Stimmt nicht. Auch wenn in der Literatur immer wieder Fälle auftauchen, in denen ein besonders schlimmes persönliches Erlebnis dazu führt, dass jemand am nächsten Morgen mit grauem oder weißem Schopf aufwacht. Schon Grimmelshausen erzählte im «Simplicissimus» von einem Mann, dessen Haare und Bart eines Morgens grau waren, «wiewohl er den Abend als ein dreißigjähriger Mann mit schwarzen Haaren zu Bette gegangen» sei. Und in dem Gedicht «Die Füße im Feuer» von Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898) heißt es: «Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr – ergraut,/Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.»
Solche Geschichten können nicht stimmen: Haare bestehen aus toten Zellen, ähnlich wie Fingernägel. Sind die Farbpigmente einmal drin, bleiben sie dort. Graue (also farblose) Haare können nur von der Wurzel her – also in einem allmählichen Prozess – nachwachsen.
Eine mögliche Erklärung für ein scheinbar schnelles Ergrauen: Bekanntlich übt die Psyche Einfluss auf das Immunsystem aus. Nun gibt es eine Autoimmunkrankheit mit dem Namen Alopecia areata diffusa, bei der die Kopfhaare ausfallen. Das kann recht schnell gehen, wenn auch wohl nicht über Nacht. Aus ungeklärten Gründen sind pigmentierte Haare anfälliger für diesen Haarausfall als graue. Auf diese Weise ändert sich das zahlenmäßige Verhältnis der Haare, und der Schopf wirkt nachher grauer – obwohl die grauen Haare schon vorher da waren.