Die Fähigkeit, die Zunge zu einem Röllchen zu formen, ist genetisch bedingt
Stimmt nicht. Die Fähigkeit, die Zunge an den Rändern aufzurollen (eine Art U zu formen), ist ein schönes Beispiel, mit dem man im Biologieunterricht die Vererbung von Eigenschaften nach den Mendel’schen Gesetzen untersuchen kann: Sie ist leicht zu überprüfen, außerdem macht es den Schülern viel Spaß, ihre Verwandtschaft daraufhin zu testen und sie in «Roller» und «Nichtroller» zu unterteilen.
Nur: Das Beispiel ist zu schön, um wahr zu sein. Alfred Sturtevant, der im Jahr 1940 zu den Ersten gehörte, die ein dominantes Gen für diese Eigenschaft verantwortlich machten, schrieb schon 1965 in seinem Buch «A History of Genetics» über «eine unglückliche Tendenz» in der Wissenschaft, manche Merkmale als Beispiel für die Mendel’sche Vererbung zu akzeptieren, obwohl die Beweislage sehr dürftig ist. Im Fall des Zungenrollens kam der Todesstoß bereits 1952, als ein gewisser Philip Matlock eineiige Zwillinge untersuchte. Deren Fähigkeit müsste ja aufgrund ihrer identischen Erbanlagen immer gleich sein – bei 21 Prozent der von Matlock untersuchten Paare war aber jeweils ein Zwilling ein «Roller» und einer ein «Nichtroller». Zwingender Schluss: Es gibt zumindest noch weitere Faktoren, die die Zungenrollfähigkeit beeinflussen. Und offenbar können manche «geborenen» Nichtroller das Rollen sogar lernen.
«Es ist mir immer noch peinlich», schrieb Sturtevant, «wenn ich das Beispiel in aktuellen Arbeiten zitiert sehe.» Und daran hat sich auch in den vergangenen 45 Jahren nicht viel geändert.