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Clara fuhr die Allee Unter den Linden hinunter. Sie war gerade bei einem Treffen im Roten Rathaus gewesen und dort mit Mitarbeitern der Senatsverwaltung für Justiz zusammengetroffen, um die Pressekampagne zu koordinieren. Alle wichtigen Presseorgane der Stadt sollten die Vermissten auf ihren Landing Pages schalten.
Soweit der Plan.
Nur kam das Ganze leider mal wieder nicht so schnell in die Gänge, wie Clara es sich gewünscht hätte, vor allem, weil sie lang und breit den Zusammenhang zwischen den »Opfern erster und zweiter Ordnung« erklären musste. Dabei hatten die hohen Herrschaften sich ausgesprochen begriffsstutzig angestellt.
Gleichzeitig hatte Clara mit drei Einsatzbeamten einer größeren Tageszeitung einen Besuch abstatten müssen. Der Chefredakteur hatte behauptet, er habe Informationen zu Jochen Färber, die er aber erst in einem Artikel verwenden müsse, bevor er sie der Polizei zur Verfügung stellen könne.
»Schließlich«, hatte der Mann Clara mit schleimigem Grinsen gesagt, »haben unsere Leser das Recht darauf, die Dinge als Erste zu erfahren.«
»Okay«, hatte Clara gesagt, »wenn Sie Hardball spielen wollen, wir können das auch.« Dann hatte sie vom Staatsanwalt per Eilbeschluss eine Hausdurchsuchung bei der Redaktion besorgt, Begründung: dringender Tatverdacht der Vorenthaltung zweckdienlicher Informationen und Behinderung der Ermittlungsbehörden in einem laufenden Verfahren. Was am Ende darauf hinausgelaufen wäre, dass eine Hundertschaft die Redaktionsräume durchsucht und sämtliche Rechner, Festplatten und USB-Sticks konfisziert hätte. Dann hätte der Chefredakteur zwar nach wie vor seine Story gehabt, aber keine Plattform mehr, um sie zu veröffentlichen.
In Anbetracht dieser Aussicht hatte der Mann die Information dann doch freiwillig herausgerückt. Allerdings war es nicht der Jochen Färber gewesen, den Clara suchte, sondern ein Halb-Promi, der zufällig genauso hieß und nach erfolgter Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau geworden war.
Das LKA hatte die Bilder der Vermissten – Jochen Färber, Andreas Gerling und Sarah Steffen – nicht nur auf sämtliche Polizeiwebseiten gestellt, auch alle Medien sollten nun die Bilder auf ihre Webseiten stellen. Das funktionierte gut. Denn für die Medien waren schlechte Nachrichten gute Nachrichten.
Die Medien, dachte Clara. Mal waren sie Freund, mal Feind. Es tat ihr leid, dass es zwischen ihr und der Presse manchmal zu Verstimmungen kam. Denn eigentlich waren die Medien, gerade die Boulevardpresse, ihre Freunde und Verbündeten. Sie zeigten mit dem Finger auf die Wunde, sie zeigten das Grauen und die Schrecken, die es in dieser Stadt gab, und sie verschafften Bellmann, dem Chef des LKA, damit immer genug Munition, wenn es in die jährlichen Budgetverhandlungen ging. Würden die Medien nicht immer die Steine dieser Stadt umdrehen und zeigen, welche Maden und Würmer darunter herumkrochen und welche Leichen dort lagen, Clara wäre nicht sicher, ob es in Berlin überhaupt noch ein LKA gäbe.
Auch bei der aktuellen Story hatten die Medien gleich angebissen. Denn die Geschichte von einer vermissten Person, nach der alle mit Hochdruck suchen, war immer eine gute Story. Clara hatte mal in einem Medientraining für LKA-Mitarbeiter gelernt, was Journalisten hören wollten. Dinge müssen neu sein: Rockstar XY hat seine Frau verprügelt. Oder es mussten Tabu-Themen sein: Rockstar XY steht auf Analsex mit Hunden. Darum war auch der Namenlose, den die Medien als »Facebook-Ripper« bezeichnet hatten, so beliebt gewesen. Auch wenn er selbst an die Presse gegangen war. Stets ein Renner waren auch Exklusivberichte, bei denen es um Ereignisse ging, von denen der 08/15-Bürger in der Regel ausgeschlossen war: Stargala im Ritz mit anschließendem Schneepolo zum Beispiel. Oder wenn es um Dinge ging, die mit Gefahr verbunden waren, etwa nach dem Motto: Wenn die Eurokrise so weitergeht, sind wir alle unser Erspartes los.
Doch am Ende lief alles auf die vier »T« hinaus.
Titten, Tiere, Tränen, Tote.
Und wenn es kein spannendes Thema gab, galt die einfache Regel: Haste keins, erfinde eins.
In Claras Job war es mit den Medien, wie es privat mit den Männern war. Mit ging es nicht. Ohne aber auch nicht.
Clara fuhr am Pariser Platz vorbei und sah das Brandenburger Tor flirrend in der Sommerhitze stehen.
Demonstranten zogen über die Glinkastraße. Schafft die Polizei ab, stand auf den Transparenten. Vorne und hinter dem Demonstrationszug liefen Polizisten, die die Demonstranten schützten.
Polizeischutz für eine Demo, die die Abschaffung der Polizei fordert, dachte Clara. Manchmal fragte sie sich, ob sie den richtigen Job hatte und was mit diesem komischen Land, in dem sie lebte und für das sie arbeitete, eigentlich nicht stimmte. Und ob sie nicht besser auswandern sollte.