Eine Flasche mit gutem Rotwein soll man ein paar Stunden vor dem Genuss öffnen, damit der Wein «atmen» kann
Stimmt nicht. Eins vorab: Die Chemie des Weins, insbesondere seiner Geschmacksstoffe, ist sehr komplex und längst nicht vollständig verstanden – sonst könnte man die feinen Tropfen ja auch synthetisch herstellen. Was den Geschmack des einen Weins verbessert, kann den anderen verderben.
Reden wir erst einmal vom Dekantieren, also vom Umgießen des Weins in eine Karaffe. Das dient hauptsächlich dazu, die abgelagerten Feststoffe, die man ungern zwischen den Zähnen hat, vom Wein zu trennen. Das sind beim Weißwein hauptsächlich Kristalle («Weinstein»), beim Rotwein eine Art Schlamm aus phenolischen Substanzen. Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, das Stunden vor dem Genuss zu tun. Wichtig ist, dass die (verschlossene) Flasche vorher lange genug gestanden hat, damit sich die Sedimente absetzen konnten.
Was das «Atmen» des Weins betrifft: Mit der Luft ist es so eine Sache. Bei Weißweinen, insbesondere bei frischen Sorten wie dem Riesling, führt die mit dem Lüften verbundene Oxidation zu einer Geschmacksveränderung. Der Wein geht dann mehr in Richtung Sherry, «und wenn ich einen Sherry trinken will, dann kaufe ich mir einen», sagt der Gärungstechnologe Hans-Joachim Pieper von der Universität Hohenheim. Also gilt bei Weißwein generell: schnell servieren.
Bei Rotwein kann eine leichte Oxidation sowie das Entweichen von flüchtigen Stoffen durchaus angenehm sein. Außerdem verändert der Wein durch die Oxidation seine Farbe, die dann mehr in Richtung Braun geht. Je schwerer, desto mehr «Luft» kann der Wein vertragen. Bei frischen Rotweinen wie einem Trollinger kann das Dekantieren nach Piepers Auskunft dagegen «verheerend» wirken. Vorsicht ist auch bei alten Weinen geboten: Weil der Korken den Wein nicht luftdicht verschließt, haben die alten Tropfen meist schon bei der Lagerung «geatmet». Bekommen sie dann durchs Dekantieren einen «Sauerstoffschock», so können sie regelrecht umkippen. Hans-Joachim Pieper erzählte mir von einem Festbankett, bei dem er einen dreißig Jahre alten Edel-Rotwein probieren durfte, der gut «geatmet» hatte. «Der schmeckte wie Terpentin», erinnert sich der Fachmann noch heute mit Grausen.