Kapitel 17
Ladbroke Grove, London
Das Gebäude mit der Nummer 214 in der Huxley Street sah aus wie alle anderen Häuser des Viertels – und war es auch größtenteils. Es hatte zwei Geschosse, war nur zwei Zimmer breit und aus verblassten rotbraunen Ziegelsteinen erbaut, wie es sie in der ganzen Straße gab.
Das Zimmer, in dem Marcianus sich mit vier Brüdern versammelt hatte, lag im Erdgeschoss, und die Vorhänge vor dem einzigen Fenster waren dicht zugezogen. Der Raum wurde von einer Reihe Neonröhren erleuchtet, die in einer besonderen Weise installiert waren. Sie hingen tief, damit sie das meiste Licht auf den großen Metall-Arbeitstisch warfen, der das Zimmer fast vollständig einnahm. Auf dem Tisch standen ein Set flacher Kunststoffschalen, eine jede knapp vier Zentimeter tief, sowie eine große Menge kleiner Flaschen, Phiolen und penibel beschrifteter Behälter.
»Mach sie auf!«, befahl der Große Anführer. »Wir haben lange genug gewartet.«
Am anderen Ende des Tisches öffneten zwei Wissende die rote Mappe, die sie am frühen Morgen erhalten hatten, und entnahmen ihr mit behandschuhten Fingern das einzelne Blatt, das darin zwischen Schaumstofflagen ruhte.
Das starke bläulich-weiße Licht der Leuchtstoffröhren ließ die Farbe des alten Manuskripts etwas blasser wirken, aber selbst in der antiseptischen Umgebung der Werkstatt hatte es etwas Majestätisches an sich. Alle im Raum empfanden eine angemessene Ehrfurcht.
»Sieht immer noch nicht nach einer verdammten Karte aus«, flüsterte einer der Männer fast unhörbar. Marcianus vernahm dennoch die Bemerkung und lächelte.
»Mittlerweile solltest du wissen, dass du dich nicht vom äußeren Anschein täuschen lassen darfst«, erwiderte er mit lauter Stimme. »Du weißt, was die alten Schriften sagen: ›Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar würde.‹«
Der Mann sah aus, als ob er eine Frage stellen wollte, doch eine Geste des Großen Anführers hielt ihn davon ab. Marcianus hatte die Absicht, die restlichen Vorbereitungen selbst zu überwachen. Sein Leben würde in den nächsten Tagen eine rasante Abfolge von Aktivitäten sein, und er wollte diesen Augenblick voll auskosten und in dessen Heiligkeit schwelgen.
Marcianus war im Herzen ein einfacher Mann. Er hatte stets geglaubt, dass Einfachheit die größte Tugend war, um spirituelle Erleuchtung zu erlangen, selbst wenn es oftmals erforderlich war, diese Einfachheit in komplexe organisatorische Arrangements zu kleiden. Im Kern jedoch musste die Seele eines Mannes die nackte und einfache Wahrheit erkennen – was Marcianus seit jeher getan hatte. Deshalb hatte ihr Gründer in ihm einen geeigneten Nachfolger gesehen, deshalb unterwarfen sich Männer und Frauen auf der ganzen Welt der Wahrheit, die er vermitteln konnte. Und deshalb war ihm, als er endlich die echte Einfachheit des Weltenendes gesehen hatte, der Weg nach vorn so klar geworden. Die Zeit der Vorbereitung war vorbei. Die ultimative Mission seines Lebens war konkret geworden: den Brüdern zu zeigen, dass das Ende bereits gekommen war, und die große Befreiung von einem Objekt der Erwartung und Hoffnung in eine greifbare, aktuelle, endgültige Realität zu transformieren.
»Bringt die Mixturen in die richtige Konsistenz«, befahl er.
Nah an seinem Tischende mischten zwei Brüder flüssige Ingredienzen in jeder der drei Plastikschalen an. Eine alte, in Leder gebundene Kladde lag aufgeschlagen auf einem Pult zwischen ihnen, und die Männer rührten die Lösungen nach den Rezepten an, die auf den brüchigen Seiten in einer alten Handschrift geschrieben standen.
Das Buch. Das Dokument, das ihnen so lange als Führer gedient hatte – und das hier war das Original, nicht weniger. Dieser heilige Band war für ihre Gemeinschaft so etwas wie ihre heilige Schrift.
Die Brüder, die an den chemischen Mixturen arbeiteten, ließen sich Zeit, um sicherzugehen, dass die Mengen und Anteile aller Bestandteile exakt abgemessen waren. Der Vorgang hatte schon gut zwanzig Minuten gedauert, als schließlich einer der Chemiker zu Marcianus hochblickte.
»Meister, die Lösungen sind fertig.«
Der Große Anführer nickte und deutete auf die Männer am anderen Ende des Tisches. Ehrfürchtig hob der Mann auf der linken Seite das Manuskript hoch und reichte es dem Wissenden, der vor der ersten Schale stand.
Marcianus hielt inne. Sein ganzes Leben lang hatte er seine Vorliebe für pathetische Begriffe und Wendungen, die ihrem Erbe so angemessen waren, mäßigen müssen, um sicherzustellen, dass seine Botschaft auch wirklich jene erreichte, die sie hören mussten. Stattdessen hatte er in beruhigendem Tonfall und nicht einschüchternden Worten gesprochen. Das war sein politisch gebotenes Zugeständnis an die Erfordernisse seines Amtes. Doch heute Abend war er von wahren Gläubigen umgeben, die sich der Großartigkeit ihres Tuns vollauf bewusst waren. Er konnte mit all dem Pathos sprechen, das dem Augenblick gebührte.
»Lasst uns heute Abend das offenbaren, was so viele Generationen lang verborgen gewesen ist«, ordnete er an, während er voller Stolz vor seinen Männern stand.
Die Hände des Chemikers zitterten. Der Moment war fast zu viel für ihn. Er wusste, er hatte nur einen einzigen Versuch. Wenn es nicht funktionierte – wenn er die Mixturen nicht ganz exakt gemischt hatte –, würde das Manuskript zerstört und ihre Chance für immer vertan sein. Eine zweite Gelegenheit würde es nicht geben. Aufgrund seiner Nervosität verließ ihn jeglicher Mut, und er stand plötzlich in regloser Erstarrung da.
»Beginne mit der Freilegung!«, befahl Marcianus und deutete auf die Schale.
Der Chemiker wurde durch diese Worte aus seiner Bewegungslosigkeit gerissen und kam der Anordnung des Großen Anführers nach. Mit all der Selbstsicherheit, die er aufzubringen vermochte, tauchte er das alte Pergament in die Lösung, die daraufhin vor ihren Augen über dessen Ränder rann und es vollständig bedeckte.