischer Musik beschränkt. Die geschichtliche Veränderung der Werke im Rahmen ihrer mehrdeutigen Texte spielt sich nicht beliebig ab, sondern gehorcht strikt den Erkenntnissen, die im Raum der musikalischen Produktion gewonnen sind. Genauerer Anschauung unterworfen, fordert ältere und zumal die ›klassische‹ deutsche Musik, um so realisiert zu werden wie ihre Konstruktion heute dem Auge sich darbietet, die gleiche strenge, jegliche improvisatorische Freiheit des Interpreten verwehrende Wiedergabe wie die neueste. Die Forderung sachlich adäquater Wiedergabe der Werke hat sich dabei von dem – ohnehin schwer kontrollierbaren – Willen der Autoren ganz emanzipiert und gerade in solcher Emanzipation kommt der geschichtliche Charakter von Reproduktion bündig zutage. Wollte man etwa eine frühere Beethovensche Klaviersonate so ›frei‹, mit so willkürlich-improvisatorischen Veränderungen zumal der Grundzeitmaße der einzelnen Sätze spielen, wie es, nach zeitgenössischen Berichten, der Pianist Beethoven tat – vor der heute erst, durch die spätere Produktion, ganz erkennbaren konstruktiven Einheit solcher Sätze müßte die scheinbar authentische Interpretationsweise schlechterdings als sinnwidrig sich darstellen.
Indem nun aber in der immanenten Auseinandersetzung mit den Werken fortgeschrittenste, am aktuellen Stande der Produktion orientierte Interpretation zur Idee ihrer Selbstaufhebung gelangt und sich zwangsläufig, gerade in den besten Repräsentanten, auf die reine Wiedergabe der Werke konzentriert, kommt es zum offenen Konflikt mit der Gesellschaft, mit dem Publikum, das sich durch den Interpreten im Werk vertreten fühlt und durch dessen Opfer nun ausgeschlossen wird. Schärfer noch der Reproduktion als der Produktion gegenüber zeigt sich die Ambivalenz der Gesellschaft im Verhältnis zur Rationalisierung. Mit der Vervollkommnung der technischen Mittel zum Zweck der Ersparnis von Arbeitskräften, mit der fortschreitenden Verselbständigung der Musik als einer gegen abstrakte Einheiten tauschbaren Ware, die sich schließlich von der Gesellschaft ablöst, hat die bürgerliche Gesellschaft den musikalischen Rationalisierungsprozeß nicht bloß befördert, sondern überhaupt erst ermöglicht; die Konsequenzen der Rationalisierung aber greifen den Bestand der bürgerlichen Ordnung in ihren Grundkategorien an, und vor ihnen weicht sie zurück in eine Begriffswelt, die nicht bloß die immanent-musikalische, sondern auch die immanent-bürgerliche Wirklichkeit längst hinter sich zurückließ, die aber dafür wieder zur ideologischen Verhüllung der monopolkapitalistischen Entwicklung der Gesellschaft sich als besonders tauglich erweist. Die Rationalisierung musikalischer Produktion und Reproduktion, Resultat der gesellschaftlichen, wird als ›Entseelung‹ perhorresziert, wie wenn man fürchtete, die Irrationalität des gesellschaftlichen Zustandes, die aller ›Rationalisierung‹ zum Trotz sich behauptet, werde im Lichte radikalerer künstlerischer Rationalität allzu deutlich; die ›Seele‹ wird dabei stillschweigend der bürgerlich-unabhängigen Privatperson gleichgesetzt, deren Recht man ideologisch um so sichtbarer statuieren möchte, je mehr es ökonomisch-gesellschaftlich in Frage gerückt ist. Die plattesten Antithesen sind dem Konsumentenbewußtsein recht, um sich vorm Zugriff der ihrem Erkenntnischarakter nach aktuellen Reproduktion zu schützen und eine Art des Musizierens zu gewährleisten, deren Hauptfunktion es ist, mit Traum, Rausch und Versenkung die Realität zu verbergen und den Bürgern im ästhetischen Bilde eben jene Triebbefriedigungen zu verschaffen, die die Realität ihnen verwehrt; für die aber das Kunstwerk mit dem Preis seiner integralen Gestalt zu zahlen hat. Organik wird da gegen Mechanik, Innerlichkeit gegen Leere, Persönlichkeit gegen Anonymität ausgespielt. Der Objektivismus hat, in seiner konzilianteren deutschen Form, versucht, solchen Einwänden, wie sie gegen die rationale Reproduktion laut werden, von der Produktionsseite aus zu begegnen, indem er die verlorene reproduktive Freiheit oder wenigstens deren Schein als ›Musikantentum‹ in den Text aufnahm und den Text derart aus den instrumentalen Spielweisen entwickelte, als ob die freie Möglichkeit von Reproduktion die Produktion selber erst ermöglichte. Der Scheincharakter dieses Vermittlungsversuches kommt daran zutage, daß die Funktionen, die gerade die Reproduktion erfüllen müßten, der Produktion überantwortet werden; damit bleibt der ›Text‹ und die dingliche Komposition für das ›Musizieren‹ die letzte Instanz, und das Musikantentum ist bloße ornamentale Zutat zur Komposition. Die Musiziermusik war denn auch dem Publikum gegenüber unwirksam genug. Zum Vollstrecker von dessen Willen wurde dafür die gleiche ›Interpretenpersönlichkeit‹, die im 19. Jahrhundert dem Durchbruch des individuellen Ausdrucks in der Musik gedient hatte und deren Funktion nun drastisch verändert ist. Sie muß eine doppelte Aufgabe erfüllen. Einmal muß sie, mit der Souveränität ihrer ›Auffassung‹, die verlorene Kommunikation zwischen Werk und Publikum herstellen, indem sie die Gestalt des Werkes in einer Art von Vergrößerung oder Überplastik hervortreibt, die zwar dem Werke unangemessen sein mag, dafür aber dessen affektive Wirkung auf das Publikum sicherstellt. Dann aber muß sie das Werk als Ausdruck einzelmenschlicher Dynamik und privater Beseeltheit, der es doch nicht mehr ist, beschwören; die Fähigkeit, Werke in einer Gestalt heraufzuholen, die sie längst nicht mehr haben und vielleicht niemals besaßen, ist es vor allen anderen Eigenschaften, die den ›prominenten‹ Dirigenten auszeichnet. Die Wunschbilder von vitaler Fülle und ungebundenem Schwung, von beseelter Organik und unmittelbarer, nichtverdinglichter Innerlichkeit spendet er leibhaft denen, welchen die kapitalistische Wirtschaft real die Erfüllung aller solcher Wünsche versagt; und bestärkt sie zugleich im Glauben an ihre eigene Substanz, welche eben die unsterblichen, soll sagen: unveränderlichen Werke hervorbrachte, die er beschwört, über die sie kraft ihrer Bildung ebenfalls verfügen und die sie als Fetisch zugleich verehren. Der zeitgenössischen Produktion steht er – im strikten Gegensatz zu den Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert – fremd oder ablehnend gegenüber, demonstriert einmal ein modernes Werk als abschreckendes Beispiel oder läßt allenfalls die neue Musik als Übergang zur Restauration der alten Seelenkunst gelten, hält sich aber sonst an die heroisch-bürgerliche Vergangenheit – Beethoven – oder an einen Autor wie Bruckner, der den Pomp der gesellschaftlichen Veranstaltung mit dem gleichen Anspruch auf Beseeltheit und Innerlichkeit vereint, welcher der des prominenten Interpreten ist. Daß derselbe Dirigententyp, der unersättlich-versunken das Adagio aus Bruckners Achter zelebriert, wie ein Konzernherr darauf auszugehen pflegt, möglichst viele Organisationen, Institute und Orchester in seiner Hand zu vereinen, ist das genaue gesellschaftliche Korrelat zur individuellen Beschaffenheit einer Figur, die im Kapitalismus musikalisch Trust und Innerlichkeit auf den gemeinsamen Nenner zu bringen hat. Und daß in der Typengeschichte des gegenwärtigen prominenten Interpreten der Dirigent, der ungebunden und widerspruchslos den Orchestermechanismus beherrscht, die freie Konkurrenz der instrumentalen und vokalen Virtuosen zurückdrängte; daß es gerade ein einzelner, eben eine ›Persönlichkeit‹ ist, die über Musik und Publikum gleichermaßen gebietet und im Namen des Publikums, aber ohne dessen Willen und mit Kommandogesten die Vergangenheit zitiert; daß schließlich sein Erfolg gerade von der Geste des Befehls getragen wird, mit der er dem Publikum begegnet – das alles zeigt vollends den einzelnen, der angeblich die Mechanisierung überwindet, als den Monopolherren, der den rationalmechanischen Apparat der Einsicht der Individuen entzieht, um im eigenen Interesse darüber zu verfügen. Seine ideologische Herrschaft wird getragen vom Ruhm, in welchem die Gesellschaft seine restaurativ-reproduktive Leistung wieder und wieder reproduziert. So genau ist das Klassenbewußtsein auf das ihm angemessene Interpretenideal eingestimmt, daß es Interpreten, die ihm nicht entsprechen, mag immer deren sachliche Qualität und selbst Suggestivkraft unbestreitbar sein, beseitigt; im Vorkriegswien nicht anders als im gegenwärtigen Mailand und Berlin.
Die Forderungen der gegenwärtigen Gesellschaft an eine Musik, die ihr, als ihre Ideologie, Genüge leisten soll, so wie sie im Problembereich der Reproduktion an der Figur der ›Interpretenpersönlichkeit‹ dialektisch zutage kommen – diese Forderungen sind es, die den offiziellen, von der Instanz der Bildung sanktionierten musikalischen Konsum der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt beherrschen. In ihrem ›Musikleben‹, wie es in den Opernhäusern und Konzertsälen seine traditionale Stätte einstweilen noch behauptet, hat die bürgerliche Gesellschaft mit der entfremdeten Musik eine Art von Waffenstillstand geschlossen und verkehrt mit ihr in vorsichtigen und genau regulierten Formen. Freilich ist der Waffenstillstand beliebig kündbar: das ›Musikleben‹ reagiert prompt und exakt auf jede Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Bürgertum. So hat etwa die Expropriation der gehobenen Mittelschichten durch Inflation und Krise diese Schichten aus den Opern und Konzerten verscheucht und an die Radioapparate verbannt, deren Zerstreutheit wieder die Atomisierung des Bürgertums, den Ausschluß der bürgerlichen Privatperson von den öffentlichen Dingen adäquat ausdrückt: vorm Lautsprecher ist der Bürger ökonomisch und musikalisch dem Monopol, sei's auch dem ›gemischtwirtschaftlichen Betrieb‹, überantwortet. Weil das Musikleben dergestalt die innerbürgerlichen Strukturänderungen unmittelbar registriert, ist die Analyse gehalten, die immanenten Differenzen und Widersprüche des Bürgertums einzurechnen. In einer Sphäre, in der der autonome Anspruch der isolierten Kunstwerke bereits gebrochen und durch den Marktbedarf ersetzt ist, vermöchte hier Statistik wesentliches Material zur gesellschaftlichen Deutung zu gewinnen. Solches Material liegt nicht vor. Immerhin darf Beobachtung einige Befunde beistellen. Was zunächst die Oper anlangt, so hat sie auch als Konsummittel ihre Aktualität eigentlich verloren. Die Funktion, die ihr im 19. Jahrhundert vorab zukam, die der Repräsentation, ist ihr jedenfalls für den Augenblick genommen: die depossedierten Mittelschichten haben weder ökonomisch die Kraft, solche Repräsentation zu stützen, noch bilden sie mehr eine kulturelle Einheit, die so sublimierter Repräsentationen fähig wäre, wie es die des Operntheaters einmal waren; allenfalls gedenken sie in den ›Meistersingern‹ ihrer glücklicheren Jahre. Die Großbourgeoisie aber, die repräsentieren kann und will, vermeidet es, als herrschende und ökonomisch leistungsfähige Schicht sich allzu offen darzustellen; ihre Repräsentationen behält sie einstweilen exklusiveren Zirkeln vor als denen in den Logen, die für jedes Opernglas erreichbar sind; sie ist zudem am Opernrepertoire desinteressiert und schafft sich ihre musikalischen Domänen lieber in den großen Konzertgesellschaften, die sie ökonomisch und programmpolitisch beherrscht, ohne sich allzuweit zu exponieren. Immerhin ließe sich denken, daß bei fortschreitender politischer Ausbildung der monopolkapitalistischen Herrschaftsformen die Oper nochmals einiges vom alten gesellschaftlichen Glanze zurückgewönne. Einstweilen wird sie teils von Abonnenten aus der älteren Generation der ›gebildeten‹ Mittelschichten besucht, die in ihr die eigene Vergangenheit, den triumphalen Bürgerrausch besonders Wagners zitieren und zugleich, indem sie bei einer Kunstform stehen bleiben, die in der Breite der Produktion von den gesellschaftlichen Veränderungen wenig berührt ward, gegen die künstlerischen Neuerungen und deren gesellschaftliche Intentionen insgesamt protestieren. Teils auch füllen die Opern Angehörige solcher bürgerlichen Kreise, die, wie manche Kleinhändler und auch handwerkerlich-zünftlerische Berufe, ökonomisch noch einen gewissen Standard behaupten, von der ›Bildung‹ aber durch Ursprung und Erziehung ausgeschlossen sind. Es ist das jener Typ des Opernbesuchers, der sich zwar freut, den Marsch aus ›Aida‹ und die Arie der Butterfly wieder zu hören, die ihm aus Kino und Café vertraut und seiner musikalischen Schulung angemessen sind; der aber zugleich seiner tatsächlichen ökonomischen Stellung und der Möglichkeit gesellschaftlichen Aufstiegs schuldig zu sein glaubt, solche Konsumstücke an einer Stelle entgegenzunehmen, die vom alten bürgerlichen Bildungsideal geweiht ist und an der anwesend zu sein dem Besucher, wenigstens in seinen eigenen Augen, etwas von der Würde der Bildung verleiht. Der Anteil dieses – freilich sehr modifizierbaren – Typus am Opernpublikum darf als recht erheblich vermutet werden. Charakteristisch ist der völlige Ausfall der jüngeren großbürgerlichen Generation, der gesamten Intellektuellenschicht und der Angestelltenschaft. Die entworfene Struktur ist vorab die des Publikums der Provinzopern. In den großstädtischen Zentren, Berlin, auch Wien, ist einerseits durch den ausgebildeteren Mechanismus der Zerstreuung das Bürgertum weiter noch von der Oper abgelenkt, so daß die Mittelschichten für die Oper weniger in Betracht kommen als in der Provinz. Andererseits wird der Oper, im Namen wirklich vorhandener oder fiktiver ›Fremder‹, eine repräsentative Dignität zugesprochen, die die Großbourgeoisie enger an sie fesselt und gelegentlich Opernvorstellungen als ›gesellschaftliche Ereignisse‹ möglich macht.
Größer ist die Funktion der Konzerte im Haushalt des Bürgertums. Die krude Stofflichkeit der Oper fehlt im Konzert. Sie ist barockes Erbgut, das durch die Verlagerungen der Gewichte innermusikalischer Entwicklung von der vokalen auf die instrumentale Seite in den letzten Jahrhunderten sich weithin unberührt erhielt: der Anteil der Oper am bürgerlichen Humanismus und Idealismus ist bloß mittelbar und einzig in den größten Werken der Gattung, bei Mozart, im Fidelio, im Freischütz fraglos. Gerade die Stofflichkeit bindet die unteren Mittelschichten an die Oper, die in ihr ein Ähnliches wie eine Regression in vorbürgerliche Zustände vollziehen mögen. Die gleiche Stofflichkeit aber schreckt die Oberschicht, als ›naiv‹, ›primitiv‹, ›roh‹, zurück. Sei es, daß sie in der vorbürgerlichen und jedenfalls nichtbürgerlichen Stoffwucht des Operntheaters, die stets politisch sich zu aktivieren vermöchte, die Gefahr wittert; sei es, daß sie ein Interesse daran hat, den Charakter der Wirklichkeit als einer Welt bloßer Dinge zu verbergen, wie ihn die Oper mit unbekümmerter Entdeckerfreude manifestiert – zu verbergen, gerade weil er stets noch der Charakter der bürgerlichen Wirklichkeit selber ist: die Oberschicht weicht davor in eine ›Innerlichkeit‹ aus, die ihr um so genehmer ist, je weiter sie sich von den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Einsicht in deren Widerspruch distanziert; und die sich musikalisch sogar repräsentieren und mit dem Schein unmittelbarer Kollektivität bekleiden läßt. Das Großbürgertum liebt die Konzerte, und die humanistisch-idealistische Bildungsideologie, die es in den Konzertsälen – ohne sie selbst zu durchschauen – pflegt, lockt die Bildungsschicht im weitesten Umfang, bis zu deren depossedierten und kleinbürgerlichen Vertretern, ebendorthin. Die Zweiheit von ›Bildung und Besitz‹, die in den Konzertsälen ideologisch sich versöhnt, prägt in der Doppelheit der Orchester zahlreicher Städte sinnfällig sich aus: während die ›Philharmoniker‹ in teuren Konzerten, deren Exklusivität durch das Stamm-Abonnement-System garantiert ist, mit ruhmreichen auswärtigen Stars und einer überaus begrenzten Zahl sanktionierter, gleichsam zeremonialer Werke für das Großbürgertum spielen, dienen die ›Symphonieorchester‹, mit vorsichtig dosierten Novitäten im traditionalistischen Programm, mit der Einbeziehung von einheimischen, ›bodenständigen‹ Kräften und mit billigen Preisen der mittleren Bildungsschicht, solange die Lage der Wirtschaft es ihnen noch gestattet. Die Solistenkonzerte, deren Zahl wegen des Risikos für die Konzertgeber einschrumpft und denen nicht mehr die alte Teilnahme begegnet, die auch gerade durch die Reduktion ihrer Anzahl dem öffentlichen Bewußtsein mehr und mehr entschwinden, beschränken sich zusehends auf den Kreis der monopolisierten Stars. Konzerte, die, wie die Veranstaltungen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, ostentativ die gegenwärtige selbständige Produktion vertreten, demonstrieren deren Isoliertheit mit ökonomischer Drastik; sie werden, gleichviel welche Richtung der Moderne sie propagieren, fast nur noch von Musikern besucht, die ihre Karten nicht bezahlen; treten also aus der Sphäre der musikalischen Produktion nicht heraus und sind wirtschaftlich gänzlich unproduktiv: Zuschuß- und Defizitunternehmungen. Die wenigen Amateure, die sie stützten, Bürger meist, die nicht oder nicht mehr unmittelbar am wirtschaftlichen Produktionsprozeß teilhaben, hat die Wirtschaftskrise ausgeschaltet. Einen ›Konsum‹ Neuer Musik gibt es überhaupt nicht. Soweit sie noch zur Reproduktion gelangt, wird es ihr möglich durch ökonomisch kaum eben tragfähige Organisationen der Künstler untereinander oder durch politisch gefärbte internationale Meetings, die sich als fiktiv erweisen, sowohl was die Stellung der einzelnen Staaten zur aktuellen musikalischen Produktion wie ihr Interesse an ›geistigem Austausch‹ anlangt, und denen lange Fortdauer nicht mehr prognosziert werden kann. Indem diese Meetings aus ökonomischen Rücksichten an der Fiktion des Konsums und ›Austauschs‹ liberalistisch festhielten, haben sie sich durch die Kompromisse ihrer Programmpolitik auch musikalisch-immanent um jede Verbindlichkeit gebracht.
Das Bewußtsein der Konsumenten des offiziellen Musiklebens ist nicht blank auf die Formel zu bringen. Die Rede vom ideologischen Charakter des bürgerlichen Musikkonsums bedarf der Erläuterung. Sie ist nicht so zu verstehen, als liege dem Musikkonsum kein realer Bedarf zugrunde; als sei das ganze Musikleben nichts als eine Art tönender Kultur-Kulisse, die die bürgerliche Gesellschaft zur Täuschung über ihre wahren Zwecke errichte, während hinter der Szene ihr eigentliches, ökonomisch-politisches Leben sich abspiele. Wieviel auch immer das Musikleben von solchen Funktionen übernehmen mag, wie hoch auch der Anteil von Repräsentation, von spezifisch ›gesellschaftlichen‹, nämlich vom musikalischen Bedarf abgelösten Zwecken am Musikleben angeschlagen werden muß: daran ist es nicht genug. Vielmehr ist die ideologische Macht des Musikkonsums um so größer, je weniger er als bloßer Schein und dünne Oberfläche durchschaubar ist; je genauer er mit tatsächlichen Bedürfnissen kommuniziert, aber derart, daß mit ihm ein ›falsches Bewußtsein‹ produziert, die gesellschaftliche Lage für die Konsumenten verhüllt wird. Das Bedürfnis nach Musik ist in der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden und wächst mit der Problematik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Individuen nötigt, ihre Befriedigung außerhalb einer unmittelbaren gesellschaftlichen Wirklichkeit zu suchen, die sie ihnen versagt. Diese Befriedigung gewährt ihnen das Musikleben ›ideologisch‹, indem es ihre – dialektisch produzierte – Tendenz, aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu fliehen oder sie sich umzudeuten, aufnimmt und ihnen Gehalte entwirft, die die gesellschaftliche Wirklichkeit nie besaß oder längst verlor und an denen festzuhalten objektiv die Intention in sich einschließt, eine Veränderung der Gesellschaft zu hintertreiben, welche notwendig eben jene Gehalte entlarven müßte. Gerade daß das ›Musikleben‹ die Bedürfnisse des Bürgertums so adäquat befriedigt, – daß es aber in der Form der Befriedigung das bestehende Bewußtsein anerkennt und stabilisiert, anstatt in seiner eigenen Form die gesellschaftlichen Widersprüche aufzudecken, zu gestalten und in Erkenntnis über die Beschaffenheit der Gesellschaft umzusetzen: das macht das ideologische Wesen des Musiklebens aus. Wenn Nietzsche den ›Rausch‹, den Musik hervorrufe, einen unfruchtbaren, schwer aktivierbaren Rausch, als unrein und gefahrvoll verwarf, so hat er, bei aller Fragwürdigkeit seiner Kategorien und eines umstandslos an Wagner orientierten Musikbildes, jedenfalls den Zusammenhang von Bedürfnisbefriedigung und ideologischer Vernebelung richtig erkannt, welcher das Gesetz der bürgerlichen Musikübung ausmacht, und hat auch das Unbewußte als Schauplatz jenes Zusammenhanges visiert. Im Schutz des Unbewußten vollzieht sich der Umgang des Bürgertums mit der Musik: der legale des ›Musiklebens‹ und mehr noch der illegale mit der ›leichten‹ Musik. Die Unbewußtheit des Verhältnisses garantiert zugleich auch den Fetischcharakter der Musik-Dinge; Ehrfurcht, aus dem theologischen Bereich schief genug ins ästhetische projiziert, verbietet die bewußte, ›analysierende‹ Beschäftigung mit Musik, deren Auffassung dem ›Gefühl‹ vorbehalten bleibt: die Unkontrollierbarkeit der privat-bürgerlichen Reaktionsweisen und die fetischhafte Isolierung der musikalischen Gestalt selber korrespondieren miteinander. Jede technologische Besinnung, die mit dem musikalischen Gefüge etwa auch dessen gesellschaftliche Funktion erhellen könnte, wird im Namen des Gefühls verwehrt, dafür aber die Kenntnis allgemeiner und unverbindlicher Stilbegriffe im Namen der Bildung gefordert. Ehrfurcht und Gefühl heften sich an Zelebritäten der Vergangenheit, vor denen Kritik und Frage verstummt und in denen zugleich die bürgerliche Gesellschaft ihren eigenen Ursprung als den von Heroen zu behaupten liebt. Heute, da die offizielle Musikkultur in der rationalisierten Gesellschaft vorab zur Apologie verpflichtet ist, nutzt sie gleichermaßen bürgerlich-revolutionäre Objektivität – ›Klassik‹ – und bürgerlich entsagende Subjektivität – ›Romantik‹ –; die Verherrlichung des Sieges der bürgerlichen ratio ebensogut wie das Leiden des einzelnen unter ihrer Alleinherrschaft ist Gegenstand des bürgerlichen Musiklebens und in seinen kanonischen Werken ausgedrückt; die Ambivalenz eines Gefühls, das an Klassik und Romantik gleichermaßen sich sättigt, ist die des Bürgertums seiner eigenen ratio gegenüber. Jenseits der Spannung rational konstituierter Objektivität und irrational betonter, privater Innerlichkeit registriert das Bürgertum im ›Musikleben‹ noch die Phasen seines hochkapitalistischen Aufschwungs. In den ›Meistersingern‹, einem der aufschlußreichsten und nicht umsonst gesellschaftlich beliebtesten Werke, wird der Aufstieg des bürgerlichen Unternehmers und seine ›national-liberale‹ Versöhnung mit der Feudalität in einer Art von Traumverschiebung thematisch. Der Wunschtraum des ökonomisch arrivierten Unternehmers läßt nicht ihn vom Feudalherren, sondern den Feudalherren vom reichen Bürgertum rezipiert werden; der Träumende ist nicht der Bürger sondern der Junker, dessen Traumlied zugleich, gegenüber dem rationalen Regelsystem der bürgerlichen ›Meister‹, die verlorene, vorkapitalistische Unmittelbarkeit wiederherstellt. Das Leiden des bürgerlichen Individuums unter der eigenen und zugleich entfremdeten Wirklichkeit, die Tristanseite der Meistersinger, vereint sich, im Haß gegen den Kleinbürger Beckmesser, mit dem Bewußtsein des weltwirtschaftlich-expansiv gerichteten Unternehmers, der die bestehenden Produktionsverhältnisse als Fesseln der Produktivkräfte erfährt und vielleicht bereits, im romantischen Bilde des Feudalherren, das Monopol an Stelle der freien Konkurrenz ersehnt: wie es denn tatsächlich auf der Festwiese nicht mehr zu einer Konkurrenz, sondern bloß deren Parodie in der Auseinandersetzung zwischen Junker und Beckmesser kommt. In dem ästhetischen Triumph Sachsens und des Junkers sind die Ideale des Privatiers und des Exporteurs noch gegeneinander ausbalanciert. Bei Richard Strauss, dem letzten bedeutenden bürgerlichen Komponisten, dessen Musik das Bürgertum konsumiert, hat, wie bereits Ernst Bloch erkannte, die Weltwirtschaft die Oberhand gewonnen. Innerlichkeit und Pessimismus sind liquidiert. Der ›Schwung‹, als Unternehmergeist, emanzipiert sich. Chromatik und Dissonanz, vordem Mittel der Befreiung der bürgerlichen Musik aus einem vorgesetzten, irrationalen System und Träger einer Dialektik, die das Material angreift und verändert, verlieren die revolutionär-dialektische Kraft und werden, wie Exotik und Perversität in den Sujets, zum bloßen Emblem weltwirtschaftlicher Freizügigkeit; technisch beliebig als Kleckse verwandt, die in jeder Sekunde vom gesunden Optimismus der Quartsextakkorde getilgt werden können. Das Material, das in Straussens Musik schließlich hervortritt, ist gewissermaßen das Urmaterial aller bürgerlichen Musik, das diatonisch-tonale, das das Bürgertum trotz aller Strukturänderungen in Wahrheit so treu festhielt wie das Prinzip der Profitrate und das bei Strauss, indem es sich die fremden Märkte Literatur, Orient, Antike und dix-huitième unterwirft, mit einigem Zynismus auftritt. Die Divergenz zwischen dem phrasenhaft-vielberufenen ›technischen Raffinement‹ Straussens, nämlich einer von außen gesetzten, nicht material-immanenten, sondern zufälligen und eigentlich irrationalen ›Beherrschung‹ der Apparatur – und einer historisch unberührten, harmlosen, feuchtfröhlichen Musiksubstanz: diese Divergenz mag nicht bloß dem empirischen Bewußtseinsstand des großbürgerlich-industriellen Unternehmers um 1900 recht angemessen sein: sie zeichnet auch wieder deutlich die Selbstentzweiung des Bürgertums seiner ratio gegenüber ab, die es zugleich steigern und bremsen muß. Immerhin ist in der nachwagnerischen Musiksituation, durch die gesellschaftliche Entwicklung und die immanente Dialektik des Wagnerschen Werkes, die Entfremdung von Musikmaterial und Gesellschaft bereits so weit gediehen, daß eine Produktivkraft wie die Strauss'sche nicht umstandslos die materialen Forderungen ignorieren und der Gesellschaft sich gefügig zeigen konnte. In seinen besten Werken, Salome und Elektra, ist zwar die Divergenz ebenfalls angelegt; in der Jochanaanmusik wie in den gesamten Schlußpartien der Elektra behauptet sich Banalität, aber am Anfang der Salome, im Elektramonolog und der Klytemnästraszene verselbständigt sich gleichsam sein Kompositionsmaterial und stößt, gegen seinen Willen, hart an die Grenze des tonalen Raumes. Die Grenze ist zugleich die des Konsums: von beiden Werken fühlte das Publikum musikalisch wie stofflich sich chokiert und verweigerte ihnen, wenn schon nicht alle Opernhäuser, doch den sicheren Platz im Repertoire. Nach Strauss hat es Schluß gemacht und der Schlußstrich tangiert sein oeuvre. Aber er hat ihn selber gezogen. Von allen Komponisten des Bürgertums vielleicht der klassenbewußteste, hat er mit dem »Rosenkavalier«, seinem größten Erfolg, die materiale Dialektik selber von außen abgebrochen, die Diatonik von allen gefährlichen Fermenten gesäubert und den Jungen Herrn aus großem Hause, gerade eben noch eine Hosenrolle, mit der Tochter des Reichen Neugeadelten vermählt, während die Marschallin, Erbin Hans Sachsens und Isoldens zugleich, das Nachsehen hat und Trost im abstrakten Bewußtsein von Vergänglichkeit. Mit dem sacrificium intellectus ans Konsumentenbewußtsein erlischt die Straussische Produktivkraft: was auf den Rosenkavalier folgt, ist Kunstgewerbe. – Der Bruch von Produktion und Konsumtion, dem Strauss als Produzierender zum Opfer fiel, hat zunächst nur in Deutschland die extreme Gestalt angenommen. In Frankreich, wo der Industrialisierungsprozeß minder weit getrieben war und damit die Antinomien der bürgerlichen Ordnung sich minder radikal ausprägten, stimmen beide länger zusammen. Das musikalisch interessierte Bürgertum, im Besitz ausgiebigerer Freizeit und durch die Malerei des Impressionismus geschult, vermag der Bewegung weiter zu folgen; die Musik, nicht isoliert noch und nicht dialektisch in sich durch die Polemik zur Gesellschaft, kann ihre Mittel sublimieren, ohne sie substantiell anzugreifen. Noch Debussy, autonomer Künstler gleich den impressionistischen Malern, deren Technologie er in die musikalische transponiert, darf als Klang und Wohllaut Elemente der bürgerlichen Genuß- und selbst Salonmusik mitnehmen ins wählerischste artistische Verfahren. Freilich tritt bei ihm wie bei Strauss, auch theoretisch: im Dogma von den natürlichen Obertönen und der daraus entspringenden Rousseau-Parole, als Resultat aller Sublimierung das musikalische Urmaterial des Bürgertums, die Diatonik, kahl und archaisch hervor, und der wissende Ravel dann weiß sich nicht anders damit abzufinden als psychologisch-literarisch: durch zärtliche Ironie. Damit ist aber auch in Frankreich die Versöhnung am Ende. Die Komponisten der nach-Ravelschen Generation dort zeigen den verdächtigsten Mangel, der französischen Künstlern widerfahren kann: den an Metier. Die Tradition, die lange noch bewahrte, ist abgerissen; die isoliertmusikalische Schulung im Sinne Schönbergs dafür nicht ausgebildet. – Zwischen der ernsten Produktion und dem bürgerlichen Konsum zeigt sich allerorten offen das Vakuum. Die immanentauskristallisierte bleibt unzugänglich; die aber, die sich auf den Konsum einrichtet, wird in ihrer subalternen Mattheit vom Großbürgertum selber als ›epigonal‹ zurückgewiesen. Es sieht sich damit bestimmter stets auf den begrenzten und nicht mehr ergänzungsfähigen Kreis der ›Klassik‹ zurückgeworfen. Der Rückgriff auf vorliberalistische Klassik, die Ablehnung auch der ›gemäßigten Moderne‹ entspricht genau dem ökonomisch-politischen Rückgriff auf vorliberalistische Formen, wie ihn dialektisch der Liberalismus selbst bedingt, wofern er nicht über sich fortschreitend hinausgehen will.
Unterhalb des ›Musiklebens‹, unterhalb von Bildung und Repräsentation, erstreckt sich das Reich der ›leichten‹ Musik. Mit Kunstgewerbe und Chanson, Männerchorliteratur und versiertem Jazz setzt es das Musikleben bruchlos fort und nimmt so viel von oben auf wie ihm nur erreichbar ist; nach unten erstreckt es sich bodenlos bis in eine Unterwelt weit jenseits der bürgerlichen ›Schlager‹, aus welcher nur zuweilen Blasen wie das beängstigende ›Trink, trink, Brüderlein trink‹ zum Bewußtsein aufsteigen. Die leichte Musik befriedigt unmittelbar Bedürfnisse, und zwar nicht nur des Bürgertums, sondern der gesamten Gesellschaft. Zugleich aber ist sie, als reine Ware, der Gesellschaft am fremdesten; sie drückt nichts von ihrer Not und ihrem Widerspruch mehr aus, sondern bildet selber einen einzigen Widerspruch zu ihr, indem sie mit der Triebbefriedigung, die sie den Menschen gewährt, ihre Erkenntnis der Wirklichkeit fälscht, von der Wirklichkeit sie abdrängt, sie aus der Geschichte, der musikalischen wie der gesellschaftlichen, herauslöst. Indem die Gesellschaft die leichte Musik als ›Kitsch‹ passieren läßt, der zwar kein ästhetisches Recht beanspruche, aber als Mittel der Zerstreuung auch keiner Kritik unterliege, hat sie auf ihre Weise mit der Paradoxie der leichten Musik sich abgefunden, die von jeglicher den Menschen zugleich die nächste und die fernste ist. Dieselben Produkte, die wie Tagträume bewußte und unbewußte Wünsche der Menschen erfüllen, werden vom Kapitalismus mit all seiner Technik den gleichen Menschen aufgezwungen, ohne daß sie irgendeinen Einfluß darauf hätten; ohne daß sie befragt würden; ja ohne daß sie sich nur dagegen wehren könnten. Vorm Zugriff der Erkenntnis ist die leichte Musik mehrfach geschützt. Einmal gilt sie als harmlos, als das kleine Glück, das man den Menschen nicht rauben dürfe; dann als unernst und der gebildeten Betrachtung unwert; endlich aber ist der Mechanismus der Wunscherfüllung durch die leichte Musik so tief ins Unbewußte versenkt und so sorgfältig im Dunkel des Unbewußten belassen, daß er gerade in den wichtigsten Fällen – wie etwa denen der ›absurden‹ Schlager von der Form »Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt« – ohne Theorie kaum zugänglich ist und der genauesten, im Auge des Bürgertums ›künstlichen‹ Interpretation, wohl auch der genauesten psychoanalytischen Schulung bedarf. Die technologische Betrachtung im Sinne der Kunstmusik vermag wenig zutage zu fördern, da es gerade die Vulgärmusik charakterisiert, daß sie eine autonome Technologie nicht ausbildete, um als Ware den Anforderungen des Konsums prompt genügen zu können. An Stelle technologischer Analyse hätte ein Aufweis der wenigen, regressiv festgehaltenen und offenbar archaisch-symbolischen Typen zu treten, mit denen die Vulgärmusik haushält; und es wäre weiter das Schema der Depravation zu entwerfen, in welcher einzig die leichte Musik Geschichte registriert und dem archaischen Triebmechanismus einfügt; endlich wären die Veränderungen der leichten Musik, die, der ›Geschichtslosigkeit‹ ihrer Typen zum Trotz, umfänglich und wichtig sind, zu beschreiben und in ihrer ökonomischen Konstitution zu ergründen. All das ist von der organisierten Wissenschaft nicht erfaßt und nicht einmal das Material philologisch bereitgestellt. Über die evidenten Relationen zwischen der gegenwärtigen und der älteren Vulgärmusik, also den überlieferten Tanzformen, dem geselligen Lied, der Opera buffa, dem Singspiel; und über die folkloristisch-befriedigte Konstatierung von ›Urmotiven‹ ist man nicht hinausgelangt. Es käme aber gerade hier, wo die Invarianten offen zutage liegen, weit weniger darauf an, sie herauszupräparieren, als sie funktionell zu deuten; zu zeigen, daß das gleiche, die identischen Triebstrukturen, denen die leichte Musik sich anpaßt, jeweils nach dem Stande des gesellschaftlichen Prozesses völlig verschiedene Bedeutungen annimmt; daß derselbe vulgäre Liedtyp etwa, mit dessen Profanität das junge Bürgertum des 17. und 18. Jahrhunderts die feudale Hierarchie enthüllen und verhöhnen mochte, heute gerade der Verklärung und Apologie der bürgerlich rationalen Profanwelt dient, deren Schreibmaschinen, aller Rationalisierung zum Trotz, sogar in Musik sich setzen und sich singen, also in ›Unmittelbarkeit‹ verwandeln lassen; und es wären im Zusammenhang mit dem Funktionswechsel auch die Formveränderungen aller Arten leichter Musik zu studieren. Wenn der apokryphe Charakter der leichten Musik ihre gesellschaftliche Erforschung erschwert, so würde sie erleichtert dadurch, daß eine autonome Dialektik der Produktion hier fortfällt; daß also die Enthüllung der Vulgärmusik nicht durch den technologischen Aufweis ihrer immanenten Widersprüche vermittelt zu sein braucht, weil sie, dem gesellschaftlichen Diktat gehorchend, gesellschaftlichen Kategorien weit geringeren Widerstand entgegensetzt als die selbständige Produktion und das gebildete Musikleben. Aber das dunkle Reich der leichten Musik ist noch unbetreten und über seine Topographie sollte um so weniger etwas präjudiziert werden, als die geringe Zahl der Grundtypen ebenso wie die drastische ideologische Funktion mancher Phänomene dazu verführen, die ganze Sphäre vorwegnehmend und ohne die geforderte pragmatische Strenge aus ihrer ›Idee‹ auszukonstruieren – wodurch die gesellschaftliche Deutung nicht bloß um die Zuverlässigkeit, sondern wahrscheinlich auch um die Fruchtbarkeit gebracht würde. Noch die überlegen-aperçuhafte Behandlung der leichten Musik bleibt ihr hörig, indem sie die zweideutige Ironie, mit der heutzutage die leichte Musik gleich vielen Filmen sich zu belächeln liebt, um unangefochten passieren zu dürfen, von ihr übernimmt und als Gegenstand des Spiels akzeptiert, was erst der unerbittlichen, vom Lachen ungerührten Betrachtung als die verhängnisvolle Macht des Truges vor Augen liegt, die in der leichten Musik sich konzentriert. Ehe solche Betrachtung möglich wird, müssen fragmentarische Hinweise genügen.
So alt die Spannung von Kunst- und Vulgärmusik ist: radikal wurde sie erst im Hochkapitalismus. In früheren Epochen hat die Kunstmusik je und je durch Einbeziehung der Vulgärmusik ihren Umkreis zu erweitern, ihr Material zu regenerieren vermocht; die mittelalterliche Polyphonie, wenn sie sich ihre cantus firmi aus Volksliedern holte, ebenso wie Mozart, als er die Guckkasten-Kosmologie der Zauberflöte mit der Vereinigung von Opera seria und Singspiel zustande brachte. Noch bei den Operettenmeistern des 19. Jahrhunderts, Offenbach und Johann Strauß, war die Divergenz der beiden musikalischen Produktionssphären zureichend beherrscht. Heute ist die Möglichkeit des Ausgleichs geschwunden und Versuche der Verschmelzung, wie sie manche beflissene Kunst- zur Zeit der Jazzmode unternahmen, bleiben fruchtlos. Es gibt kein ›Volk‹ mehr, dessen Gesang und Spiel von der Kunst aufgegriffen und sublimiert werden könnte; die Erschließung der Märkte und der bürgerliche Rationalisierungsprozeß haben die gesamte Gesellschaft auch ideologisch den bürgerlichen Kategorien unterstellt, und die Kategorien der gegenwärtigen Vulgärmusik sind allesamt solche der bürgerlich-rationalen Gesellschaft, die nur, um konsumfähig zu bleiben, in den Bewußtseinsschranken gehalten sind, die die bürgerliche Gesellschaft den unterdrückten Klassen, aber auch sich selbst auferlegt. Das Material der Vulgärmusik ist das veraltete oder depravierte der Kunstmusik. Bei Johann Strauß noch ist es vom gleichzeitigen kunstmusikalischen wohl durch das ›Genre‹, nicht aber gänzlich getrennt: seine Walzer lassen Raum zu harmonischer Differenzierung, so wie sie thematisch aus kleinen, kontrastierenden, niemals leer wiederholten Einheiten gebildet sind, deren überraschende Verknüpfung den Reiz, die ›Pikanterie‹ des Straußischen Walzers ausmacht und ihn zugleich mit der Tradition der Wiener Klassik verbindet, von der er sich über den älteren Strauß, Lanner, Schubert herleiten mag. Es ist nun das entscheidende Faktum der Geschichte der neuen Vulgärmusik, daß der definitive Bruch, die Preisgabe des Zusammenhangs mit der selbständigen Produktion, die Aushöhlung und Banalisierung der leichten Musik selber genau zusammenfällt mit der Industrialisierung der Produktion. Die Autoren der leichten Musik wurden durch die ungemein scharfe Konkurrenz zur Massenproduktion gezwungen; die arrivierten unter ihnen haben dann, schon vor dem Krieg, sich zu Kompositionstrusts zusammengeschlossen, die im Salzkammergut sich niederließen und in planvoller Zusammenarbeit mit Librettisten und Theaterdirektoren Outsider und Neulinge fernhielten, durch die Einengung der Produktion auf ihre eigene begrenzte Zahl aber die Herstellung vor allem der Operetten bis zur Zahl und Art der einzelnen ›Nummern‹ normten; sie haben zugleich von vornherein den Absatz ihrer Gebilde einkalkuliert, darum alle Schwierigkeiten vermieden, die das Behalten und Nachsingen der Melodien verhindern könnten und denen das Wiener oder Pariser Bürgertum von 1880 noch gewachsen war. Musikalisch ist das Signal der Industrialisierung der Produktion die völlige Beseitigung aller Kontraste innerhalb der Melodien und die Alleinherrschaft der – selbstverständlich schon früher als Mittel zur Einprägung gehandhabten – Sequenz; der Walzer der »Lustigen Witwe« dürfte exemplarisch den neuen Stil statuiert haben, und der Jubel, mit dem das Bürgertum Lehárs Operette begrüßte, ist dem Erfolg der ersten Warenhäuser zu vergleichen. Oscar Strauss etwa, der noch aus der Wiener Tradition kommt, sein Handwerk gelernt hat und um gestaltenreichere Operettenmusik sich mühte, mußte sie entweder kunstgewerblich, also ohne die gesellschaftliche Schlagkraft des Johann Strauß pflegen oder der Industrialisierung sich angleichen; Leo Fall ist der letzte, der sich mit einigem Anstand aus der Affäre zog. Sie alle aber hängen mit der bürgerlichen Kunstmusik noch zusammen durch die Form der Operette selber als einer Einheit, einer – wenn auch parodistischen – ›Totalität‹, die musikalische Architektur, Profilierung der Figuren und schließlich sogar den Einfall verlangt. Die industrielle Entwicklung der leichten Musik löste dann auch die letzte ästhetische Bindung und verwandelte die leichte Musik in einen Markenartikel. Die Stofflichkeit der Revue hat die subjektiven Formelemente der Operette beseitigt und die Operetten beim Hörer unterboten, nicht nur, indem sie ihm die Girls vorführte, sondern indem sie ihn vom letzten Zwang geistigen Vollzuges, denkender Teilnahme an den Vorgängen und ihrer Einheit befreite und die Bühne dem ungebundenen Spiel der Wünsche preisgab, womit die Revueoperette übrigens, sonderbar genug, gewissen Intentionen der selbständigen Produktion sich anglich; sie hat die Wiener Operette und ihre ungarischen Ableger zunächst konkurrenzunfähig gemacht. Der Tonfilm dann eliminierte den musikalischen Einfall. Während noch ein Schlager wie »Valencia«, um den Markt zu bezwingen, die Banalität seiner Sekundschritte durch asymmetrische, ›aparte‹ Metrik von anderen Banalitäten unterscheiden mußte, sind die durchrationalisierten, kapitalistisch-arbeitsteiligen Fabriken der Tonfilmschlager solcher Mühe enthoben. Ihre Produkte dürfen aussehen und klingen wie sie wollen, sie werden ›Erfolge‹; die Hörer müssen sie nachsingen, nicht bloß weil die präziseste Maschinerie ohne Unterlaß sie ihnen einhämmert, sondern vor allem, weil das Tonfilmmonopol verhindert, daß andere Musikware überhaupt an sie herangebracht wird, die sie wählen könnten. Hier hat musikalisch der Monopolkapitalismus rein und extrem sich durchgesetzt und in Machwerken wie »Bomben auf Monte Carlo« seine Omnipotenz auch bereits politisch ausgewertet. Ist damit die Vulgärmusik von den Bildungskategorien der bürgerlichen Gesellschaft, an deren Fortbestand diese selber interessiert ist, ihrer Form und Struktur nach ganz losgerissen, so hält sie die Stoffe der Bildung dafür fest als Fetische. Die Industrialisierung der leichten Musik und der Verschleiß von bürgerlichem Bildungsgut, den sie vollzieht, sind äquivalent. Kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, wo die letzten Chancen musikeigener Produktion leichter Musik geschrumpft sind, die Operette dafür den ›schöpferischen‹ Künstler glorifiziert, indem sie ihm die Melodien stiehlt: das »Dreimäderlhaus« gehört als Reklame und Ideologie notwendig zum ökonomischen Unterbau der Schlagerfabrikation und jede weitere Ausbildung der industriellen Apparatur hat den Fetischcharakter des Bildungsgutes in der leichten Musik extremer befestigt; Friederike und das »Land des Lächelns« mit seiner Exotik sind Schwesterwerke, und die Jazz-Fertigindustrie lebt von der Verarbeitung ›klassischer‹ Musik, die Bildung als Rohstoff ihr liefert und die, als Fetisch, im Glück der Wiederbegegnung Bildung bestärkt. Es war die ideologische Funktion der Jazzmusik, als der zunächst großbürgerlichen Form der gegenwärtigen Vulgärmusik, deren Warencharakter und die entfremdete Produktionsweise zu verdecken, den Markenartikel als ›Qualitätsarbeit‹ anzubieten. Sie sollte den Schein improvisatorischer Freiheit und Unmittelbarkeit in der Sphäre der leichten Musik erwecken; darum konnte sie von den gleichsinnigen Bestrebungen in der Kunstmusik so bequem adaptiert werden. Psychologisch ist das Manöver des Jazz jahrelang gelungen: dank der Struktur einer Gesellschaft, deren Rationalisierungsmechanismus zwangsläufig die Notwendigkeit der Verhüllung seiner selbst erzeugt, um absatzfähig zu bleiben. Sachlich ist der Warencharakter der Jazzmusik evident. Wie beim Jazz von ›unmittelbarer‹ Produktion keine Rede sein kann; wie die Arbeitsteilung in ›Erfinder‹, Korrektor, Harmonisator und Instrumentator hier womöglich noch weiter getrieben ist als bei der Operettenherstellung; wie selbst die scheinbaren Improvisationen der Hot-music genau genormt und auf ganz wenige Grundtypen zurückführbar sind: so ist beim Jazz auch musikalisch-immanent Freiheit und rhythmischer Reichtum Schein: metrisch herrscht die pure Achttaktigkeit, die die Synkopen und ›scheintaktigen‹ Einschaltungen nur als Ornament benutzt, aber in den harmonisch-formalen Verhältnissen unangefochten sich behauptet, und die rhythmische Emanzipation bleibt gebunden an die durchgehaltenen Viertel der großen Trommel. Unter der reicheren Oberfläche des Jazz liegt kahl, unverändert, deutlich ablösbar, das primitivste harmonischtonale Schema mit seiner Gliederung in Halb- und Ganzschluß und damit der ebenso primitiven Metrik und Form. Es ist gesellschaftlich und musikalisch gleichermaßen aufschlußreich, daß Jazzkapellen und Jazzkomposition ohne weiteres der Mode der Militärmärsche gehorchen konnten, als der politische Umschwung in der Krisenentwicklung erfolgte, das großbürgerliche Unternehmertum an Stelle der Weltmarktexpansion und deren exotisch-folkloristischer Korrelate in der Vulgärmusik nationale Autarkie proklamierte und von seiner Gebrauchskunst sie verlangte; die große Trommel, die zuvor die tänzerischen Urgefühle kolonialer Völker repräsentieren sollte, reguliert jetzt den Marschschritt einheimischer Formationen. – Die Elemente des musikalischen Impressionismus, die der Jazz benutzt hat, die Ganztonskala, die Nonenakkorde, die akkordischen Parallelbewegungen vermögen an alldem nichts zu ändern. Nicht bloß, daß sie erst erscheinen, nachdem die Dialektik der Kunstmusik sie hinter sich zurückließ, nachdem sie selbst als Reizwerte erschöpft sind; so wie die Vulgärmusik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der voraufgehenden Romantik das Chroma übernahm. Wesentlicher ist, daß diesen Mitteln beim Jazz jegliche formbildende Kraft genommen ward. Wie jene alten Salonpiècen, Walzer, Charakterstücke und Rêverien die Chromatik nur in Gestalt harmoniefremder Zwischentöne der Melodie einfügten, ohne das harmonische Fundament selber zu chromatisieren, so erscheinen beim Jazz die impressionistischen Floskeln nur als Interpolationen, ohne das harmonisch-metrische Schema zu stören. Die leichte Musik hält an der Diatonik, als ihrem ›Naturgrund‹, starr fest und ist dieses Naturgrundes um so sicherer, je eher sie sich, wie im Jazz, einmal einen Exzeß erlauben kann.
Wenn das Schema der Depravation der leichten Musik vorgezeichnet wird von ihrer Immanenz im statischen Ausgangsmaterial der bürgerlichen Kunstmusik: der Tonalität; und wenn danach das Verhältnis der leichten und der Kunstmusik auch gesellschaftlich keine übergroßen Schwierigkeiten bietet, so sind dafür die einer Typenlehre um so erheblicher. Schon der typische Grundsachverhalt der leichten Musik, die Scheidung in Couplet und Refrain, ist nicht leicht zugänglich. Erwägt man den historischen Ursprung im Wechsel von Einzel- und Chorgesang; vergleicht man damit den Trick vieler gegenwärtiger Schlager, im Couplet gleichsam die Geschichte des eigenen Refrains zu erzählen, so ergibt sich als wahrscheinlich die Auslegung: es wolle in ihrer stereotypischen Gestalt die leichte Musik die Tatsache der Entfremdung meistern, indem sie das berichtende, zuschauende, abgelöste Individuum, sobald es den Refrain anstimmt, in ein fiktives Kollektiv aufnimmt und in seiner Geltung dadurch bestärkt, daß es an der Objektivität des Refrains teilhat, ja den Inhalt des Refraintextes als seinen eigenen im Couplet erlebt, den es dann im Refrain staunend und erhoben als kollektiven Inhalt wiedererkennt. Der psychologische Mechanismus der Schlagerbildung wäre sonach narzißtisch, und dem entspräche die Forderung der beliebigen Nachsingbarkeit der Schlager: indem jeder Hörer die Melodie, mit der er bearbeitet wird, sogleich nachsingen kann, identifiziert er sich mit den ursprünglichen Trägern der Melodie, gehobenen Persönlichkeiten, oder mit dem kriegerischen Kollektiv, das die Lieder anstimmt, vergißt darüber seine Vereinzelung und empfängt die Illusion, entweder vom Kollektiv umfangen oder selber eine gehobene Persönlichkeit zu sein. Immerhin herrscht dieser Mechanismus nicht ausnahmslos: wenn auch der überwiegende Teil der Schlagerproduktion an der Scheidung von Couplet und Refrain festhält, so waren doch gerade einige der erfolgreichsten Schlager der Nachkriegszeit wie The Dancing Tambourine und The Wedding of the Painted Doll solche, die von der Scheidung abgehen: der erste ein Tanzstück mit Trio, der zweite eine Art von ›Charakterstück‹ im Sinne des 19. Jahrhunderts. Bei solchen Stücken, deren Erfolg nicht Texten zuzuschreiben ist, läßt sich der psychologische Mechanismus weit weniger bequem aufdecken; beim Tambourine mag eine gewisse melodische Plastik zumal des Trios, beim Puppenstück das Moment der Infantilität mitspielen, aber solche Bestimmungen sind schon weit weniger bündig als die psychoanalytischen, die, fast möchte man vermuten: jeder Schlagertext provoziert, um hinter der psychoanalytisch-individuellen Bedeutung eine zweite und gefährlichere: die gesellschaftliche zu verbergen. Wenn aber bei jenen beiden Instrumentalschlagern der Anteil der Musik am Effekt so erheblich ist, so hat man kaum ein Recht, ihn bei den Textschlagern zu vernachlässigen. Eine Methode nun, die psychologische Wirkung von Musik zu analysieren, ist noch nicht ausgebildet, und auch Ernst Kurths Musikpsychologie gibt für das hier erreichte Problem, vielleicht das aktuell wichtigste der gesellschaftlichen Deutung der Musik, keine zureichenden Anweisungen. Und es ist die Frage, ob hier Psychologie ausreicht: ob nicht gerade die entscheidenden Kategorien von der gesellschaftlichen Theorie beigestellt werden müßten. Die ›Psychologie‹ der Schlager im herkömmlichen Sinn führt auf Triebkonstanten. So etwa ist es einleuchtend, zur Erklärung des ›absurden‹ Schlagertyps die anale Regression samt ihrer sadistischen Komponente heranzuziehen, die in den zuständigen Schlagertexten selten fehlt; die Absurdität stellt sich als leicht ergänzbare Zensurlücke dar. Mit der Bestimmung der analsadistischen Struktur jener Schlager ist aber nichts über ihre gegenwärtige gesellschaftliche Funktion ausgemacht und die Wirkung auf eine natürliche Triebanlage und deren Konflikte mit Gesellschaft überhaupt zurückgeführt, die jeder Zeit gleich eigentümlich sein könnte, während Ursprung und Funktion der Schlager im Kapitalismus außer Frage stehen. Solange aber die gesellschaftliche Dialektik und die Analysis der Triebstruktur diskret oder bloß ›ergänzend‹ nebeneinander stehen, ist die konkrete Wirkung der leichten Musik nicht durchschaut, sondern einzelnen Wissenschaften zur Bearbeitung überlassen, die, im Sinne der bürgerlichen Wissenschaftssystematik, isoliert verfahren und in ihrer Trennung eine der fragwürdigsten Disjunktionen des bürgerlichen Denkens selber voraussetzen: die von Natur und Geschichte. Es sieht sich damit die gesellschaftliche Deutung der leichten und schließlich aller Musik als ihrer zentralen Frage der gegenüber: wie sie verfahren solle, ohne mehr die Zweiheit natürlicher Statik – in den Triebkomponenten – und geschichtlicher Dynamik – in den sozialen Funktionen – methodisch voraussetzen zu müssen. Wenn, wie sie es bislang tat, Musik dem Schematismus der individuellen Psychologie sich entziehen sollte; wenn bereits die elementarste ihrer Wirkungen einen konkreten gesellschaftlichen Zustand voraussetzt, ausdrückt, tendenziell auf einen hinweist; wenn Natur selber musikalisch nicht anders als in geschichtlichen Bildern erscheint, dann könnte die materiale Beschaffenheit von Musik Hinweise bieten, wie etwa der dialektische Materialismus nicht zwar die ›Frage‹ nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte zu lösen, wohl aber in Theorie und Praxis die Frage abzuschaffen vermöchte.