7

Als Erstes sah Clara den Kopf, der die Treppe hinunterrollte. Es war der Kopf des Polizisten, dessen Blut der Wahnsinnige getrunken hatte. Der echte Polizist, der sie beschützen sollte und dafür mit dem Leben bezahlt hatte.

Dann hörte sie die zischende Stimme.

»Ich bringe ein paar Freunde mit«, sagte die Stimme. »Einer ist gerade die Treppe heruntergekommen, wenn auch nicht an einem Stück.«

Der Mann stand vor ihr. Der Mann, den sie auf dem Phantombild gesehen hatte. Der Mann mit der schwarzen Brille, dem grausamen Mund und den grauen Bartstoppeln, die wie Eisendraht aus seinem Kinn ragten.

Endlich stand sie dem Drachen gegenüber.

Er zeigte seine fauligen, schadhaften Zähne, als er verzerrt lächelte, wobei er Clara keine Sekunde aus den Augen ließ.

»Sie wollten sich ja nicht heraushalten, Frau Vidalis.« Er verzog das Gesicht zu einer höhnischen Fratze und schaute sie aus den schwarzen Tiefen seiner Brille an, fixierte sie wie eine Schlange das Kaninchen.

Dann schlug er ohne Vorwarnung zu.

Der Schlag riss Claras Kopf zur Seite und holte sie beinahe von den Füßen. Benommen blickte sie in das grausame Gesicht und hörte wie aus der Ferne die Stimme des Verrückten.

»Wissen Sie, wie Gott die Welt erschaffen hat? Und wie er sich darum kümmert, dass alles so läuft, wie er es will? Die zehn Gebote und der ganze Blödsinn?«, sagte er. »Er erschafft die Welt, wie das Meer die Kontinente erschafft. Indem er sich zurückzieht.« Er kam noch näher, schlug noch einmal zu. Diesmal konnte sie seinen Hieb abwehren, doch sie war erstaunt, was für eine gewaltige Kraft dieser Mann hatte. »Gott schweigt, Clara. Alles, was hier passiert, interessiert ihn nicht mehr. Und wenn doch«, er verstummte, leckte sich über die Lippen, »dann nur deshalb, weil er sich daran aufgeilt, statt es zu bekämpfen.«

Clara sah die Speichelfäden, die aus dem Mund des Mannes liefen wie bei einem tollwütigen Hund.

»Für Gott ist die Welt ein riesiger Hardcoreporno, den er sich sabbernd anschaut. Ein riesiger Snuff Movie mit einer Million Kanälen.«

Jetzt kam der dritte Schlag. Er traf Clara in den Magen, sodass sie sich keuchend nach vorn krümmte. Ihr Blick war verschleiert, als der Mann noch näher an sie herantrat. Sie wich zurück, hielt die Waffe fest umklammert. Sie sah, wie er auf die Heckler & Koch starrte, als würde er die Waffe gerne in den eigenen Händen halten.

Ich muss Zeit gewinnen, dachte Clara und wich noch einen Schritt zurück. Der Drache folgte ihr langsam. Er schien es zu genießen, die Sekunden vor ihrem Sterben auskosten zu können und ihre Angst, ihr Leiden in die Länge zu ziehen.

Nur sah die Wirklichkeit ganz anders aus.

Alles läuft nach Plan, dachte Clara. Mach nur so weiter, du Drecksack, und es wird genau so, wie ich es haben will.

»Gott hat die Welt nur erschaffen, um Kreaturen ins Leben zu werfen und sich dann an ihren Qualen zu weiden.«

Red du nur, du armer Irrer.

Er kam noch näher.

»Der Sinn des Lebens?«, zischte er, und wieder zeigte er seine schiefen, grabsteinartigen Zähne. »Er besteht darin, zu leiden. Gequält zu werden. Zu sterben. Mehr ist da nicht.« Er bleckte die Zähne und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mit unserem Leid sind wir nichts weiter als die Wichsvorlage eines gewaltgeilen Gottes.« Er blieb einen Moment stehen. »Zeit zu sterben, Frau Vidalis.«

Er sprang nach vorn, packte die Heckler & Koch und riss sie Clara aus den Händen. Grinsend richtete er die Waffe auf sie. Sein Gesicht war dem ihren ganz nahe. Dann spürte sie die Mündung am Bauch. Und seine Hand am Abzug.

»Du bist wertvoll für mich«, sagte er. Clara spürte seinen Atem, der nach Blut roch.

»Ich esse das Böse, ich trinke das Böse«, fuhr er fort. »Und du bist wertvoll, weil du viele Mörder getötet hast. Dein Wert sind all die Toten und ihre Toten, die du auf dem Gewissen hast. Ich werde deine Mörder in mich aufnehmen, das Böse in dir trinken wie blutigen Wein. Ich werde deine Seele fressen, und du wirst ein Teil von mir sein, wenn ich in der Hölle herrsche.«

Dann krachte der Schuss.

Beide erzitterten, als wären sie eins. Jäger und Beute.

Der Drache wurde durch den Rückstoß ein paar Zentimeter nach hinten geworfen. Gierig wartete er auf das Blut, das aus der Wunde fließen würde.

Clara spürte nichts. Sie fixierte den Drachen, während er die Waffe wegzog. Dann sank sie langsam zu Boden.

»Ich werde deine Seele fressen«, sagte der Verrückte. »Und mit deinem Körper werde ich interessante Dinge anstellen. Ich werde dir zuerst den Kopf abschneiden, ganz langsam, mit stumpfer Klinge, und ihn an die Wand hängen. Und dann …«

Weiter kam er nicht.

Er hatte nicht gemerkt, dass Clara, während sie zu Boden sank, das Messer aus ihrem Stiefel gezogen hatte. Das Messer, das sie nun, als sie aufsprang, in einem silbernen Halbkreis des Todes durch die Luft schwirren ließ, bis es mit einem hässlichen, knirschenden Geräusch in den Hals des Drachen drang. Sie hatte mit solcher Kraft zugeschlagen, dass die Messerklinge bis zum Heft im Hals des Mannes versank und die Spitze auf der anderen Seite wieder heraustrat.

Der Drache riss den Mund auf. Trotz seiner schwarzen Brille glaubte Clara, eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Schmerz und Panik in seinen Augen zu sehen. Sie hörte das hohle Krächzen, das tief aus seinem Rachen drang, während sein Mund sich mit Blut füllte, das sich über sein Kinn auf die Brust ergoss, während aus den Halswunden Fontänen von hellerem arteriellem Blut nach rechts und links spritzen.

Wie ein Springbrunnen des Grauens stand er vor ihr, taumelnd, die Waffe noch in beiden Händen. Dann öffnete er noch einmal den Mund, gab ein feuchtes gurgelndes Geräusch von sich und schlug lang zu Boden.

Er war in der Hölle angekommen.

Die Hölle, die er so sehr ersehnt hatte.

*

Der Drache war tot, weil er den Fehler machen musste, den das Böse zwangsläufig macht, weil es böse ist.

Claras Plan war aufgegangen.

Der Drache hatte geglaubt, er hätte sie mit ihrer eigenen Waffe töten können, weil er sicher gewesen war, dass Clara ihn mit dieser Waffe töten wollte. Denn in seiner Vorstellungswelt gab es keine Gnade, kein Erbarmen, keine Erlösung.

Nur, Clara hatte ihn nicht töten wollen, nicht mit dieser Waffe jedenfalls. Aber das hätte der Drache in seiner Hybris ohnehin nicht glauben können.

Und das hatte Clara sich zunutze gemacht. Deshalb hatte der Drache sterben müssen, nicht sie.

Der Körper des Drachen zuckte ein letztes Mal. Das Messer in seinem Hals sah wie ein groteskes Schmuckstück aus.

Clara dachte an die Worte Don Alvaros, die er ihr zum Abschied in Rom gesagt hatte und die wie Stimmen in ihrem Inneren gewesen waren, als sie den Plan, der sich auf diese Worte stützte, in die Tat umgesetzt hatte.

Stärke, die du nach außen trägst, kann sich gegen dich wenden. Gottes Kraft ist in der Schwachheit stark.

Clara zog dem Drachen die Waffe aus den Händen.

Die Waffe, die sie vorher mit Schreckschusspatronen geladen hatte.

Final Cut, Seelenangst, Todeswächter
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