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Das Kriminalgericht Moabit in Berlin, auch Großes Strafgericht genannt, war ein beeindruckendes Bauwerk aus dem neunzehnten Jahrhundert und schon von Weitem sichtbar, denn es trug den Zusatz »groß« zu Recht. Die zwei Türme erhoben sich sechzig Meter in die Berliner Luft und ließen den Bau wie eine Mischung aus Festung und Kirche erscheinen – ein Ort irdischer Gerichtsbarkeit, der den Betrachter schon durch seine schiere Größe einschüchterte. Allein die Front zur Straßenseite der Turmstraße war zweihundert Meter breit.

An diesem Ort waren die Prozesse gegen die Mitglieder des Zentralkomitees der SED geführt worden, auch gegen Honecker. 2500 Mitarbeiter, 270 Richter und 350 Staatsanwälte arbeiteten in dem riesigen Gebäude, in dem 1300 Untersuchungshäftlinge aus achtzig Ländern auf ihr Urteil warteten.

Das riesige Treppenhaus mit seinen verschlungenen Wendeltreppen empfing den jungen Mann wie eine Höllendarstellung bei Dante – ein Gewirr aus endlosen Treppen, die sich eindrucksvoll zur Decke hin zogen, als wäre dies die vorletzte Instanz des Absoluten, und nur noch Gott als letzte Instanz könnte das Urteil des Gerichtes infrage stellen. Sowohl die Angeklagten wie auch die Besucher sollten von der gigantomanischen Architektur der wuchtigen Eingangshalle mit ihren geschwungenen Treppen beeindruckt und bestenfalls abgeschreckt werden.

Zumindest galt das für die Besucher. Die Untersuchungsgefangenen wurden über versteckte Gänge und Treppen zum Gerichtssaal geführt. Dadurch wollte man den Kontakt zu den Zeugen möglichst klein halten und die unfreiwillige Zusammenkunft mit Publikum verhindern.

Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand, besagte ein alter Spruch. Und auch, wenn er nicht sicher war, ob er an Gott glaubte, hoffte der junge Mann auch auf den Beistand Gottes, als er gemeinsam mit seiner Freundin das riesige Portal durchschritt, vorbei an der Sicherheitskontrolle, wo sie ihre Ausweise zeigen und ihre Taschen durchsuchen lassen mussten, nachdem sie bereits einen Metalldetektor passiert hatten.

Draußen war der blecherne Lärm eines hochgezüchteten Motors zu hören. Kurz darauf fuhr ein aufgemotzter schwarzer Wagen vor, eines dieser Autos, die teuer aussahen, ohne es zu sein. Lachend stiegen zwei junge Burschen aus.

Ein Stich durchzuckte das Herz des jungen Mannes, und sein Kopf ruckte zur Seite. Er sah, wie Sabine das Gesicht verrutschte und wie sich die Verzweiflung in ihre Züge fraß. Es waren die zwei Männer, die Sabines Leben zerstört hatten: Tom und Gerd. Ein dritter Mann im schwarzen Anzug folgte ihnen, lachend und scherzend. Er lief mit einer Aktentasche an ihnen vorbei und zückte den roten Ausweis, den Anwälte und Strafverteidiger vor Gericht tragen. Lässig ging er durch den Angestellteneingang, ohne Sicherheitskontrolle und ohne dass seine Tasche durchsucht wurde.

Er schien den jungen Mann und Sabine zu erkennen, denn er warf ihnen einen spöttischen Blick zu, als hätte er Mitleid mit den beiden armen Würstchen, die sich durch die Sicherheitskontrolle quälen mussten, obwohl sie gar nicht die Angeklagten waren.

Zwei weitere Männer, offenbar Angestellte des Gerichts, gingen ebenfalls an dem Pärchen vorbei. Misstrauisch beäugten sie den Anwalt und die beiden Angeklagten.

»Ein knallharter Konfliktverteidiger«, sagte einer und zeigte auf den Mann im schwarzen Anzug, der mit seinem roten Ausweis soeben die Sicherheitskontrolle passiert hatte.

»Der wird sie wieder raushauen«, sagte der andere. »Ist ja nicht das erste Mal, dass die beiden wegen so was vor Gericht stehen.«

»Hat der Typ schon so viele Tussen angebaggert?«

»Tom?«, sagte der andere Mann. »Der hat mehr Mösen gesehen als ’ne Klobrille.«

Dem jungen Mann rutschte das Herz in die Hose. In welche dreckigen Hände war Sabine geraten? Er konnte nur hoffen, dass sie diesen Satz nicht gehört hatte. Doch sie schien es mitbekommen zu haben. Mit bleichem Gesicht stand sie neben ihm an der Sicherheitskontrolle und hielt seine Hand mit solcher Kraft umklammert, als würde sie über einem Abgrund hängen.

Der Anwalt drehte sich zu ihnen um. Ihre Blicke trafen sich.

»Wir sehen uns gleich«, sagte er. Ein Lächeln, das es nicht bis zu seinen Augen schaffte, huschte über sein Gesicht. »Wenn wir durch sind.«

Es hörte sich an, als wären sie schon durch.

Es klang wie ein Todesurteil.

Aber nicht zu Sabines Gunsten.