Nachbemerkung des Autors

Wie in Die verlorene Bibliothek bilden auch in diesem Buch authentische historische Ereignisse und Entdeckungen das Fundament, auf dem die Story basiert. Die Geschichte des antiken Gnostizismus, genau wie der bemerkenswerte Fund der in Nag Hammadi entdeckten Schriften, ist für die akademische Welt sowie für die Allgemeinheit etwas Geheimnisvolles, Vieldeutiges und Faszinierendes. Beide bieten mehr als genug Raum für Spekulationen, wie wir sie in Der verborgene Schlüssel vorfinden.

Der Gnostizismus

Chris Taylors Bemühen auf dem Flug nach Kairo, die Grundidee der gnosis zu verstehen, vermittelt einen kleinen Eindruck davon, wie komplex das Studium dieses Gemischs an weltanschaulichen Traditionen ist, die unter dem Begriff »Gnostizismus« zusammengefasst werden. Zwar wurde schon 1966 bei einer Konferenz in Messina daran gearbeitet, eine allgemeine Definition des Begriffs festzulegen, doch die Historiker und andere Wissenschaftler streiten auch heute noch darüber, was der Gnostizismus denn nun tatsächlich war oder ist.

Die Grundzüge des antiken Gnostizismus sind, nach Ansicht der Mehrzahl der Interpreten, ein radikaler Dualismus, der behauptet, das spirituelle Reich sei heilig und die stoffliche Welt sei böse, und der Glaube, dass ein ganz besonderes mystisches, oftmals geheimes Wissen (gnosis) der Seele ermöglichen würde, ihre »Gefangenschaft im Materiellen« abzustreifen. Die gnostischen Gruppen waren zwar hinsichtlich einzelner Lehren und Doktrinen höchst unterschiedlich, doch sie griffen durchweg esoterische, mystische und geheime Traditionen auf, mit denen sie das »geheime Wissen« pflegten, das die Seele von ihrem Leiden erlösen und die Seele ins Reich spiritueller Freiheit eingehen lassen sollte. Sie waren zutiefst textfixiert und verfassten zahlreiche eigene Schriften wie auch gnostische Versionen bereits vorhandener Texte (etwa der Werke Platons, des Alten Testaments und frühchristlicher Dokumente).

Die christliche Kirche ging vom zweiten bis sechsten Jahrhundert hart gegen den Gnostizismus vor, unter anderem aus den Gründen, die Emily und Michael im Verborgenen Schlüssel nennen. In unserer Zeit ist zwar das Interesse am Gnostizismus wiedererwacht (vor allem seit der Entdeckung der Nag-Hammadi-Codizes im Jahr 1945), und bestimmte Wissenschaftler versuchen die Geschichte des Christentums zu dekonstruieren, um den frühgnostischen Gruppen ein größeres Gewicht zu verleihen, doch die Christenheit von heute reagiert auf gnostische Theorien und Vorstellungen im Grunde nicht viel anders als die Kirche in den ersten Jahrhunderten: Diese stufte die Gnostiker als eine Bewegung ein, deren Grundüberzeugung den fundamentalen Lehren über einen Schöpfergott zuwiderlief. Die fundamentale Unvereinbarkeit von Gnostizismus und Christentum hält allerdings manche nicht von dem Versuch ab, die beiden Glaubensrichtungen zu verschmelzen, und im zwanzigsten sowie einundzwanzigsten Jahrhundert hat gnostisches Gedankengut, genau wie Emily und Michael es erörtern, viele Stränge der New-Age-Spiritualität maßgeblich beeinflusst.

Das Große Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755

Das »Große Erdbeben«, das Mario Terageste als Grund für den Stimmungsumschwung in Italien des achtzehnten Jahrhunderts anführt, war ein historisches Ereignis, das Portugal am 1. November 1755 um 9.30 Uhr morgens erschütterte. Es gab damals noch keine Messinstrumente dafür, doch die Wissenschaftler schätzen heute, dass das Erdbeben eine Stärke von 9,0 oder gar 9,5 auf der Richter-Skala hatte, sein Epizentrum etwa zweihundert Kilometer entfernt vor der portugiesischen Küste lag und die Erschütterungen beinahe volle zehn Minuten dauerten. In Lissabon wurden die Gotteshäuser, die wegen Allerheiligen voller Menschen waren, ebenso wie der größte Teil der Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Zehntausende starben bei dem Erdbeben und dem Feuer, das anschließend in der Stadt wütete. Ein vom Erdbeben ausgelöster Tsunami traf die Küste in drei Wellen und kostete unzähligen weiteren Menschen das Leben, die auf Schiffe und Kähne an der Küste und auf den Flüssen geflohen waren, um sich in Sicherheit zu bringen.

Der Tsunami erreichte auch Großbritannien, Frankreich und Belgien, ja sogar Antigua und Barbados, wo der Meeresspiegel angeblich um mehr als einen Meter anstieg. Man schätzt, dass die Schockwellen des Bebens in einem weit mehr als drei Millionen Quadratkilometern großen Gebiet zu spüren waren – landeinwärts bis nach Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien sowie sogar bis nach Schweden. In Nordafrika wurde Algier verschont, doch Tanger wankte, und in Marokko starben etwa zehntausend Menschen. In Italien stellte der große Vulkan Vesuv, wie Mario berichtet, seine Aktivität ein, als das Erdbeben losging.

Solche Naturkatastrophen wurden in früheren Zeitaltern oftmals als Zeichen göttlichen Unmuts begriffen, und da dieses große Beben sich am Morgen von Allerheiligen genau zu dem Zeitpunkt ereignete, als die Gläubigen sich in den Kirchen versammelt hatten, galt das für dieses Ereignis in ganz besonderer Weise.

Die Nag-Hammadi-Bibliothek

Die dreizehn Codizes (in Wirklichkeit zwölf Codizes plus die Überreste eines dreizehnten), die 1945 bei Nag Hammadi gefunden wurden, enthalten einige der einzigen antiken gnostischen Schriften aus erster Hand. Unter den Wissenschaftlern wird heftig darüber debattiert, was die Sammlung genau darstellt: Ist es die Bibliothek einer gnostischen Sekte oder einer christlichen Klostergemeinschaft mit gnostischen Tendenzen oder die eines einzelnen Anhängers? Doch es besteht kaum ein Zweifel, dass es sich dabei um eine unserer frühesten – und bestimmt substantiellsten – Textsammlungen handelt, die in einem gnostischen Umkreis wichtig waren, wie angenommen wird.

Die Geschichte der Nag-Hammadi-Bibliothek, wie Emily und Michael sie Chris schildern, ist eine genaue Wiedergabe der Entdeckung dieser bemerkenswerten Sammlung. Die eigenartige Geschichte ihrer Auffindung und auch die langjährigen Fehden über die Eigentümerschaft und die Rechte der Wissenschaft, die den Inhalt der Texte jahrzehntelang einer breiteren Öffentlichkeit fast komplett vorenthielt, zählen zu jenen seltenen historischen Ereignissträngen, bei denen die Wahrheit genauso spannend (und bizarr) ist wie die Fiktion. Die ganze Bibliothek ist mittlerweile für interessierte Leser in einer preisgünstigen englischen Übersetzung zugänglich, diese wurde von James M. Robinson unter dem Titel The Nag Hammadi Library veröffentlicht [für die Übersetzung des vorliegenden Romans wurde eine deutsche Gesamtausgabe als Grundlage verwendet: Ursula Ulrike Kaiser und Hans-Gebhard Bethge (Hrsg.), Nag Hammadi Deutsch. Studienausgabe. 3. Aufl. Berlin/Boston 2013 – A. d. Ü.]. Allerdings ist der leichte Zugang zu online gestellten Abbildungen der Originale, wie er Emily und der Bruderschaft möglich ist, im Augenblick lediglich ein Produkt schriftstellerischen Wunschdenkens.

Die Highlights der Nag-Hammadi-Schriften sind, wie im Buch erwähnt, in Saal 10 des Koptischen Museums in Kairo ausgestellt. Sie gehören zu den bedeutendsten Manuskripten im Besitz des Obersten Rats für Altertümer und sind eine unvergleichliche Quelle für das Studium der vielschichtigen ersten Jahrhunderte des Christentums.

Die Gebete in Der verborgene Schlüssel

Die drei Gebete, die von der Bruderschaft in Der verborgene Schlüssel verwendet werden, sind authentischen gnostischen Texten – hauptsächlich der Nag-Hammadi-Bibliothek – aus den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung entnommen. In begrenztem Umfang habe ich von mir erfundene Zeilen darin eingestreut, durch die diese Zitate in die Romanhandlung voll und ganz integriert werden.

Das Initiationsgebet (das in Kapitel 3 von den Brüdern in Córdoba gesprochen wird) stammt mit leichten Abwandlungen aus dem Nag-Hammadi-Traktat Dialog des Erlösers (Codex III).

Das Wahrheitsgebet (das in Kapitel 39 im Chicagoer Tempel und dann nochmals in Kapitel 109 von Cerinthus während seiner letzten Vorbereitungen rezitiert wird) geht auf zwei Nag-Hammadi-Quellen zurück: Die erste Strophe ist aus dem Apokryphon des Johannes (Codex II), die zweite und dritte stehen im Wahrheitsevangelium (Codex I und ein zweites Mal in Codex XII) – in ebenjenem Text, der im Plot des Romans eine so wichtige Rolle spielt. In beiden Fällen habe ich zur Steigerung der Dramatik den Wortlaut leicht verändert.

Das Befreiungsgebet schließlich ist eine Mischung von Refrains aus verschiedenen Nag-Hammadi-Texten: namentlich aus den Traktaten Die Brontê (Codex VI), Wahrheitsevangelium (Codizes I und XII) und Die dreigestaltige Protennoia (Codex XIII). Nur einige wenige Zeilen dieses Gebets sind literarische Erfindungen für Der verborgene Schlüssel. Bei allen anderen handelt es sich durchweg um authentische gnostische Refrains.

Der verborgene Schlüssel
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