23
MacDeath kam in Winterfelds Büro geeilt, hinter ihm Hermann, der einen offenen Laptop dabei hatte. Sein Gesicht war angespannt.
»Bingo!«, sagte MacDeath. »Die Suppe wird heiß!«
»Na, dann mal los«, sagte Winterfeld. »Je schneller wir Bescheid wissen, desto besser. Wir haben nämlich den Kontakt zu unserer Señora verloren.«
MacDeath hob die Augenbrauen. »Wie das?«
»Wahrscheinlich ist der Akku von ihrem Handy leer.« Er hob den Kopf und lockerte seinen Hemdkragen. »Also, was gibt’s?«
»Das Jugendamt hat zurückgerufen. Michael Wauer ist adoptiert worden. Es schien ihm lange Zeit gut zu gehen.«
»Also, das verstehe ich nicht«, sagte Winterfeld, rieb sich die Schläfen und trank einen Schluck von dem kalten Kaffee, der seit einer halben Ewigkeit auf seinem Schreibtisch stand. »Entweder ich räche mich sofort an allen, die mich verraten haben, oder ich vergesse das Ganze. Wieso wird er erst jetzt aktiv, wenn seine Mutter 1988 umgebracht wurde?«
»Dazu haben wir diese Daten hier gefunden«, ergänzte Hermann. »Ein weiterer Gerichtsprozess …«
»… in dessen Verlauf es bei Michael Wauer wohl zu einer Retraumatisierung kam.« MacDeath sprach den Satz zu Ende.
Winterfeld griff sich eines der Papiere wie ein Raubvogel, was gut zu seiner Adlernase passte. »Wurde der Prozess gegen den Mörder von Wauers Mutter wieder aufgerollt?«, fragte er.
»Nein, es ging um eine Sabine Schmidt, offenbar die Freundin von Wauer.«
»Wurde die auch umgebracht?«
»Nicht ganz«, sagte Hermann und öffnete einen der Aktenordner, während er seinen aufgeklappten Laptop zum Schreibtisch von Winterfeld balancierte. »Sie wurde vergewaltigt. Jedenfalls war das die Anklage.«
»Von wem?«
»Von einem gewissen Tom Sperlich.«
»Gibt es wenigstens den noch?«
»Wir haben den Namen durch die BKA-Datenbank gejagt. Sperlich ist seit drei Wochen als vermisst gemeldet.«
Winterfeld hob die Augenbrauen. »Ach was! Hat er sie damals wirklich vergewaltigt?«
»Laut Anklage ja. Wauer selbst hat im Namen seiner Freundin Anzeige erstattet. Allerdings«, MacDeath putzte seine Brille an seinem Hemd, »allerdings waren sie erst achtzig Stunden nach der Tat bei der Polizei. Zu der Zeit waren keine Vergewaltigungsspuren, kein Sperma und keine DNA mehr in Sabine Schmidts Vagina feststellbar. Und K.o.-Tropfen waren auch nicht mehr nachzuweisen.«
»Das heißt also, in dubio pro reo?« Winterfeld kaute auf seinem Kugelschreiber.
»Im Zweifelsfall für den Angeklagten, so ist es.« MacDeath klappte den Ordner zu.
»Wauer wurde also zweimal Unrecht zugefügt?«, fragte Winterfeld. »Erst wurde der Mörder seiner Mutter freigesprochen, dann dieser Tom Sperlich?«
»Richtig. Es war aber nicht nur der Prozess, der ihm den Rest gegeben hat. Es war seine Freundin selbst.«
»Wieso? Was hat sie denn getan?«
»Sie hat sich erhängt. Und Wauer war derjenige, der sie gefunden hat.«
Winterfeld blickte einen Moment starr aus dem Fenster. Das Vogelgezwitscher, das durchs offene Fenster drang, passte so gar nicht zu der beklemmenden, angespannten Atmosphäre. Schließlich drehte er sich um und schaute seine beiden Kollegen an. »Und das war die Retraumatisierung? Als er das Mädchen entdeckt hat? Von da an führte er seinen Racheplan durch?«
MacDeath nickte. »Jetzt ist er auch alt genug. Mit neunundzwanzig immer noch ziemlich jung, aber sehr viel handlungsfähiger als damals, das ist ja wohl klar. Bormann war eines der Opfer, die er direkt umbrachte. Sperlich vielleicht auch. Und die anderen auf diesem indirekten Weg.«
»Bormann auf jeden Fall«, sagte Winterfeld. »Wissen wir bei diesem Sperlich Näheres?«
»Wir sollten eine Suche starten«, sagte Hermann. »Vielleicht führt diese Spur zum Mörder.«
»Und dieser Mörder heißt Michael Wauer?«, schnaubte Winterfeld.
MacDeath und Hermann nickten.
»Und wir wissen nicht, wo er ist?« Winterfelds Kopf wurde langsam rot. »Der muss doch irgendwo gemeldet sein, verdammt noch mal!«
Beide schüttelten den Kopf.
»So einfach ist das nicht«, sagte MacDeath. »Laut der Dame vom Jugendamt hat er möglicherweise seinen Namen geändert. Mit dem alten Namen ist er jedenfalls nirgends mehr gemeldet.«
»Und den neuen Namen kennt keiner?«, bohrte Winterfeld nach.
»Ich habe das Jugendamt auf Rückruf«, sagte MacDeath. »Die können mir hoffentlich sagen, wer Wauer adoptiert hat. Vielleicht hat er den Namen dieser Familie angenommen.«
Winterfeld stemmte die Hände in die Hüften und setzte eine grimmige Miene auf. »Macht denen Beine! Sofort! Wir sind hier in einem Ermittlungsverfahren. Sagt denen, dass ich den Namen wissen will, und zwar in fünf Minuten. Sonst kriegen die ’ne Dienstaufsichtsbeschwerde an den Hals!«
MacDeath war sofort wieder am Telefon.