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Clara blickte auf die Fotos.

Das Erste war eine alte Polaroidaufnahme.

Es schien an Weihnachten zu sein.

Sie zuckte zusammen, als es draußen krachte. Das Donnergrollen war jetzt direkt über ihnen. Blitze zuckten am Himmel wie Tatortaufnahmen.

Auf dem Bild war ein kleiner Junge zu sehen. Vielleicht war es Karl. Der Junge saß auf dem Schoß seiner Mutter und schlief, während die Mutter still und in sich gekehrt auf einem abgewetzten Sofa saß. Sie schaute nachdenklich und ein wenig sorgenvoll zur Decke, während der Junge, wie in Gottes Armen, auf ihrem Schoß schlief. Es war ein Bild des Friedens und der Geborgenheit, als trüge die Mutter einen kostbaren Schatz.

Für immer behalten, stand in einer krakeligen Schrift auf der Rückseite des Fotos. Es war die Schrift eines kleinen Jungen.

Dann ein anderes Foto.

Von der Polizei.

Es zeigte denselben Jungen, vielleicht ein bis zwei Jahre älter.

Ein dunkler Flur.

Auf dem Flur eine Frau, der das Blut aus der Nase lief.

Und der Junge lag neben ihr und hielt sie fest.

Auf der Rückseite dieses Fotos stand nichts.

Irgendetwas sagte Clara, dass diese Frau Karls Mutter war, die damals stundenlang tot auf dem kalten Flur der Wohnung gelegen hatte, während ihr kleiner Sohn an ihrer Seite die Totenwache hielt.

Clara fasste einen Entschluss. Sie würde Karl das erste Foto in die Zelle bringen. Das Foto von Weihnachten. Er würde es bestimmt bis an sein Lebensende behalten. Wie er es vorher schon getan hatte.

Kann ich ihm böse sein?, fragte sich Clara. Auch wenn er sie für immer in dem Raum mit den Leichen festhalten wollte? Auch wenn sie ohne Hermanns Scharfsinn vielleicht niemals befreit worden wäre? Auch wenn er am Ende nicht besser gewesen war als die Schuldigen, die er bestrafen wollte? Weil er in Kauf genommen hatte, dass Unschuldige grausam starben? Barbara Färber, Martha Gerling und Tobias Steffen, die alle nichts dafür konnten, dass ihre Angehörigen schlimme Fehler gemacht hatten?

Doch hassen konnte Clara ihn trotzdem nicht. Sie konnte ihm nicht einmal richtig böse sein. Sie konnte auch sein Verhalten nicht in Bausch und Bogen verurteilen, auch wenn er die Strafe, die er bekommen würde, mehr als verdient hatte.

MacDeath hatte über Psychopathen gesprochen. Sie können sich perfekt anpassen. So wie Karl. War er deshalb auch ein Psychopath?

Nein. Es war bloß ein verletzter Junge, der immer ein verletzter Junge geblieben war. Und irgendwann war er stark genug und seinem Alter weit genug voraus gewesen, um dafür zu sorgen, dass er nie wieder verletzt wurde.

Er war ein Killer. Aber er war kein Psychopath, kein typischer Serienmörder.

Die Erkenntnis traf Clara mit brutaler Klarheit.

Jeder kann zum Killer werden, wenn die Umstände entsprechend sind.

Clara hatte kein Mitleid mit Gewalttätern, die Menschen zu körperlichen und geistigen Krüppeln machten und für die der Richter dann auch noch Verständnis hatte, weil sie ja eine so schwere Kindheit durchmachen mussten. Sie hatte kein Mit leid mit Serienmördern, auch wenn sie noch so gestört und von Albträumen geplagt waren, denn schließlich waren sie es, die bestialisch töteten, nicht ihre Opfer oder der Staat oder die Gesellschaft. Je länger Clara in diesem Job arbeitete, desto nachdrücklicher vertrat sie die Meinung, dass man als Erstes selbst für sein Tun verantwortlich war. Wer als Bürger seine Rechte und seine Mündigkeit wahrnehmen wollte, musste am Ende auch für seine Taten geradestehen.

Doch hier war es anders. Hier war jemand zu einem Monster geworden, weil fast alle Instanzen versagt hatten.

»Kommst du?«, fragte MacDeath.

Clara war so in das Foto versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie MacDeath aufgestanden war.

»Karl ist jetzt mit dem ersten Verhör durch. Ich nehme an, wir können zu ihm. Er sitzt in Moabit in U-Haft. Komm, schauen wir ihn uns mal an.«

Clara merkte, dass MacDeath immer noch nicht fassen konnte, dass ausgerechnet sein Praktikant ein Serienmörder war.

Clara wusste nicht, warum sie mit wollte. Aber sie wollte mit. Es war kein Triumph, den sie Karl entgegenhalten wollte. Kein »Sieh her, ich bin frei, und du bist im Knast«.

Vielleicht war es eine Form der Anteilnahme. Und der Wunsch, diesen Menschen irgendwie zu verstehen.