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Irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten.

Er hatte Sabine seit Tagen nicht mehr gesehen und hatte sie auch telefonisch nicht erreicht. Ihre Freundinnen wussten auch nicht, wo sie war.

Er hatte bei ihr geklingelt, hatte an die Tür gehämmert, aber Sabine hatte nicht aufgemacht.

Sie hatte ihn abends nach dem Gerichtstermin gebeten zu gehen. Sie müsse allein sein, hatte sie gesagt. Zeit für sich haben. Schon seit der Vergewaltigung hatte der junge Mann nicht mehr bei ihr übernachtet. Was dazu führte, dass er sich schuldig fühlte. Als wäre es nicht Tom gewesen, der sie vergewaltigt hatte, sondern er selbst.

Er war zu ihrer Psychologin gegangen. Auch sie hatte ihm gesagt, Sabine brauche Zeit. Die müsste er ihr lassen. Manchmal sei es besser, allein zu sein. Erst wenn man eine Sache mit sich selbst geklärt habe, so die Psychologin, könne man wieder die Hilfe anderer zulassen. Vorher nicht. Deshalb müsse er ihr Zeit geben, denn solche Dinge könnten dauern.

Doch er hatte keine Zeit. Das Ungewisse nagte an seiner Seele wie eine Ratte an einem halbtoten Menschen.

Schließlich hatte er Sabines Eltern angerufen. Er hatte sich ihre Nummer über die Auskunft besorgt, denn er hatte die Eltern vorher noch nie gesehen. Sie wohnten ja auch in einer fremden Stadt. Sabines Heimatstadt.

Sabines Eltern sagten ihm, auch sie hätten nichts von ihrer Tochter gehört. Sie hatten Sabine nicht erreicht. Hatten nichts von ihren Freundinnen erfahren. Jetzt seien sie kurz davor, zu ihr zu fahren, denn sie waren bei der Polizei gewesen, wo man ihnen gesagt hatte, sie könnten erst in ein paar Tagen eine Vermisstenanzeige aufgeben. Von der Vergewaltigung wussten offenbar weder die Eltern in der fremden Stadt noch die dortige Polizei. Es war ein Geheimnis, das Sabine niemandem anvertrauen wollte.

Der junge Mann hielt es nicht mehr aus. Er hatte seine Wohnung verlassen, hatte sich eine Brechstange besorgt und die Tür zu Sabines Wohnung gewaltsam geöffnet, auch wenn es nicht so einfach gewesen war wie in den Krimis.

Doch als er dann in Sabines Zimmer stand, wünschte er sich, er hätte die Tür niemals aufgebrochen. Wäre niemals in diese Wohnung eingedrungen. Hätte niemals gesehen, was er jetzt sah.

Das Zimmer, das Sabine bewohnte, war ein Loftzimmer mit drei Meter hoher Decke. Ihre wohlhabenden Eltern hatten ihr diese teure Wohnung gekauft, wahrscheinlich auch als Geldanlage. Die Wände bestanden aus roten Ziegelsteinen. Bad und Schlafzimmer waren nur durch hohe Stellwände voneinander getrennt. Früher war hier eine Textilfabrik gewesen; die dicken Stahlträger, an denen sich einst Kräne hin und her bewegt hatten, erstreckten sich von einer Stirnseite des Raumes zur anderen – ein Relikt aus einer industriellen Zeit, das heute retro-artig, rustikal oder einfach nur cool wirken sollte.

Doch dieser Stahlträger wirkte nicht cool. Er wirkte grausam. Genauso wie der Stuhl, der unter dem Stahlträger auf dem Boden lag. Und auch das Springseil, das an den Träger geknotet war. Das Seil hing mehr als einen Meter in die Tiefe. Das Seil, das Sabine stranguliert hatte. An einem Ende war ein Henkersknoten. Und in der Mitte des Henkersknotens war ein Hals, in den das Seil sich tief hineingefressen hatte. Unter dem Knoten ein schlaffer Körper. Darüber ein Kopf. Das Gesicht rot von gestautem Blut.

Ein Schwarm Fliegen summte um die Leiche, deren Geruch sich im Zimmer ausgebreitet hatte.

Der junge Mann blickte in das, was von Sabines Augen übrig war. Die Augen, die ihn immer so warm, so freudig angeschaut hatten, die aber irgendwann zwischen der Vergewaltigung und dem Prozess stumpf und leer geworden waren, wie um den nahenden Tod vorwegzunehmen, der kommen musste, weil es keine Alternative für sie gab. Diese Augen waren nun weit aufgerissen und milchig. Zugleich schien es ihm so, als läge ein Ausdruck des Vorwurfs darin, der ihn schaudern ließ.

Warum hast du es nicht verhindert?

Er sank auf die Knie. Seine Lippen zuckten. Tränen strömten ihm über die Wangen.

Er schrie lautlos, mit offenem Mund, nach außen hin stumm, während nach innen ein Orkan der Verzweiflung tobte.

Irgendwann kehrte seine Stimme wieder.

Jetzt waren seine Schreie zu hören.

Und er schrie und schrie.

Er schrie so lange, bis die Nachbarn die Polizei riefen.