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Das Leben in der Wohngruppe war ganz anders, als er es von zu Hause kannte. Der Junge lebte mit zwei Betreuerinnen und drei anderen Kindern in einer Wohnung. Kinderheime, sagte man ihm, gäbe es nicht mehr. Und so sei es ja auch viel familiärer.

Es war auf alle Fälle anders. Eigentlich war es besser.

Er hatte gelernt, sich wegzuducken, wenn jemand den Arm hob. Weil er wusste, dass danach ein Schlag kam. Aber hier kam kein Schlag. Er hatte immer die Minuten gezählt, bis jemand losschreien oder einen Wutanfall kriegen würde, wie er es von seinem Vater und dessen Nachfolger kannte, dem Freund, der Mama totgeprügelt hatte. Aber hier passierte nichts dergleichen.

Er hatte die Gesten der anderen gelernt, die man lesen musste, um zu überleben. Was das anging, war er wie eine Antilope, die einen Löwen beobachtet.

Er war mit Gewalt groß geworden. Wenn sein Vater oder später Kevin Bormann betrunken nach Hause gekommen waren, hatte der Junge die feinsten Signale wahrnehmen können: Wie ist er heute drauf? Wie muss ich gehen, mich bewegen, damit er nicht ausrastet? Schlägt er wieder Mama? Was muss ich tun, damit er nicht in mein Zimmer kommt?

Das alles brauchte er hier nicht. Niemand schrie. Niemand schlug ihn. Sicher, es gab Rangeleien mit den drei anderen Kindern und ab und zu Streit mit den Betreuern. Aber das Ganze kam ihm nicht schlimmer vor als ein Kriegsspiel auf dem Computer.

Ein Kriegsspiel für jemanden, der gerade aus einem echten Krieg zurückgekehrt war.

***

Irgendwann waren der Mann und die Frau gekommen. Beide waren Anfang oder Mitte vierzig, genau konnte der Junge es noch nicht schätzen. Sie waren lange mit ihm spazieren gegangen. Hatten mit ihm gesprochen. So, als wäre er schon viel älter, als er tatsächlich war. Was vielleicht daran lag, dass er weiter war, als es seinem Alter entsprochen hätte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass diese beiden Erwachsenen ihn ernst nahmen, was er vorher noch nie erlebt hatte.

Seine Betreuerin hatte ihm gesagt, sie hätten alle Anträge ausgefüllt, was immer das für Anträge waren. Und dass die Leute ihn, den Jungen, kennenlernen wollten, auch wenn er viel älter war als die Kinder, die normalerweise adoptiert wurden. Doch diese Leute, seine zukünftigen Eltern, hatten vor zwei Jahren ihren Sohn verloren. Er war bei einem Verkehrsunfall von einem abbiegenden Lkw übersehen worden. Er war nur drei Jahre älter gewesen als der Junge jetzt.

Nun war die schlimmste Zeit der Trauerphase für die Eltern vorbei, wie seine Betreuerin ihm sagte. Jetzt wollten sie einem anderen Kind ein Zuhause geben, eine Chance – auch sich selbst. Einem Kind, das ähnlich alt war wie ihr verlorener Sohn.

»Die beiden machen einen sehr tüchtigen und netten Eindruck«, hatte die Betreuerin zu dem Jungen gesagt. »Überleg dir, ob du bei ihnen bleiben willst.«

Der Junge sagte, er werde bis morgen seine Entscheidung treffen.

Aber eigentlich hatte er sich schon entschieden.