Glas ist nicht fest, es fließt – wie alte Kirchenfenster beweisen, die unten dicker sind als oben
Stimmt nicht. Vielleicht rührt die Legende daher, dass selbst Wissenschaftler Glas manchmal als «eine Flüssigkeit» beschreiben, «die die Fähigkeit zu fließen verloren hat» – so C. Austin Angell in einem Science-Artikel. Aber das ist eine eher philosophische Bemerkung und hat mit den physikalischen Eigenschaften von Glas herzlich wenig zu tun.
Unsere Unterscheidung der Aggregatzustände geht auf die alten Griechen, etwa Aristoteles, zurück. Einfach, wie das Weltbild damals war, unterschied man drei Zustandsformen der Materie: fest, flüssig und gasförmig. Wasser ist ein Beispiel für eine Substanz, die (unter normalen Bedingungen) saubere «Phasenübergänge» demonstriert: Bei ganz bestimmten Temperaturen (die vom Umgebungsdruck abhängen) wechselt es seinen Aggregatzustand. Jeder Phasenübergang ist mit einer sprunghaften Veränderung der physikalischen Eigenschaften verbunden – Wasser ist entweder gefroren oder flüssig, es gibt keinen «weichen» Übergang. Das liegt daran, dass festes Wasser Kristalle bildet, und diese Struktur ist entweder vorhanden oder nicht.
Heute ist die Einteilung der Aggregatzustände ziemlich obsolet. Es gibt zu viele Stoffe, die in diese klaren Kategorien nicht hineinpassen, etwa Gele, Polymere, Flüssigkristalle, Kolloide – und eben auch Gläser. Glas bildet sich auf folgende Weise: Eine flüssige Schmelze wird immer tiefer abgekühlt, bis unter ihren Schmelzpunkt. Dann ist sie eine sogenannte unterkühlte Flüssigkeit. Die Viskosität (also die Zähigkeit) steigt immer weiter an, und schließlich erstarrt der Brei zu Glas – einem «amorphen Festkörper». Amorph deshalb, weil die Moleküle in einer zufälligen, unregelmäßigen Struktur eingefroren werden.
Es gibt weder eine definierte Temperatur, bei der dieser Übergang geschieht, noch eine sprunghafte Veränderung der Eigenschaften. Es ist, für die Physikkenner, ein «Phasenübergang zweiter Ordnung». Für den Laien reicht es zu wissen, dass tatsächlich ein Übergang stattfindet – die Vorstellung, es sei eine «sehr, sehr langsam fließende Flüssigkeit», ist falsch.
Was heißt eigentlich flüssig? Bei Flüssigkeiten ist die Verformung proportional zur einwirkenden Kraft. Auch kleine Kräfte, etwa das eigene Gewicht, haben über große Zeiträume auch große Wirkungen. Bei Festkörpern, seien es kristalline oder amorphe, ist eine Mindestkraft erforderlich, um die Moleküle aus ihrer Ordnung zu lösen. Genau das ist bei Glas der Fall: Unterhalb einer gewissen Temperatur, die von der genauen Zusammensetzung abhängig ist und irgendwo zwischen 300 und 600 Grad Celsius liegt, zerspringt es eher, als dass sich die Moleküle frei gegeneinander verschieben.
Dass die Vorstellung vom fließenden Glas irrig ist, zeigt das Beispiel von Teleskoplinsen. Es gibt sehr große Teleskope, von denen einige schon über hundert Jahre alt sind. Wären diese auch nur um Bruchteile von Millimetern «zerflossen», so wären sie heute völlig unbrauchbar. Das ist aber nicht der Fall.
Wohl kann sich Glas elastisch verbiegen – das ist der Grund, warum die Größe von Linsenteleskopen begrenzt ist. Das Glas «hängt durch», kehrt aber bei genügender Unterstützung wieder in seine ursprüngliche Form zurück.
Warum aber sind dann viele alte Fenster tatsächlich unten dicker als oben? In dem Artikel «Antique windowpanes and the flow of supercooled liquids», erschienen 1989 im Journal of Chemical Education, weist Robert C. Plumb darauf hin, dass es in früheren Jahrhunderten noch nicht möglich war, so ebenmäßige Glasscheiben herzustellen wie heute. Damals wurde das Glas zunächst zu großen Flaschen geblasen und dann durch Rotation zu einer flachen Scheibe gedreht. Diese Scheiben, aus denen die Fenster geschnitten wurden, waren oft am Rand dicker als in der Mitte. Und es ist nur logisch, dass die Glaser dann die Fensterscheibe auf das dickere Ende gestellt haben – der Stabilität wegen.
Und selbst das war nicht immer so: Auf der International Conference on Industry Education, die 1995 im englischen York abgehalten wurde, berichtete Peter Gibson von seiner langjährigen Arbeit an mittelalterlichen Glasfenstern. Im Lauf der Zeit, sagte Gibson, habe er Hunderte von Fenstern gesehen, die oben dicker gewesen seien als unten.