Kapitel 54

Vor dem Höhleneingang

»Da ist nichts«, bestätigte Michael ein zweites Mal. »Die Höhle ist knapp eins zwanzig tief und nicht einmal genauso breit. Die Wände und der Boden sind reines, glattes Felsgestein.«

Innerhalb weniger Augenblicke hatten Michael und Chris die Höhle wieder verlassen, die sie zuvor mit so großer Ungeduld betreten hatten. Ihre Mienen waren frustriert und enttäuscht. Gleichzeitig hatte der plötzliche Rückschlag bei ihnen den Adrenalinspiegel auf den Höhepunkt getrieben, und die Erschöpfung, die durch den Aufstieg hervorgerufen und bis jetzt von der Aufregung verdrängt worden war, holte sie nun rasch ein.

»Sie ist vollkommen leer«, pflichtete Chris bei. »Da ist keine Ausbuchtung und auch kein einziger Spalt in der Wand, wo man etwas verstecken könnte. Was immer da mal gewesen sein mag … jetzt ist es weg.«

Während Chris sprach, schaute Michael seiner Frau in die Augen, wo er zu sehen erwartete, dass sich ihre seelische Verletzlichkeit in Trauer verwandelte.

Doch stattdessen entdeckte er darin Entschlossenheit.

»Das ist nicht die Höhle«, sagte sie nur. Sie blickte suchend über das vor ihr liegende Gelände.

»Wie bitte?«, entgegnete Chris ungläubig. »Sie ist es eindeutig. Sie ist gut versteckt, schwer zugänglich und bei dem ›X‹ auf deiner alten Karte.« Er sah zu Michael hinüber. Ob Emily es nun hören wollte oder nicht – Realität war Realität. »Eine Enttäuschung ist manchmal schwer zu akzeptieren.«

»Ich bin nicht enttäuscht«, erwiderte Emily, bevor Michael die ganze Bedeutung von Chris’ Worten erfassen konnte und die beiden sich bemühen würden, sie zu trösten. »Ich sage euch, das ist nicht die Höhle. Hier ist der steinerne Schlüssel nicht versteckt.«

Chris warf die Arme frustriert in die Höhe und ging an die Kante des Felsvorsprungs. Er fühlte sich immer noch unbehaglich von dem Klettern sowie dem unguten Gefühl, verfolgt zu werden, das er nicht abzuschütteln vermochte. Die Höhle leer vorzufinden bedeutete noch mehr Frustration, aber das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass die Ehefrau seines Freundes die Realität leugnete, die direkt vor ihren Augen lag.

»Was bringt dich dazu, so etwas zu behaupten?«, fragte Michael, der in einem liebevollen Tonfall zu sprechen versuchte, obwohl er genauso frustriert war wie Chris.

»Das war zu einfach«, antwortete sie und schaute endlich wieder die beiden Männer an. »Ja, dazu war die Karte notwendig; ja, die Schatten verbargen sie gut; ja, es war ein steiler Aufstieg. Aber wenn man etwas über Generationen hinweg verstecken möchte, für wirklich lange Zeit, trifft das hier es schlichtweg nicht.«

»Hast du schon vergessen, dass dein Ehemann da unten bei diesem ›zu einfachen‹ Aufstieg fast gestorben wäre?«, protestierte Chris, als er sich ihnen wieder zuwandte.

Emily deutete auf die kleine Öffnung im Fels. »Ich sage ja nicht, dass die Höhle nicht schwierig zu erreichen oder leicht zu finden wäre. Aber ›schwer zu finden‹ ist nicht das Gleiche wie ›unmöglich zu finden‹. Wir suchen nach etwas Unmöglichem.«

»Oh, wenn es nur unmöglich ist, ist das auch kein Problem!« Chris bemühte sich nicht, seinen Sarkasmus zu kaschieren. »Komm schon, das ist sie! Sie ist an der Stelle, und sie ist leer. Da war offenbar schon jemand da, bevor wir gekommen sind.«

Emily holte den Ausdruck der Karte aus ihrer Jackentasche. Sie breitete das Papier auf dem Felsvorsprung aus und bedeutete den Männern trotzig, näher zu kommen.

»Nein, wir übersehen da etwas.« Sie setzte den Finger auf das letzte Kästchen, in der Nähe des »X«, das die Stelle markierte. Oder auch nicht. Michael trat näher und blickte ebenfalls auf das Blatt. Chris tat widerwillig das Gleiche.

»Wir haben die Anweisungen befolgt und es bis hierher geschafft«, bemerkte er, als er sah, dass Emily den Finger auf die Karte drückte. »Du kannst mir nicht erzählen, es bestünde ein Zweifel daran, dass wir uns an der Stelle befinden, an der das ›X‹ eingezeichnet ist.«

»Nein, ich stimme dir zu«, bestätigte Emily. »Doch da muss noch mehr sein.«

»Wartet mal«, sagte Michael. Er hatte den Blick nicht von der Karte abgewandt, und während Emilys Finger weiter auf dem »X« inmitten der Zeichnungen und Texte ruhte, ließ ihn Chris’ Bemerkung plötzlich aufhorchen.

»Sag das noch mal«, forderte er seinen Freund auf. »Deine letzten Bemerkungen. Wiederhol sie.«

Chris, der mit einem Mal verunsichert war, begann mit der Wiederholung seiner scheinbar harmlosen Äußerungen: »Wir haben die Anweisungen befolgt und es bis hierher geschafft …«

Michael schnitt ihm das Wort ab, bevor er fortfahren konnte, und rief mit zunehmender Heftigkeit: »Genau das ist es!« Er beugte sich näher zu der Kopie des Dokuments, während er weitersprach. »Wir haben die Anweisungen in Wirklichkeit gar nicht befolgt, nicht wahr? Auf dieser Seite steht mehr als nur das ›X‹.«

Michael streckte den Arm nach unten und hob Emilys Hand leicht an. Mit einem sanften Stoß veränderte er die Position ihres Fingers, der anschließend weder auf das »X« noch auf die von Hand gezeichnete Landschaft zeigte, sondern auf den Text, der die von der Karte gezeigte Route kommentierte.

»Wir brauchten diese Schritt-für-Schritt-Anleitungen nicht, um den Weg zu dieser Stelle zu finden«, setzte er hinzu und blickte Emily und Chris ins Gesicht. »Aber wir haben nicht in Betracht gezogen, dass die Anweisungen vielleicht nicht nur dafür gedacht sind.«

Emilys Gesicht leuchtete. Ihr Finger ruhte weiter auf dem handgeschriebenen Text, und dann, als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass Michael ihn auf einen ganz bestimmten Satz gelegt hatte: Es war der letzte auf dem Dokument, der vom Rest abgesetzt war und für sich allein stand. Der Satz, dem sie keinen Sinn abzugewinnen vermocht hatten.

REGULAE QUONDAM SPECTATAE

»Die zuvor gesehenen Anweisungen.« Michael wiederholte seine frühere Übersetzung des kryptischen Satzes. »Wir wissen immer noch nicht, was das bedeutet.« Als er das sagte, zog sich ihm der Magen zusammen. »O Gott, was ist, wenn sich das auf die erste Seite der Karte bezieht?«

»Die erste Seite?«, wiederholte Chris.

»Die Seite, die von den Dieben aus dem Haus gestohlen wurde. Wir dachten, wir hätten die Oberhand, weil wir den letzten Teil der Karte haben. Aber was ist, wenn zu ihrem Verständnis die erste Seite notwendig ist?«

Chris antwortete nicht. Wenn Michael recht hatte, gab es nichts, was sie tun konnten. Sie säßen in der Wüste ohne jede Weisung fest.

Schweigen. Die Luft war wie elektrisiert, als drei Köpfe über die Situation nachsannen. Als Emily endlich die Stille beendete, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

»Zuvor gesehen. Zuvor …« Sie hob den Blick und sah die beiden an. »Ich glaube nicht, dass sich das auf die andere Seite bezieht. Wenn jemand die zwei Teile hätte, würde er nach wie vor beide sehen. Der Ausdruck ›zuvor gesehen‹ würde die Situation trotzdem nicht treffen. Er ist zu ungeschickt formuliert.«

»Der Ausdruck ist alt. Vielleicht hörte er sich für lateinische Ohren nicht so sonderbar an.«

»Latein mag eine tote Sprache sein, aber sie ist nicht unsinnig. Sie bedeutet, was sie sagt.« Emily spielte im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch, bis schließlich eine neue Idee Gestalt annahm.

»Vielleicht bezieht sich das auf den zunächst sichtbaren Text – auf das Manuskript, unter dem die Karte verborgen war? Das wäre das, was ›zuvor gesehen‹ worden wäre auf diesem Blatt.«

»Der Text über die Katharer-Gemeinschaft?«, fragte Michael mit zweifelnder Miene. »Muss ich wirklich darauf hinweisen, dass wir hier nicht in Mont-Louis sind?«

»Vergiss den Standort, und vergiss, worum es in dem Text inhaltlich ging. Der Punkt ist: Beides bildete ein Dokument, von derselben Hand verfasst. Vielleicht war der Text, der auf die Karte geschrieben wurde, nicht nur eine Tarnung.« Während sie sprach, fielen ihr wieder bestimmte Besonderheiten an dem Manuskript ein. »Und du kannst dich vielleicht noch an diese Seite erinnern: Darauf stand etwas, das deine Aufmerksamkeit erregt hat. Etwas, das …«

»… durchgestrichen war.« Michael erinnerte sich an das einzig Auffällige in dem ansonsten makellos erstellten Manuskript.

»Das ist richtig. Der Fehler und seine Verbesserung, die uns zu dem Glauben verleitete, das Dokument sei ein Entwurf oder ein nicht offizieller Text. Aber vielleicht war dieser Fehler gar kein Fehler. Er könnte ein Zeichen sein. Vielleicht sind diese Worte genau diese ›zuvor gesehenen Anweisungen‹, auf die hier Bezug genommen wird.«

»Und wie lauteten sie?«, fragte Chris verwirrt, aber wissbegierig.

Emily schloss die Augen, dachte nach und sagte voller Überzeugung: »›Zweiunddreißig Hände Südwest‹. Die Zahl war mit einem Kreuz durchgestrichen und durch ›fünfunddreißig‹ ersetzt worden, aber ursprünglich stand dort ›zweiunddreißig‹.«

Wieder verfiel die Gruppe in Schweigen, und diesmal war es Chris, der es brach.

»Eine Hand ist eine einfache Maßeinheit, nicht?«

Der verborgene Schlüssel
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