16

Die Dämmerung war heraufgezogen. Einige der Regentropfen, die draußen im Licht der Deckenlampen aufblitzten, fielen durch das offene Fenster in den Flur der dritten Etage des LKA, das Winterfeld wieder einmal geöffnet hatte, diesmal ohne zu rauchen. Aber vielleicht minderte das offene Fenster seine Entzugserscheinungen.

Clara hatte kurz zuvor mit der Spurensicherung telefoniert. Am Freitagabend hatte Gayo zuletzt eine Handynummer angerufen. Nun versuchten die Ermittler festzustellen, wer hinter dieser Nummer steckte. Außerdem war auf Gayos Schreibtisch das Fax eines Handwerksbetriebes gefunden worden. Angeblich sollte am Samstag das Parkett abgeschliffen werden – am Wochenende, damit die Mitarbeiter nicht gestört wurden.

War das der Grund, weshalb der Mörder Franco Gayo aufs Parkett nageln konnte, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte? Aber warum hatte Gayo nicht geschrien? Warum hatte niemand etwas bemerkt?

Kurz nachdem Clara zurückgekommen war, hatte sich eine Schwester Viktoria aus dem Kinderheim »Schutzengel« bei Hermann gemeldet. In dem Heim lebten Kinder, die missbraucht oder misshandelt worden waren, viele von den eigenen Eltern. Eines der Kinder, Lukas, hatte von einem Fremden einen rätselhaften Umschlag erhalten, in dem sich – so Hermann – ein USB-Stick befand. Schwester Viktoria hatte ihn sich angeschaut, aber wenig von dem verstanden, was darauf zu sehen war. Doch sie war von dem Inhalt so alarmiert gewesen, dass sie sich an die Kriminalpolizei gewandt hatte.

Doch nicht nur seines Inhalts wegen, der die Schwester so verschreckt hatte, war der USB-Stick von größtem Interesse für die Ermittler. Es war auch der Name, der auf dem Stick eingraviert war. Vier Buchstaben, die allen gezeigt hatten, dass es hier einen Zusammenhang gab, den man nicht übersehen konnte.

Vier Buchstaben. G A Y O.

Morgen kam Schwester Viktoria noch einmal zu einem Gespräch ins BKA. Außerdem würde man versuchen, von dem kleinen Lukas Informationen über den rätselhaften Fremden zu erhalten, der ihm den Umschlag mit dem Stick gegeben hatte, auch wenn der Junge aufgrund traumatischer Erlebnisse nicht sprechen konnte. Die Phantomzeichner der Polizei waren bereits informiert.

Der grässliche Anblick am Tatort erschien wieder vor Claras Augen. Der auf den Boden genagelte Leichnam Gayos. Die Klinge, die obszön aus seinem Mund ragte, nachdem sie eine siebzig Zentimeter lange Schneise aus Schmerz, Grauen und Tod durch seinen Körper geschnitten hatte. Der Schriftzug an der Wand. Mein Name ist Legion. Tausende gibt es von mir.

Der schreckliche Mord im Quartier 101 in der Friedrichstraße hatte alle zutiefst verstört, doch in solchen Situationen, angesichts solch extremer Brutalität war es manchmal das Beste, bestimmte Routinen ganz bewusst beizubehalten, um einen klaren Kopf zu bewahren. Für Clara bestand eine dieser Routinen darin, mit Winterfeld zu sprechen, der nun am offenen Fenster die kalte Luft atmete. Clara stand fröstelnd neben ihm, die warme Kaffeetasse gegen die Brust gedrückt, und blickte auf die tief hängenden Wolken, die sich in der Dunkelheit der regnerischen Nacht verloren, während gleichzeitig die Bilder vom Tatort immer wieder vor ihrem inneren Auge aufblitzten wie Schnappschüsse aus der Hölle.

»So etwas habe selbst ich noch nicht gesehen«, sagte Winterfeld und schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, was ungewöhnlich ist? Normalerweise sind dermaßen brutale Morde mit einer Depersonalisierung des Opfers verbunden … Verstümmelungen, Gesichtsverletzungen und Ähnliches. Dem Opfer wird die Nase abgeschnitten oder die Haut abgezogen, alles, was dazu führt, dass es nicht mehr zu erkennen ist, keine Person mehr ist, nur noch leblose Materie. Aber das war hier nicht der Fall. Warum nicht? Was meinen Sie?«

»Die Inszenierung der Leiche hat irgendeine Bedeutung für den Täter«, sagte Clara. »Wie eine Art …«, sie suchte nach Worten, »religiöses Ritual.«

Winterfeld nickte. »Die Nägel, mit denen Gayo auf das Parkett genagelt wurde.« Er blickte auf Clara, während sich ein paar Regentropfen in seinen grauen Haaren verfingen. »Wie eine Kreuzigung.«

»Und das Schwert, das aus seinem Mund ragt«, ergänzte Clara. »Einerseits ist es eine Pfählung, andererseits hat es eine gewisse Symbolik.«

»Und welche?«, fragte Winterfeld.

»Aus dem Mund kommen die Worte«, sagte Clara. »Und ein böses Wort kann wie ein scharfes Schwert sein.«

Winterfeld nickte. »Klingt plausibel, aber hilft es uns? Und hat es etwas mit diesem Spruch an der Wand zu tun?«

Die Spurensicherung war gerade dabei, das Blut zu analysieren, mit dem der Spruch auf die weiße Tapete geschrieben worden war. Höchstwahrscheinlich war es Gayos Blut. Genug davon war jedenfalls vergossen worden.

Clara zog ihr Handy hervor. »Das könnte ich leicht bei Wikipedia checken«, sagte sie. »Mein Name ist Legion. Tausende gibt es von mir.«

»Wer ist damit gemeint?«, fragte Winterfeld. »Die Zeugen Jehovas? Die sind doch auch überall. Sagt jedenfalls mein Cousin in Kanada.«

Clara blickte ihn tadelnd an. Manchmal wusste sie nicht, ob Winterfelds Scherze dumm oder einfach nur geschmacklos waren, ähnlich wie bei von Weinstein. Aber vielleicht boten sie ihm einfach nur die Möglichkeit, all das Grauen, das er seit Jahrzehnten zu sehen bekam, ein bisschen besser ertragen zu können.

»Der Spruch kommt aus der Bibel«, sagte Clara. »Neues Testament. Markusevangelium, Kapitel fünf, Vers neun.«

»Okay, ein bisschen früh für die Zeugen Jehovas«, sagte Winterfeld, während er das Fenster wieder schloss. »Und worum geht es da?«

»Jesus treibt bei einem Besessenen einen unreinen Geist aus«, antwortete Clara. »Ich habe gelesen, dass bei jeder Dämonenaustreibung der Exorzist den Namen des Dämons erfragen muss. Jesus tut das auch.«

»Und was antwortet der Dämon?«

»Was hier an der Wand stand«, sagte Clara. »Mein Name ist Legion. Tausende gibt es von mir.«

Winterfeld atmete hörbar aus. »Ich will nur hoffen, dass es von diesem Irren nicht auch Tausende gibt.«

Sein Handy klingelte.

»Winterfeld … Ja … Klingt nicht gut. In Ordnung, können wir gleich vor Ort besprechen … Alles klar, wir sind in zwanzig Minuten da.« Er klappte das Handy zu.

Clara blickte ihn fragend an. »Was gibt’s?«

»Von Weinstein. Sie sind mit der Leiche fertig. Wir können vorbeikommen. Er hat zwei Nachrichten. Eine schlechte«, er lächelte gequält, »und eine schlechte.«

Clara zuckte die Schultern. »Die schlechte zuerst.«

»Der Tote ist Franco Gayo.« Winterfeld kniff die Lippen zusammen. »Das bedeutet schon mal Medienrummel.«

»Na super«, sagte Clara. »Wie haben sie Gayos Identität festgestellt?«

»Abgleich des Zahnstatus mit den zahnärztlichen Unterlagen.«

»Was noch?«

»Der Mörder ist nicht nur pervers, er scheint auch sehr intelligent zu sein.« Winterfeld steuerte sein Büro an. »Kommen Sie mit, Señora? Nach Moabit?«

Clara nickte.

»Dann fahren wir zusammen«, sagte er. »Treffpunkt in einer Minute hier, vale?«

»Vale«, sagte Clara.

Während Winterfeld mit schweren Schritten in sein Büro eilte, blickte sie noch einmal aus dem Fenster auf die Regentropfen, die draußen vor dem Fenster aufblitzten. Hunderte. Tausende.

Mein Name ist Legion, hallte es in ihrem Kopf, Tausende gibt es von mir.

Final Cut, Seelenangst, Todeswächter
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