Kapitel 68

Gaddis Suites, Assiut

Nach ihrer Fahrt benötigte Michael für das Einchecken im Gaddis Suites Hotel mitten in Assiut nur zehn Minuten. Fünf Minuten später ließen er, Chris und Emily sich in einer Doppel-Suite im fünften Geschoss des Sandsteingebäudes – mit Blick auf die Altstadt und die Berge dahinter – häuslich nieder.

»Ich nehme die Dusche«, verkündete Chris, bevor er noch ganz durch die Tür war. »Ich habe an noch mehr Stellen als nur in der Schusswunde an meinem Arm Sand.«

Er grinste breit, als er an Michael und Emily vorbeischritt und die Tür zum Badezimmer hinter sich ins Schloss zog. Seine gute Laune war eindeutig wieder da.

»Ich sehe die Verbandssachen im Erste-Hilfe-Set durch, damit wir ihm einen anständigen Verband anlegen können, sobald er aus dem Bad kommt«, sagte Michael. Er löste den Knoten oben an Chris’ Rucksack und leerte den Inhalt auf der geblümten Tagesdecke des Bettes aus.

Emily begab sich zu dem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer der Suite, der direkt an einem großen Panoramafenster stand. Über einen Port auf dem Schreibtisch war eine Ethernet-Verbindung vorhanden, und in wenigen Augenblicken hatte sie ihren Laptop aus einem ihrer Koffer geholt und war online.

Emily benötigte nur ein paar Minuten, dann konnte sie hochauflösende Bilder der Nag-Hammadi-Codizes auf ihrem Laptop aufrufen. Sie begann, sich Seite für Seite durch detaillierte Scans zu scrollen. Die Kopie der Gravur auf dem steinernen Schlüssel lag vor ihr auf dem Schreibtisch. Während sie die Scans durchsah, wanderte ihr Blick immer wieder zu ihrer Skizze, in der Hoffnung, dass eine mögliche Verbindung sich von selbst ergeben würde.

»Irgendwas gefunden?« Michael trat ins Zimmer und stellte sich neben sie. Sein Blick fiel auf ein Papyrusfragment, das als Foto auf dem Bildschirm zu sehen war. »Hast du die Ressourcen der Bibliothek von Alexandria angezapft?«

Er wusste, dass der Zugang zur unvergleichlichen Sammlung der Bibliothek Emily offen stand, wo immer sie Internet hatte. Ihr augenblickliches Projekt schien eine ideale Gelegenheit zu sein, sich die nahezu unvorstellbar große Sammlung an historischen und naturwissenschaftlichen Informationen, die Emily zur Verfügung standen, zunutze zu machen.

»Dazu besteht keine Notwendigkeit«, antwortete sie. »Das ist alles frei im Internet verfügbar. Die Scans wurden vor drei Jahren von Forrester und Jakobson erstellt. Jeder, der will, kann sie sich ansehen, wenngleich der Verlag einige Blätter eines jeden Codex unter Verschluss gehalten hat. Vermutlich, um uns zu nötigen, die gedruckten Ausgaben zu kaufen.«

Michael spähte über ihre Schulter in der Gewissheit, dass seine koptischen Fachkenntnisse sich als hilfreich erweisen könnten.

»Das sieht aus wie ein Fragment aus Codex II – eine Passage aus dem Apokryphon des Johannes, wie es scheint. Guck, da ist ein Bezug auf Sophia, die rebellierende spirituelle Macht, die andere Lebewesen nach ihrem Bilde zu erschaffen versucht.« Er deutete auf eine Ansammlung koptischer Buchstaben im unteren Teil des kleinen Fragments aus antikem Papyrus.

Emily klickte auf das Trackpad ihres Notebooks und ging zum nächsten Bild. Wie so viele davor, war auch dies die Aufnahme eines kleinen Fragments mit nur einigen wenigen, unzusammenhängenden Buchstaben.

»Mir ist nicht klar gewesen, dass die Texte so bruchstückhaft sind.«

»Nicht alle«, erwiderte Michael. »Einige Seiten sind schlecht erhalten, aber der Großteil der Sammlung befindet sich in bemerkenswert gutem Zustand. Hier, lass mich mal.« Er schob Emily sanft zur Seite und navigierte zu Codex I.

»Das ist ja irre.« Emily schnappte nach Luft, als das Display eine große Grafik lud, die eine komplette Seite eines antiken koptischen Texts enthielt. Den kleinen Vorschaubildern am oberen Rand des Monitors ließ sich entnehmen, dass alle folgenden Seiten gleichfalls vollständig waren.

»Es bedarf nicht besonders viel gelehrten Scharfsinns, um abschätzen zu können, warum der Fund so bedeutend ist«, bestätigte Michael. »Entsprechend den in der Wissenschaft verbreitetsten Annahmen handelt es sich entweder um die Bibliothek einer gnostischen Sekte im vierten Jahrhundert, die ihre wertvollsten Werke versteckte, als sie zu stark verfolgt wurde, oder um die Buchsammlung einer christlichen Klostergemeinschaft mit gnostischen Neigungen, die zu dem Entschluss kam, dass die weitere Aufbewahrung verbotener Dokumente einfach zu gefährlich war.«

Emily gestattete es sich, darüber lange nachzudenken. Aus dem angrenzenden Zimmer war durch die halb offen stehende Tür zu hören, dass Chris aus dem Bad kam. Dann hörte man seine Stimme; augenscheinlich war er in ein Gespräch verwickelt. Emily warf Michael mit angehobener Augenbraue einen fragenden Blick zu.

»Wahrscheinlich sein Handy«, sagte er. »Es hat die ganze Zeit geklingelt, während er unter der Dusche stand.«

Emily nickte, dann blickte sie wieder auf den Bildschirm ihres Notebooks. Etwas nahm in ihrem Kopf Gestalt an.

»Der steinerne Schlüssel«, sagte sie und deutete auf die Skizze aus der Höhle, »muss eine Verschlüsselung sein, die mit diesen Dokumenten in Zusammenhang steht. Das Problem ist nur, dass es so viele sind. Zwölf vollständige Codizes und Reste von einem dreizehnten mit zweiundfünfzig einzelnen Texten. Wenn wir dahinterkommen wollen, was genau Bell vorhat, müssen wir wissen, welchen Text wir entschlüsseln sollen.« Sie blickte wieder ihrem Mann in die Augen. »Und dann müssen wir nach Kairo.«

»Du denkst, er ist dorthin gefahren?«

»Du weißt, wie beharrlich Bell versucht hat, die Originale – und nicht die Kopien – in die Finger zu kriegen. Wenn er hinter diesen Texten her ist, dann ist er hinter den Nag-Hammadi-Codizes selbst her.«

Michael antwortete nicht. Bells Pläne schienen mit jeder Minute noch bombastischer zu werden.

Die Stille, die zwischen ihnen beiden eingesetzt hatte, wurde von Chris unterbrochen, als er ins Zimmer stürmte, das Handy noch in der Hand. Er hatte die letzten Bemerkungen von Emily und Michael mitgehört, aber ihm ging etwas ganz anderes im Kopf herum.

»Ihr werdet hören wollen, was ich soeben erfahren habe«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Es steht eine ganze Menge mehr auf dem Spiel als nur ein paar alte Dokumente in einem ägyptischen Museum.«

Der verborgene Schlüssel
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