Kapitel 57

Hôtel Les Rives de Notre-Dame, Paris

Es war zwölf Monate zuvor vereinbart worden: Das Zeichen würde in Form zweier Lampen erfolgen, die im Nordturm von Notre-Dame brannten. Im mittleren Abschnitt an der Westseite des Turms befanden sich hoch über dem kunstvoll verzierten Portal der Heiligen Jungfrau paarweise angeordnete kleine Bogenfenster. Eine einzelne brennende Lampe im Fenster ganz links außen wäre das Signal, dass der Vorgang begonnen hatte – der Aufruf, sich bereit zu machen, die Vorbereitung der örtlichen Brüder anzuordnen. Eine zweite Lampe, die im angrenzenden Fenster brannte, wäre der Befehl, in Aktion zu treten: der Beginn des Exodus selbst. Der Kurier aus Spanien würde die Anweisungen überbringen.

Die erste Lampe hatte vor zwei Tagen zu brennen angefangen. Dann, an diesem Morgen, hatte eine zweite Lampe ihre Lichtstrahlen über den alten Platz gesandt.

Es war Zeit.

Guy de Longerac saß in einem Korbstuhl an einem kleinen Tisch vor dem Hôtel Les Rives und nippte an einem starken Espresso, den er mit einem Stück braunen Zucker gesüßt hatte. Die Türme der Kathedrale waren in seinem Sichtfeld perfekt eingerahmt, als er Richtung Osten über den Quai Saint-Michel und die langsam dahinfließende Seine blickte.

Es war ihm peinlich, sich eingestehen zu müssen, wie sehr er diesen Anblick liebte – eine klassische scène parisienne. Er wusste, er sollte etwas so Minderwertiges, so Weltliches nicht mögen. Doch diese Aussicht war für ihn trotzdem ein beruhigender Trost.

»Du siehst das zweite Zeichen so klar wie ich«, sagte er im Tonfall des gebürtigen Franzosen zu dem Bruder, der neben ihm saß, »und du weißt so gut wie ich, was es bedeutet.«

»Ja, Meister.«

»Alles ist bereit?«

»Die Wissenden haben, wie es ihrem höheren Rang entspricht, gehandelt und die Brüder von Paris wie auch die wenigen, die außerhalb der Stadt wohnen, in Kenntnis gesetzt. Alle haben ihre jeweils notwendigen Vorkehrungen getroffen.«

»Sie können sich sofort in Bewegung setzen?«

»Auf Befehl«, antwortete der Assistent des französischen Anführers. »Jeder wurde mit finanziellen Mitteln ausgestattet. In dem Moment, wo ich das Wort sage, kaufen sie sich die Tickets.«

Guy nahm den Bericht mit einem leichten Neigen des Kopfes entgegen. »Sehr gut. Sag ihnen, Praxean befiehlt ihnen, auf der Stelle in Aktion zu treten.« Der rituelle Name des französischen Anführers hatte unter den Erleuchteten dieses Landes absolute Autorität. Er wandte das Gesicht dem anderen Mann zu. »Was dich und mich angeht, so rufen wir heute Nachmittag die uns Nahestehenden zusammen und führen das Initiationsgebet für die beiden Anwärter durch. Sie müssen sofort erleuchtet werden und dann mit uns abreisen.«

»Wie du wünschst.«

Der Mann, der den sechsundzwanzig – bald achtundzwanzig – Brüdern in Frankreich nur als Praxean bekannt war, tat einen langen, beruhigenden Seufzer. Er trank die letzten Tropfen Kaffee aus der kleinen Tasse und ließ sie über seine Zunge und die Kehle hinunterrollen, während sein Blick erneut auf die Szenerie fiel, die er schon sein ganzes Leben lang bewunderte. Es hatte in Frankreich so viele Anführer vor ihm gegeben, die alle dieselben Geheimnisse gehütet, ihre Anhänger mit derselben Weisheit erleuchtet hatten. Ob sie wohl in der gleichen Szene Trost gefunden hatten wie er? Hatten Sie Trost bezogen aus dem hohen Alter der Steine, Kirchtürme und Straßen?

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Es hatte so viele vor ihm gegeben, aber nach ihm würde es keine mehr geben. Er war der Letzte – genau wie dieser Augenblick. Der letzte Kaffee. Das Letzte von Paris.

Es war Zeit, von diesen weltlichen Dingen abzulassen, den Exodus mit all seinen Brüdern anzutreten und sich an der Pforte zur Ewigkeit einzufinden.

Der verborgene Schlüssel
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