Kapitel 101
Koptisches Museum, Kairo
Während der Entschlüsselung der Ingredienzen für die Lösungen hatte niemand mehr auf Michael geachtet. Er war von Marcianus’ Männern brutal misshandelt worden, bevor Emily das Bewusstsein wiedererlangte, und als sie wieder bei Sinnen war, hatte man ihn noch schlimmer gefoltert. Aber als sie dann gehorchte, hatten die Männer ihn sich selbst überlassen, ihn ignoriert und allein unter der Schmach leiden lassen, wie sie glaubten. Es waren Emilys Fertigkeiten, nicht die seinen, die sie brauchten. Michael war ein gebrochener Mann – niedergeschmettert, besiegt, für einen notwendigen Zweck benutzt und danach nicht mehr länger von Bedeutung.
Das aber war eine blinde Vermutung, die, wie Michael klar wurde, sein einziger Vorteil war.
Anstatt zu protestieren, machte er sich die Dunkelheit und die abgelenkte Aufmerksamkeit von Marcianus und seinen Männern zunutze, um die Bewegungen seiner unversehrten Hand zu verbergen. Es gab auch etwas Positive daran, dass er zuvor so übel zugerichtet worden war: Seine Angreifer hatten ihn nicht so gut gefesselt wie seine Frau. Seine Beine waren zwar schwer geschunden, aber nicht festgebunden worden, und seine Arme hatte man nur in Höhe der Handgelenke an den Stuhl gefesselt. Die Annahme, er sei zu verletzt, um fliehen zu können, wäre wohl auch zutreffend gewesen, hätten sie nicht vor seinen Augen seine Frau bedroht.
Geräuschlos und geduldig schob er seine gesunde Hand in den Seilschlingen vor und zurück. Bei jeder Bewegung gab der Knoten ein wenig nach – zwar nur den Bruchteil eines Millimeters, aber Michael war bereit, sich mit größter Ausdauer darum zu bemühen, seine Fesseln zu lösen. Die lange Arbeit an der Entschlüsselung, Marcianus’ Telefonate und die Vorbereitungen der Gruppe: All das zog sich hin. Die ganze Zeit hindurch lockerte Michael mit sanften Bewegungen, aber steter Regelmäßigkeit die Fesselung um seinen Arm.
Schließlich konnte er seine Hand herausziehen und mit ihr auch die Fessel am linken Handgelenk lösen. Ein spitzer Schmerz schoss ihm bei jedem Hin- und Herschieben, wenn seine gebrochenen Knochen ins Fleisch und in die Nervenstränge schnitten, fast durch den gesamten Körper. Doch er wankte nicht in seiner Entschlossenheit.
Als Marcianus zum zweiten Mal sein Telefon benutzte und mit seinem Hauptpartner in Chicago sprach, hatte Michael sich befreit. Und eines war ihm klar: Der Mann musste gestoppt werden.
Michaels Augenblick war gekommen, als Marcianus nach unten schaute und damit beschäftigt war, das Telefonat zu beenden und das Gerät wieder in die Tasche zu stecken. Der Chemiker hatte seine ganze Konzentration darauf gerichtet, seine Pasten auf eine neue Seite aufzutragen. Seine Mitbrüder bildeten einen Halbkreis um ihn, und ihre Blicke galten allein der Aufgabe vor ihnen. Der Kopf des Übersetzers war gesenkt, sein Verstand auf seine Arbeit konzentriert. Eine bessere Gelegenheit würde sich nicht bieten.
Michael nahm all seine Kraft zusammen, erhob sich von seinem Stuhl und warf sich nach vorne. Sein Ziel war die Gürtellinie des Übersetzers, wo eine kleine Pistole in einem nicht verschlossenen Holster steckte. Als er in den Mann krachte, um ihm die Luft zum Atmen zu nehmen und den eigenen Sturz aufzufangen, machte sich Michael das Überraschungsmoment zunutze und packte mit der gesunden Hand die Waffe. In nicht mal einer Sekunde hatte er den Chemiker in halber Höhe des Tisches anvisiert und ihm in jedes Bein eine Kugel gejagt. Dann streckte er den Arm aus und schwang die Waffe zu Marcianus herum.
»Keine Bewegung!«, befahl er. Sein Atem ging stoßweise, von seinem verletzten Arm aus jagte der Schmerz durch den ganzen Körper, und seine geschundenen Beine pochten. Er nickte zu dem Chemiker hinüber, der sich nun am Boden krümmte: »Dass ich die Beine getroffen habe, war kein Zufall. Das nächste Mal ziele ich höher.«
Es war kein Zufall gewesen, aber doch verfluchtes Glück. Er hasste Waffen, aber das bedeutete nicht, dass er nicht damit umgehen konnte.
Marcianus schaute angesichts der unerwarteten Unterbrechung verblüfft drein, und all seine Männer erstarrten.
»Sie«, befahl Michael, wobei er die Waffe zu einem anderen Mann schwenkte. »Sie binden meine Frau los!«
Der Mann zögerte kurz, kapitulierte aber dann. Emily schaute Michael erleichtert und voller Dankbarkeit an.
Seine Augen waren blutunterlaufen und geschwollen, aber sie blickten zufrieden. »Nimm seine Knarre«, wies er seine Frau an, als sie schließlich frei war.
Emily gehorchte, und einen Augenblick später hielten sie und Michael die Gruppe gemeinsam in Schach. Er versuchte, seinen freien Arm zu heben, um sie zu berühren, um ihr tröstend über das Gesicht zu streicheln, doch seine Schmerzen waren dafür zu stark. Stattdessen streckte sie ihre Hand zu ihm aus.
Da hörte Michael plötzlich, dass in der Dunkelheit zu seiner Linken etwas vor sich ging. Er fuhr bei dem Geräusch herum und sah nur noch Marcianus’ Rücken in der Finsternis verschwinden. Das Rascheln von Papier verriet, was er sich vor seiner Flucht geschnappt hatte: die Übersetzung des Befreiungsgebets, die seine Männer erstellt hatten, zusammen mit den herausgerissenen Seiten des Codex, auf dem es gestanden hatte.
»Stopp!«, rief Michael mit der Waffe im Anschlag. Er hatte noch nie einen Menschen umgebracht, doch er handelte, wie er nun bemerkte, ohne zu zögern. Bell hatte bewiesen, zu was er fähig war und was er zu tun plante. Michael zog den Abzug durch und feuerte zwei Schüsse in die Dunkelheit. Der Schalldämpfer schluckte das Geräusch, aber die Blitze des Mündungsfeuers erleuchteten den dunklen Raum wie Stroboskoplicht.
Keiner der Schüsse traf sein Ziel. Marcianus verschwand außer Sicht.
»Hinter ihm her!«, rief Emily. »Er hat den Codex mitgenommen!«
Michael hinkte unter starken Schmerzen hinter Marcianus her, doch als er die Tür zum Hauptkorridor erreichte, schossen ihm gleich zwei Gedanken durch den Kopf: Er hatte nicht gesehen, in welche Richtung Marcianus gerannt war, nachdem dieser den Raum verlassen hatte, was bedeutete, er müsste ihm blind in die Dunkelheit folgen. Und ganz gleichgültig, wie geübt Emily mit einer Waffe auch sein mochte – bei einem Verhältnis von acht zu eins konnte er seine Frau nicht allein lassen; das wollte er einfach nicht riskieren. Das Team von Marcianus war zwar wahrscheinlich genauso verzweifelt wie er selbst, doch in dem Saal gab es noch mehr Waffen als nur die beiden, die sie konfisziert hatten. Er konnte daher nicht zulassen, dass Emily es mit den anderen Männern alleine aufnehmen müsste.
Er drehte sich um und schwenkte seine Pistole über Marcianus’ Männer.
»Mikey, was tust du da? Du musst ihn aufhalten!«
Er ging zu Emily. »Er ist weg, Em.«
Sie starrte ihm zornig und ungläubig in die Augen. Doch Michael konnte nur die Wahrheit noch einmal wiederholen.
»Marcianus ist weg.«