9
»Jetzt blicke ich endlich durch«, sagte Hermann, legte einen Stapel Ausdrucke auf den Tisch und schob die Papiere zusammen. »Kevin Bormann. In den Neunzigerjahren lief ein Prozess gegen ihn. Er war angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge.«
»Dann hat er Chantal Wauer umgebracht?«
Hermann nickte.
»Seine Freundin. Chantal Wauer. Er hat sie die Treppe hinuntergestoßen. Sie starb an einem Genickbruch durch den Sturz.«
»Was hat er gekriegt?«
»Zwölf Wochen Entziehungskur. Er war damals starker Alkoholiker. Ist dank des Zwanzigers an einer richtigen Bestrafung vorbeigeschrammt.«
Der Zwanziger, dachte Clara. Paragraf 20 Strafgesetzbuch, der Paragraf, der oft bei Unzurechnungsfähigkeit angewandt wurde.
»Hat es was gebracht?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber das ist ja auch nicht der Punkt.«
»Sondern?«
»Alle, die Opfer zweiter Ordnung unseres Killers sind, waren damals an dem Prozess beteiligt.«
»Auch Jochen Färber?«
»Ja. Er war der Polizist, der als Zeuge im Bormann-Prozess ausgesagt hat. Offenbar ist er damals mal von Nachbarn in die Wohnung der Wauers gerufen worden, weil es da ständig Prügeleien und Geschrei gab.«
»Und Gerhard Gerling?«
»Der war der Strafverteidiger von Bormann.«
»Und Sarah Steffen?«
»Die war damals schon Psychiaterin. Hat das Gutachten für Bormann geschrieben.«
»Was könnte das dann sein?«, fragte Winterfeld und blickte von einem zum anderen. »Eine Art Rachefeldzug?«
Hermann zuckte die Schultern und verbog eine Büroklammer, wobei er auf den Aktenstapel schaute. »Kann sein. Bormann rächt sich an allen, die ihm diese Strafe aufgebrummt haben. Der Polizist, der gegen ihn aussagte, der Strafverteidiger, der ihn nicht richtig verteidigt hatte …«
»… und schließlich«, schloss Winterfeld, »die Psychiaterin, die ihn durch ihr Gutachten in den Zwangsvollzug geschickt hat.«
Clara runzelte die Stirn. »Zwölf Wochen auf Bewährung?« Sie schaute die beiden Männer an und warf dann einen Blick in die Akten. »Das erscheint mir als Strafe aber nicht allzu drakonisch, um einen derartigen Rachefeldzug zu rechtfertigen.« Ihr Blick flog über die Akten. »Und hier steht auch noch, dass der Polizist die zahlreichen Prügelaktionen in der Wauer-Wohnung, wegen denen die Nachbarn die Polizei gerufen haben, eher heruntergespielt hat. Das passt doch alles nicht zusammen!«
»Tja«, sagte Winterfeld. »Die Wege des Herrn, und auch die der Menschen, vor allem die der Justiz, sind bekanntermaßen unergründlich. Außerdem, wer sollte es denn sonst gewesen sein? Chantal Wauer? Das Opfer? Die ist tot.« Er wandte sich an Hermann. »Da stehen doch bestimmt noch andere, die an dem Prozess beteiligt sind?«
Hermann nickte. »Der Richter, ein Schöffe, der Staatsanwalt …«
»Gut«, sagte Winterfeld. »Diese Leute sind sofort unter Polizeischutz zu stellen. Und wir werden diesem Bormann jetzt mal einen Besuch abstatten!«