Stimmt. Und wir reden hier nicht von Wildwasser, sondern von ganz normalen Seen und Meeren mit relativ geringer Strömung. Allerdings wird der auf Nord- und Ostsee anzutreffende gewöhnliche Hobbysegler mit seiner Jolle wohl kaum jemals in den Genuss dieses Effektes kommen. Er lässt sich nur mit speziellen Hochgeschwindigkeitsseglern erreichen, etwa Katamaranen oder Trimaranen, auf denen die Segelpartie eher unkomfortabel ist.
Ganz alltäglich ist das Phänomen dagegen bei Strand- und Eisseglern, die nicht gegen den bremsenden Widerstand des Wassers anzukämpfen haben. Auf dem Eis kann ein segelgetriebenes Fahrzeug eine Geschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde erreichen, auch wenn der Wind nur mit Tempo 50 bläst.
Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass ein Segelschiff dann am meisten Vortrieb entwickelt, wenn der Wind von hinten kommt. In diesem Fall wird das Schiff vom Wind «geschoben» und kann tatsächlich nicht schneller fahren, als der Wind weht.
Eine ganz andere Sache ist es, wenn der Wind im rechten Winkel von der Seite kommt und auf das schrägstehende Segel trifft. Dann muss man schon die hohe Schule der Aerodynamik bemühen, um die Bewegung zu erklären, und kommt zu scheinbar paradoxen Resultaten.
Weil das Segel keine ebene Fläche bildet, sondern sich wölbt, wirkt es wie die Tragfläche eines Flugzeugs. Dort entsteht ja der Auftrieb, weil die Luft über dem Flügel eine höhere Geschwindigkeit und damit einen niedrigeren Druck entwickelt als die Luft an der Flügelunterseite. Dieser Druckunterschied zweier Luftströme reicht aus, um tonnenschwere Flieger aus Stahl in der Luft zu halten. Und ganz Ähnliches passiert beim Schiffssegel: Die innen vorbeiströmende Luft ist langsamer als der äußere Luftstrom, und folglich entsteht eine Art «Auftrieb» – nur dass die resultierende Kraft nicht nach oben weist, sondern schräg nach vorn. Durch den Kiel und den Bootskörper wird die seitliche Komponente dieser Kraft «abgefangen», sodass sich insgesamt eine Bewegung nach vorn ergibt. Diese Kraft kann erheblich größer sein als der Schub des Windes.
Wie schnell das Boot dann tatsächlich fährt, hängt natürlich hauptsächlich von der Form des Rumpfes ab. Der geltende Geschwindigkeitsweltrekord für Segelboote wurde übrigens 2009 von der «Hydroptère» des Franzosen Alain Thebault aufgestellt. Er liegt bei 46,52 Knoten, das sind 86,16 Kilometer pro Stunde.