Kapitel 4

Hays Mews, London

Emily Wess saß auf der Couch im Wohnzimmer eines Hauses, das bis vor ein paar Stunden ihr und Andrew Schutz geboten hatte. Sein Leichnam, der seit den Schüssen im Eingang zu ihrem Arbeitszimmer auf dem Boden gelegen hatte, wurde gerade von den Forensikern der Metropolitan Police in einen Leichensack gepackt und auf eine Rollbahre gelegt.

»Dr. Wess, es tut mir schrecklich leid, in solch einem schwierigen Moment mit diesen Fragen fortfahren zu müssen.« Detective Inspector Joanna Alwell brach das Schweigen, das länger schien, als es der Fall gewesen war. »Doch leider sind da noch einige weitere Dinge, die ich mit Ihnen durchgehen muss, solange Sie die Ereignisse noch frisch in Ihrem Gedächtnis haben.« Alwell war seit mehr als drei Jahren Inspector, doch Augenblicke wie diese waren immer noch genauso schwierig wie zu Beginn ihrer Karriere.

Emily nickte, sagte jedoch nichts. Sie hatte sich vom Tatort zurückgezogen, als die Männer mit ihrer Arbeit anfingen. Die heißen Tränen, die ihr den ganzen Morgen lang über die Wangen gelaufen waren, begannen zu trocknen. Aber der Anblick, wie Andrews lebloser Körper von emotionslosen Männern in sterilen Overalls unsanft herumgehievt wurde, war zu viel für sie gewesen.

Sie hatte Andrew seit ihrer Kindheit gekannt und konnte sich nicht mehr an eine Zeit erinnern, da sie ihn nicht als festen Bestandteil ihres Lebens betrachtet hatte. Selbst jetzt, wo es ihr Beruf mit sich brachte, dass sie sich nur noch selten sahen, hatte Emily nie das Gefühl gehabt, dass dies der Nähe zwischen ihnen Abbruch getan hätte. Sein Leben war stets ein Teil ihres Lebens. Er war in Kindertagen der Starke gewesen, der einem burschikosen kleinen Mädchen half – das stets seiner selbst nicht sicher und weit entfernt von der Schönheit und kraftvollen Gelassenheit war, die es später erlangen sollte –, Selbstvertrauen und Stärke zu finden. Andrew war sich immer eines jeden Schritts, den er tat, sicher gewesen und hatte keinerlei Angst vor jenen gehabt, die ihm voraus waren. Wenn Emily das Abenteuer zu lieben lernte, dann nur, weil sie von diesem Mann, der es seit seiner Jugend liebte, so stark beeinflusst worden war.

Und genau das war sie geworden: eine Frau, die vom Unbekannten getrieben wurde und nach dem Geheimnisvollen und Unerklärten gierte. Ihr Vater hatte einst Emily und Andrew, als sie im Teenageralter waren, zu einer Ausstellung über die uralte Kultur der Sumerer ins Naturwissenschaftliche Museum mitgenommen. Ein Besuch, der Emilys Leben radikal verändern sollte. Alte Geschichte wurde zu ihrer neuen Leidenschaft, und sie und Andrew hatten mehr Wochenenden, als sie erinnern konnte, damit zugebracht, historische Szenen aus dem alten Rom wiederauferstehen zu lassen oder Entdeckungsexpeditionen im Park hinter dem Familiensitz der Logans zu wagen.

Andrew hatte ihre Kreativität, ihre Begeisterung und ihre Stärke gefördert. Plötzlich, angesichts ihres Verlusts, fiel es Emily schwer, auch nur einen Aspekt an der Frau, die sie geworden war, zu finden, den er nicht beeinflusst hatte.

Das war eine vernichtende, niederschmetternde, quälende Erkenntnis.

Detective Inspector Alwell beugte sich auf ihrem Sessel mit einem professionellen, aber auch mitfühlenden Gesichtsausdruck vor und lenkte so Emilys Aufmerksamkeit wieder auf ihre Fragen. »Und Sie sind sich sicher, dass es zwei Männer waren?« Sie warf einen Blick auf ihre Notizen, die sie an einem früheren Punkt der Unterhaltung geschrieben hatte; die fast wortwörtliche Mitschrift von Befragungen war beim Homicide and Serious Crime Command – der für Mord und Kapitalverbrechen zuständigen Einheit der Metropolitan Police – eine Standardprozedur. »Sie sagten, Sie hätten die Eindringlinge nicht wirklich gesehen. Könnten es nicht mehr Personen gewesen sein?«

»Nein, es waren zwei.« Der gleichmäßige Tonfall von Emilys weichem Akzent, der dem Mittleren Westen der USA entstammte, passte zum schlichten Beharren auf ihre Aussage. Seit Alwell hier am Tatort war, hatte Emily die meiste Zeit geweint – jedoch leise. Sie war emotional so tief getroffen, dass sie sich jenseits hysterischer Ausbrüche befand, die von der Ermittlerin möglicherweise erwartet worden waren.

»Dem Akzent nach war der eine aus dem Süden von London«, fügte Emily hinzu, »der andere hörte sich entfernt irisch an.« Sie wischte eine alte Träne von der Wange und versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern. Auf ihrem Schoß hatte sie die Hände so kräftig ineinander verschränkt, dass die gut gepflegten Fingernägel ganz weiß waren.

Alwell nickte. »In Ordnung, gut. Das ist sehr hilfreich. Können Sie sich erinnern, worüber sie vor den Schüssen sprachen?«

»Zunächst hörten wir nur Schritte und das Rascheln von Blättern. Sie waren zwei Türen weiter.«

Anstatt aufrecht, wie es normalerweise der Fall war, saß Emily nun gekrümmt da, und das kastanienbraune Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Der Ermittlerin war klar, dass sie eine Frau war, für die Trauer ebenso unbekannt wie unbehaglich war. Der traumatische Schock am Morgen wirkte sich auf ihr Äußeres und ihre Stimme aus.

»Die zwei haben das Haus durchsucht?«

»Mein Büro. Entweder wussten sie nicht, dass wir hier waren, oder … Nein, irgendjemand ist nachts immer da. Sie müssen geglaubt haben, sie wären so leise, dass wir nicht aufwachen würden.«

Emily machte eine Pause, ihre Gefühle drohten sie zu überwältigen. Mehr als alles andere wollte sie einen Telefonanruf machen, doch die Polizistin hatte darauf bestanden, dass sie zuerst ihre Fragen beantwortete.

»Nun, Sie sagen, Sie haben sich im Wandschrank versteckt – genau da drüben«, sagte Detective Inspector Alwell und deutete auf die Wäschekammer. »Konnten Sie, als Sie dort drin waren, irgendetwas hören?«

»Nicht perfekt, aber gut genug. Es war spät, rund um das Haus war alles ruhig, und die Wände hier sind dünn wie Papier.« Emily konnte auf einmal Andrew hören, wie er über die schlechte Isolierung des alten Hauses klagte, nachdem er es zum ersten Mal besichtigt hatte – wie er mit der Faust gegen eine Wand schlug und ein Echo nachahmte, das das Geräusch in jeden Raum trug. Dünn wie Papier.

Sie rieb sich mit den Fingern die Schläfen und zwang sich dazu, die Fassung wiederzuerlangen. »Obwohl sie leise sprachen, konnte ich ab und an einen Satz aufschnappen. Sie redeten davon, ›die Landkarte‹ zu finden, mit der, wie sie sagten, man einen ›steinernen Schlüssel‹ finden könnte, was immer das ist. Der Ire fragte den anderen aus, um sicherzugehen, dass sie das, weswegen sie gekommen waren, auch tatsächlich hatten, und der Mann aus London war davon überzeugt.«

Detective Inspector Alwell hielt Emilys Aussage in Kurzschrift auf einem Notizblock in ihrem Schoß fest. »Karte … Schlüssel … Das ist eine großartige Menge an Details, Dr. Wess.«

Emily nickte schwach. »Die Erinnerung ist kein Problem.« Sie besaß zeit ihres Lebens ein fast fotografisches Gedächtnis, und ihre Erinnerung an Gehörtes war fast genauso gut, was sie an den meisten Tagen als Pluspunkt ansah. Aber das hieß auch, wie sie nur allzu gut wusste, dass sie die Geräusche und Worte dieses Morgens nie mehr aus ihrem Kopf bekommen könnte. Sie würden sie für den Rest des Lebens begleiten – in all ihrer schrecklichen Klarheit.

»Ich würde alles dafür geben, diese Einzelheiten vergessen zu können.«

»Ich verstehe das«, antwortete Alwell automatisch. »Aber jede Einzelheit, die Sie uns mitteilen, kann uns helfen, die Männer zu finden, die das ihrem Ehemann angetan haben.«

»Cousin«, korrigierte Emily sie, ihr Blick blieb fest auf die Ermittlerin gerichtet. »Andrew war mein Cousin.«

Der verborgene Schlüssel
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