Zu einer imaginären Auswahl von Liedern Gustav Mahlers
Erwin Ratz gewidmet
Als Neunzehnjähriger, vor seiner Lehrzeit bei Schönberg, schrieb Anton von Webern, Mahlers Musik mache »förmlich einen kindlichen Eindruck«, zumal im Vergleich mit Strauss. Aber sie gefalle ihm sehr gut. Webern stand sein ganzes späteres Leben lang zu Mahler, sein bedeutendster Interpret. Der Widerspruch in jenen Äußerungen aber ist der produktive von Gustav Mahlers Liedern. Was Webern als primitiv beanstandete, steht dem nicht fern, was im neunzehnten Jahrhundert unter dem Namen des volkstümlichen Liedes ging und sich verdächtig machte als Versuch der Nachahmung eines unwiederbringlich Verlorenen, das zudem historisch nie so existierte, wie zurückgestaute Sehnsucht es vorgaukelt. So einfach dünkt die Faktur, als hätte Mahler an den kompositorischen Errungenschaften des Richard Strauss der gleichen Jahre keinen Teil. Polyphonie fehlt, viele Einfälle klingen gewohnt, die Harmonik bescheidet meist sich diesseits der Tristanchromatik. Sich zu differenzieren jedoch vermag Musik, auch dem greifbaren kompositorischen Sachverhalt nach, in verborgeneren Dimensionen: in der Binnenstruktur der Melodik, in der Metrik, der Kunst der harmonischen Ausweichung, der Formdisposition. Die unerschöpfte Kraft der Mahlerschen Lieder weist sich darin, daß jene Dimensionen von Differenziertheit mit dem simplen Vokabular sich durchdringen. Eines ist Bedingung des anderen. An Ausweichungen metrischer und harmonischer Art war der frühe Strauss nicht ärmer. Nur wurden sie im unbekümmerten Schwung der Totale gleichgültig. Mahler exponiert die Nuance, die kleinste Differenz vom Schema, vorm Hintergrund des von ihm noch geachteten Idioms. Dadurch wird sie sinnfällig und wesentlich, als hinge vom Wechsel kleiner und großer Terz die Welt ab.
Paradigmatisch dafür ein Stück wie ›Wer hat dies Liedlein erdacht?‹. Es gibt sich in jedem Betracht, auch der heiteren Stimmung nach, überaus harmlos, ein behaglicher Ländler, dreiteilig, mit einem trioartigen Mittelstück und einer Reprise. Die instrumentale Einleitung ist verhältnismäßig lang, zwölf Takte. Eigentlich wären es dreizehn, denn ihr Abschluß überschneidet sich mit dem Einsatz der Singstimme, subtil verschlingen die Hauptabschnitte sich miteinander. Der Einleitung liegt ein drehendes zweitaktiges Motiv zugrunde, rückläufig in sich. Die Konstruktion behandelt es irregulär. Aufgegriffen wird, im zweiten Takt, das Schluß- oder Anfangsglied des Motivs, eintaktig, und sequenziert. Dann wiederholt sich, abermals zweitaktig, einen Ton höher, harmonisch in der Unterdominanzregion, das Anfangsmotiv. Nun indessen folgt nicht wiederum das kurze Schlußglied, sondern das Hauptmotiv wird sogleich kraft seiner durchlaufenden Sechzehntelbewegung zu einem Fünftakter ausgesponnen. Intervallvarianten berühren die Dominanztonart; am Ende moduliert Mahler zur fünften Stufe der Haupttonart zurück. Gleichsam als Coda der Einleitung wird das zweitaktige Schlußglied nachgeholt, diesmal, in Konsequenz der vorausgehenden Figuration, selbst ebenfalls in Sechzehntel aufgelöst. Derart komplex sind die metrischen Eigentümlichkeiten der Einleitung und die mit ihnen ganz verschmolzenen melodischen; dabei von einschmeichelndster Logik. Das hebt die erweiterte Periode hoch über alle Dorfsimpelei, ohne daß doch das Ohr, das arglos dem Fluß sich anvertraut, Rechenschaft davon geben könnte, wieso diese Takte ein Ländler sind und große Musik in eins.
Der erste vokale Hauptteil des Liedes fügt sich aus drei Gedanken: einem, der aus dem Hauptmotiv der Einleitung gebildet ist, dann, nach einer für Mahler sehr charakteristischen und sehr österreichischen Modulation, auf eine für Augenblicke zur Molltonart verselbständigten dritten Stufe, zu den Worten »Da gucket ein fein's, lieb's Mädel heraus«, einem Seitenthema. Durchs Übergewicht der Achtel und der größeren Intervalle unterscheidet es sich hinlänglich vom Hauptmotiv, strebt aber keinen eigentlichen Kontrast an, ein spezifisches Fortsetzungsgebilde, überwiegend in der Unterdominanztonart. Schließlich meldet sich, wieder in der Haupttonart, eine Art Schlußgruppe, welche auf die Bewegung des Fünftakters der Einleitung zurückgreift und unmerklich coda-artig sich verdichtet. – Der Mittelteil des Ganzen ist ein deutliches Ländlertrio, wie ein Geschenk, in der nach Dur versetzten Tonart der Mediante, reich und zärtlich modulierend. Seinen modulatorischen Gesamtzug trägt es weiter in die Überleitung zur Reprise des Hauptteils. Sie ist das Erstaunlichste: zu den Worten »Wer hat denn dies schön' schöne Liedlein erdacht« beginnt sie mit dem dritten, dem Schlußgedanken des Hauptteils. Dicht anschließend, von »Es haben's drei Gäns' übers Wasser gebracht«, eine mit Umkehrungen und Varianten arbeitende Wiederholung des zweiten Gedankens. Allmählich findet die Reprise, bei ostinater Ausnutzung des Hauptmotivs, in den Anfang zurück, endend mit der erweiterten Codabewegung aus der Exposition. Mit anderen Worten, in dem Lied, komponiert in den frühen neunziger Jahren, ist, unter der Ländlerhülle, aus dem Impuls unschematischen Variierens eine krebsgängige Architektur entwickelt; nicht bestimmt von Reihenkalkül oder aufgewärmten niederländischen Künsten, sondern Realisierung des sich um sich selbst Drehens in der Zelle des Hauptmotivs; Konstruktion als gänzlich Organisches. Was den Kindlichen kindlich sich anhört, nimmt Strukturprobleme vorweg, die erst siebzig Jahre danach offenbar wurden; das entbindet von jeder Rede über die Aktualität der Mahlerschen Lieder. Worauf hingewiesen ward, ist bloß das Sinnfälligste; die detaillierte Analyse könnte dartun, daß jene Strukturmomente nicht dem willkürlichen Bedürfnis nach Abwechslung entspringen. Sie genügen den ausgehörten Bedürfnissen des kompositorischen Verlaufs.
In solcher technischen Differenziertheit erscheint der Gehalt: gebrochene Objektivität. Sie resultiert aus der Haltung des Singenden, des kompositorischen Subjekts in diesen Liedern: nicht der zufälligen Person Mahlers sondern des geistig musikalischen Ichs, auf dem sie beruhen und das in ihnen Stellung bezieht. Aus ihnen spricht es nicht lyrisch unmittelbar, sondern die meisten sind erzählend, episch wie Mahlers symphonische Formen. Dennoch wohnt ihnen latent inne, daß Musik so wenig mehr recht erzählen kann wie Worte von Geschehenem: die Unmöglichkeit der Ballade. Daher der Gestus des Als ob sich erzählen ließe, Ironie wie im großen Roman, ein Standort, welcher der eingeschliffenen Kategorien objektiv und subjektiv spottet. Mahlers Lieder stehen, wie bekannt, im engsten Zusammenhang zur Symphonik, nicht nur dem motivisch-thematischen Inhalt nach, vielmehr bis in die Grundschicht der Komposition hinein. Sie sind wahrhaft das Bindeglied zwischen der objektiven, das bloße Individuum zugleich hinter sich zurücklassenden und es mitfühlend errettenden Idee der Symphonie und dem subjektiven Impuls, den mit solcher Objektivität zu versöhnen alle Arbeit und Anstrengung Mahlers meint. Dabei bedient er sich jener Spuren eines umfangenden, vorgegebenen Formkanons, der ihm noch gegenwärtig, von dem er seit der böhmischen Kindheit durchtränkt war, des Marsches und des Ländlers vor anderen. Aber das musikalische Ich, das da erzählt, zuweilen die Figuren der Gedichte direkt reden heißt, ist das moderne, ohne kollektiven Trug sich sondernde, autonom durchgebildete. Unablässig verhält es sich, in rein musikalischen Wirkungen, zum Berichteten, legt seine Intentionen den Topoi ein. Das Verhältnis von Abweichungen und Idiom definiert den Kosmos von Mahler. Das kompositorische Subjekt, das an die Sache sich entäußert, ohne doch in dieser positiv aufgehoben zu sein, offenbart sich, indem es die Sprache schattiert, nicht sich naiv und selbstherrlich setzt. Es bekennt die Objektivität, in der es eben noch sich birgt, schwermütig als Fiktion; darum wohl nannte Mahler die Wunderhornlieder ursprünglich Humoresken, obwohl manche todtraurig sind. Bloß mittelbar identifiziert es sich mit den musicae personae, all den hilflos schluchzenden Opfern, von denen die Volksliedtexte und die volksliedähnlichen handeln. Wo immer das traditionelle Idiom zerrüttet wird, blickt das Antlitz des Komponisten hindurch, das um die anderen leidet, denen es gleicht; so fern dem archaistischen Vertrauen in eine ewige Formenwelt der Musik wie einer Art von Lyrik, die in Mahler erstmals irreward am Recht, überhaupt noch Ich zu sagen. Keiner wird die Lieder gut singen, der diese Gebrochenheit nicht fände, die Wechselwirkung zwischen dem Idiom und dem, was davon absticht.
Quantitativ ist das Mahlersche Liedwerk nicht umfangreich; gerade seine Verdichtung macht eine Auswahl schwer. Nichts wäre aus Zyklen herauszuschneiden, den Gesellenliedern, den Kindertotenliedern. Den Klavierliedern gebührte der Vorrang, stammten sie nicht alle aus Mahlers früher Jugend; Entscheidendes fehlt noch in ihnen. Klavierfassungen von Orchesterliedern freilich erregen vorweg Bedenken. Diese sind zu zerstreuen, auch wenn die Äußerung nicht authentisch sein sollte, derzufolge Mahler nur deshalb Orchesterlieder schrieb, weil man unter Umständen auf einen musikalischen Kapellmeister, nie auf einen musikalischen Begleiter hoffen dürfe. Auffällig, daß er die Bezeichnung Klavierauszug vermeidet; er hat die Wunderhornlieder ausdrücklich auch als solche »für eine Singstimme mit Klavierbegleitung« drucken lassen. Offenbar wollte er den Versionen, die er selbst herstellte, nicht ihr eigenes Recht entziehen. Dem entspricht die Sache. Das Zweidimensionale, oft Tiefelose von Mahlers früherem Orchesterklang schickt sich nicht schlecht zum Klavier. So kunstreich einfach die Instrumentalfassungen sind – ihre Kunst beschränkt sich aufs Realisieren. Strukturelle Momente werden ausinstrumentiert. Weder wirkt die Instrumentalfarbe als selbständiger Parameter, noch dehnt sich das Volumen, von wenigen Ausnahmen wie der Revelge oder dem letzten Kindertotenlied abgesehen, symphonisch aus. Zugunsten reiner Stimmen und durchhörbarer Akkorde ist auf jegliches Füllende verzichtet. Das kommt der Klavierfassung entgegen; mag sie karger sein, sie entstellt oder verletzt nicht; ganz wenige Stellen nur wird man finden, die sich transkribiert anhören. Gegenüber der üblichen Unterscheidung von Klavier- und Orchesterlied entwerfen Mahlers Lieder die Idee eines Dritten, eines musikalischen Niemandslandes, nicht diesseits der bestimmten Klangmaterialien sondern über ihnen wie das Geisterreich, von dem ihrer so viele etwas vermelden. – Wenigstens die typischen Grundcharaktere der Mahlerschen Liederwelt wären zu zeigen, selbst wenn deswegen, um nicht den des Ländlers zu verdoppeln, ein Gebilde beseeltester Anmut wie das Rheinlegendchen fortbliebe.
Gegen ›Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald‹, original für Klavier und Stimme gesetzt, könnte jeder Schulfuchser die üblichen Einwände herleiern: die Harmonie komme nicht recht vom Fleck, der Mittelsatz sei banal erfunden. Vorm unwiderstehlichen Ausdruck müßten solche Einwände sich schämen; das Vage, Unausgesprochene der Konzeption, das einem das Herz zusammenschnürt, bedingt von sich aus eine Harmonisierung, die mehr pendelt, als sich fortbewegt. Hier mag man beobachten, wie kleinste Modifikationen, die Unterlegung eines Orgelpunkts der Tonika dort, wo erst eine fünfte Stufe komponiert ist; oder der Wechsel zwischen f und fis in einem Nebenseptimakkord bei analogen Stellen; oder der in der letzten Strophe hinzugefügte Doppelschlag beim Eintritt der sechsten Stufe, inmitten des nach außen ganz Schlichten, zu Sigeln von unabsehbarer Tragweite werden. Das Lied hat etwas von Bildern aus Bilderbüchern, über die das Kind hastig hinwegblättert, weil es vor ihnen Angst hat, und die es doch immer wieder aufschlägt, um selig vor ihnen zu weinen. Konzentrat alles Verheißenen und Versagten eines ganzen Lebens, fast unerträglich nah an der leibhaften Erfahrung. – ›Heute marschieren wir‹, abermals ein Klavierlied, Rondo aus einem Guß, enthält gleichwohl die Mahlerschen Ingredienzien wie ein Gewürzschrank, die gekaufte Keckheit, das Schwanken zwischen Sentimentalität und Parodie, das Klägliche. Entlegene Tonarten stoßen zwischen den Strophen schroff aufeinander, sind aber im Sinn auskomponierter neapolitanischer Sexten kadenzhaft verbunden. Die Schlußpointe des »Aus«, der Interjektion, die den letzten Satz verneint, daß es noch nicht aus sei, explodiert im Witz bedrohlich. – ›Ablösung im Sommer‹ ist trotz der Klavierbegleitung Modell für den Zusammenhang von Lied und Symphonik, das Kernstück aus dem Scherzo der viel späteren Dritten Symphonie, ein antezipiertes Meisterstück, längst ehe Mahler ein Meister war, dabei voller Widerstände gegen die herkömmliche Korrektheit, mit quintigen Verschiebungen und verbotenen verminderten Dreiklängen. Ein dicht gewobenes und webendes Maggiore läßt für Momente den unheroischen Märchenwald Mahlers aufglänzen. Die letzten Takte identifizieren sich schon mit den wie unter einem Bann stampfenden Tieren, Groteske aus Allmenschlichkeit.
Bei dem Wunderhorngesang ›Der Schildwache Nachtlied‹ könnte man darüber rechten, ob die Strophen des Soldaten nicht doch für ein Klavierlied allzu kompakt, orchestral gedacht seien. Nicht zu entbehren wäre das Lied wegen der Strophe des Mädchens, einer der inspiriertesten Stellen Mahlers. Die archaische Unregelmäßigkeit der Volksliedmetrik, wie sie aus dem Prinzen Eugen noch geläufig ist, vermählt sich einer Freiheit der Reaktionsweise, welche die achttaktige Periode bereits überholt. Wahrhaft beispiellos kühne und süße Harmonisierung wird motiviert von einem unauffälligen Durchgangsakkord. Durch mehrfache Vorhaltsbildung erreicht Mahler die komplexesten, chromatisch durchsetzten Klänge, ohne die Volksliedstilisierung zu verletzen. Das hat den Mordent von Rieslingtrauben; auf österreichisch werden sie ›schmeckert‹ genannt. Mit ausschwingenden Kurven rechtfertigt die Melodie, was in der Vertikale sich zuträgt. Die letzte unaufgelöst verklingende Strophe vereinfacht das Ausschweifende über einem langen Orgelpunkt, melancholisch und leuchtend in eins. – ›Wer hat dies Liedlein erdacht‹ repräsentiert die Mahlerschen Gesangsländler; bei allen kompositorischen Künsten hinter den Kulissen ist es eines der Gebilde, die, ähnlich dem Andante der Zweiten Symphonie, zu Mahler verführen, Widerlegung all der Vorurteile, welche seinen spontanen Einfallsreichtum bezweifeln. – ›Wo die schönen Trompeten blasen‹ ist vom Typus der von einer Geisterstimme gesungenen Lieder. Schmerzlichste Vorhaltakzente werden zu Leitharmonien, welche die Form verklammern. Ihre Struktur schafft der Kontrast traumhafter Bruchstücke von Militärsignalen zu einer trioartig kantablen, wiederkehrenden Dreiviertelmelodie. Der Schluß sammelt das Ganze ein zu einem Abgesang, in dem die Quintessenz von Mahlers Musiksprache selber redet.
Die ›Sieben Lieder aus letzter Zeit‹ fallen selbstverständlich nicht in diese, sondern sind zur Zeit der Vierten und Fünften Symphonie komponiert. Trotzdem läßt wenigstens bei manchen für die eingebürgerte Bezeichnung einiges sich sagen. Sie – fast sie allein – sind subjektive Lyrik im vorherrschenden Sinn, allerdings, in der Not des Ausdrucks, schon so reduziert wie erst wieder Partien des Lieds von der Erde; dem Satz nach bloß hingetupft, dem Klavier zugänglich. In der eigensinnigen Liebe des mittleren Mahler zu Rückert mag man etwas von jener retrospektiven Begierde des Rettens spüren, wie Karl Kraus sie hegte aus Verzweiflung am allzu sagbaren Wort. ›Ich atmet' einen linden Duft‹ kehrt exemplarisch einen Zug hervor, der das gesamte Liedschaffen Mahlers auch technisch weit über das seiner Epoche hebt: die motivisch-thematische Synthesis von Singstimme und Begleitung. Beide Medien amalgamieren sich schlackenlos zu einem Extrem von Zartheit, darin das Intensivste Zuflucht findet. Angesiedelt am Rande des Verstummens, mahnt das Lied, bei strikt tonalen Verhältnissen, an den Gestus Weberns. Über harmonische Abgründe hinweg spannt sich das melodische Band; indem es zurückfindet, werden sie der Form integriert, gleichwie versöhnt. Das langsame Zeitmaß ist auf punktierte Halbe zu beziehen; nicht auf Viertel. Keinesfalls darf die Klavierfassung so langsam vorgetragen werden, wie es in der orchestralen möglich, wenngleich ebenfalls falsch ist. – ›Liebst du um Schönheit‹ führt an die Grenze des Dokuments nach Art der Tagebuchblätter des Lieds von der Erde; der Mollakzent auf »Jugend«, der erstickte letzte Ton, der keine Lösung mehr findet, sprengen unwillentlich bereits, mitten im gängigen Idiom, das in sich ruhende ästhetische Gebilde.
Die Interpretation der Lieder ist, ihrer Einfachheit zum Trotz und ihretwegen, überaus schwierig. Einerseits muß die Einfachheit auch die des Gesangs sein, die von einem, der vor sich hinsingt. Keine artifizielle Instanz zwischen der leibhaften Stimme und der als Instrument darf kennbar werden, nichts das Singen einer Sängerin heraufbeschwören. Andererseits ist ein Äußerstes an Expression zu suchen, jede Regung ins Phänomen zu rücken. Hüten muß man sich, angesichts der Assoziation altertümlicher Formen, vorm Unfug erschlichener Objektivität. Neobarock verschandelte alles. In einem hin, oder darüber hin zu musizieren, wäre grundfalsch; forderte Mahler in dem Orchesterlied vom Irdischen Leben einmal etwas dergleichen, so war das die Ausnahme, die erst recht die Regel gänzlich freien, artikulierten Vortrags bestätigt; dieser gerade vertritt, worin die Lieder dem Naturwüchsigen sich neigen. Der hübsche Begriff des Rubato obligato, den Erwin Stein prägte, gebührt Mahlers Liedern vor anderer Musik. Der Strophenbau soll nicht zu unabgesetztem Weitermachen verleiten, sondern die Strophen sind nachdrücklich zu phrasieren; ihre absichtsvoll unverbindliche Behandlung bei Mahler, ihre kunstvolle Vagheit, stellvertretend für eine nicht vorhandene mündliche Überlieferung, ist kompositorisches Darstellungsmittel, dem die Wiedergabe sich anzuschmiegen hätte. Fürchtete man nicht vergröbernd mißverstanden zu werden, so wäre zu sagen, in keinem dieser Lieder dürfte ein Viertel dem anderen gleichen; Mahlers agogische Bezeichnungen, Widerpart alles Volksliedhistorismus, stützen das; sie wären spontan fortzusetzen bis ins Unbezeichnete hinein. Ist etwas genuin österreichisch bei Mahler, dann der seiner Musik immanente Vortrag. Der Phrasierung kann kaum genug Aufmerksamkeit gewidmet werden, unter ständiger Rücksicht auf den Formsinn; je relevanter die formalen Einschnitte, desto deutlicher die Zäsuren; erlangt jedoch ein Gebilde aus sich heraus Schwung, so müssen sie sich verkleinern. Nichts ist zu rasch zu nehmen, noch mitten in der Bewegung ein Zögerndes durchzufühlen; im Langsamen jedoch ist wiederum nicht zu schleppen, der Impuls des dirigierenden Komponisten aufs Ganze darf im Vortrag nicht erlahmen. Das Ländliche dieser Lieder hat etwas von Schwere, nie ganz entfesselt; aber die Schwere ist leicht. Im allgemeinen werden, wie Mahler einmal bemerkte, die bewegten Lieder zu rasch, die ruhigen zu langsam genommen, Zwischenstufen des Tempos vernachlässigt; die Proportionen sind mit der Versenkung des Schriftgelehrten zu bedenken. Unterschieden werden muß zwischen Charakter und realem Tempo. Schreibt Mahler »keck« über ein Lied, so bedeutet das nicht ohne weiteres, daß es schnell zu singen sei. Der kecke Ausdruck bedarf zuweilen dessen, daß man sich Zeit läßt. Kontraste wie die zwischen Strophen des Knaben und des Mädchens, oder von Hauptteil und Trio sind so klarzulegen wie nur möglich. Ein Ideal, von dem freilich kaum ein Interpret heute etwas ahnt, wäre es, durch Verfügung über die Timbres der Stimmgebung den Formverlauf zu modellieren. In der Singstimme muß die Harmonie sich widerspiegeln, vor allem in den Rückertliedern. Die Tanz- und Marschformen engen nicht ein. Sie setzen einen Bezugsraum, in dem die Nuance ohne Angst gedeihen darf. Maxime richtiger Interpretation der Lieder: aussingen, ausspielen.