Kapitel 113
FBI-Außenstelle, Chicago
»Was für ein Problem?« Chris hob eine Hand, um Dawson und Marsh darauf hinzuweisen, wie wichtig der Anruf war.
»Bleib dran, Mike, ich stell dich auf Freisprechen um.« Er nahm das kleine Telefon vom Ohr, drückte auf den Lautsprecherknopf und legte das Gerät auf Marshs Schreibtisch. »Ich bin hier mit der Leiterin unserer Außenstelle, der Stellvertretenden Direktorin Angela Dawson, und mit Special Agent Laura Marsh. Du kannst mit beiden offen reden.« Er wandte sich an Dawson. »Das ist Michael Torrance, ein guter Freund von mir, zusammen mit seiner Frau, die beide gestern Arthur Bell nach Kairo gefolgt sind und ihn beinahe geschnappt haben.«
Dawsons Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Sie war informiert worden, dass Torrance und Wess wichtige Informationen für die Nachermittlung haben könnten, aber dies war das erste Mal, dass jemand ihr gegenüber die persönliche Begegnung der beiden mit dem Sektenführer erwähnte.
»Warum wusste ich davon nichts?«
»Ich erkläre Ihnen das gleich«, antwortete Chris und sah kurz zu Laura. »In diesem Augenblick befindet sich Michael auf dem Weg zu uns und ruft vom Flugzeug aus an.«
Michaels besorgte Stimme drang krächzend aus dem Lautsprecher. »Wir verfolgten Bell – der, wie wir mittlerweile wissen, sich auch Marcianus nennt – und spürten ihn im Koptischen Museum in der Altstadt von Kairo auf. Sie haben einen neuen Text enthüllt, eine Art gnostische Anrufung, die Bell ›Befreiungsgebet‹ nannte. Emily und ich denken, die Gruppe glaubt, es habe eine mystische Macht über den Augenblick des Todes und eröffne ihren Seelen eine Art Freiheit und lasse sie in das Reich des Geistes eintreten.«
»Scheiße«, murmelte Dawson. »›Befreiung der Seelen vom Stofflichen‹.« Sie zitierte die Worte, die der Anthropologie-Spezialist des FBI verwendet hatte, um die Ziele der Gnostiker zu beschreiben.
»Bell beabsichtigt, dieses Gebet öffentlich zu inszenieren, mit einer riesengroßen Zuhörerschaft.« Die Stimme, die jetzt aus dem Telefon drang, war die von Emily. »Sein Tonfall, als er seine Ziele beschrieb … Es klang rachsüchtig. Ich denke, eine Art nachgeordnetes Ziel ist es, der Welt zu zeigen, wie wenig das materielle Leben wirklich zählt. Und vor allem das religiöse Leben dieser Welt. Für diesen Mann ist die Religion selbst verblendet. Seine Wahrheit ist die einzige Realität, alle anderen predigen Lügen. Er scheint die Absicht zu haben, mit seinem Tod ein Bekenntnis abzugeben – im Augenblick seiner ›Befreiung‹ so viele Symbole der Religion zu beseitigen, wie er nur kann.«
»Wenn das sein Ziel ist«, warf Marsh ein, während sie sich die Details durch den Kopf gehen ließ, »dann passt das zu seiner Wahl des Ortes. Dort werden heute Tausende bei der Parade sein, darunter auch sehr viele führende Köpfe von religiösen Vereinigungen unseres Landes.«
»Bell sprach explizit davon, Gouverneur Wilsons ›Einheitsprozession‹ zu stören«, hob Emily hervor.
Chris beugte sich zum Lautsprecher. »Aber er kann das nicht tun – nicht mehr jetzt, Emily. Wir haben die Bombe, die seine Gruppe für die Parade positioniert hatte. Sie ist entschärft und in ihre Einzelteile zerlegt worden. Seine Glückssträhne ist zu Ende.«
An Bord des Flugzeugs schnappte sich Michael wieder das Telefon. Ein Gefühl der Dringlichkeit überkam ihn, das genauso stark war wie seine körperlichen Schmerzen. »Genau das ist das Problem. Emily und ich hörten Bell Teile des Gebets rezitieren, und wir sind überzeugt, sie verweisen auf etwas anderes.«
»Anderes?« Das Gesicht der Stellvertretenden Direktorin verriet ihre Besorgnis. »Was anderes?«
»Da ist die Rede von einer Unmenge an Toten, aber es wird von Atmen und Inhalieren gesprochen. Kurzum, es sind Bilder vom Einatmen irgendeines Giftes.«
Im Flugzeug beugte sich Emily zum Telefon. »Wir haben den Verdacht, dass die Bombe, die Sie fanden, nicht die eigentliche Waffe für das Attentat ist. Ich bin nicht sicher, was ihre Rolle im Rahmen der größeren Verschwörung war, aber es könnte sich dabei einfach nur um ein Ablenkungsmanöver handeln.«
Verblüfftes Schweigen war die einzige Antwort. Es dauerte lange, bis es schließlich von Dawson unterbrochen wurde.
»Das hört sich vollkommen unwahrscheinlich an«, erklärte sie, dennoch ging sie im Kopf die Fakten durch. »Wir sollten nicht vergessen, dass sie von vier Mann bewacht wurde, die sie alle mit ihrem Leben verteidigten. Das ist schon heftig für ein bloßes Ablenkungsmanöver.«
Lauras Gedanken rasten. »Warten Sie eine Sekunde«, warf sie ein. »Das ist der Punkt, wo ich bei meiner eigenen Ermittlung auch misstrauisch geworden bin. Die Informationen, die uns zum Tribune Tower führten, waren nicht unser einziger Aufklärungsstrang.«
»Aber er war korrekt«, widersprach die Stellvertretende Direktorin. »Er führte uns direkt zur Bombe.«
»Genau. Direkt zu ihr. Als ob wir vorsätzlich …« Marsh ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Der Gedanke traf sie wieder mit voller Wucht. »Das ist genau das, was Scott Lewis meinte.«
»Lewis hat Ihnen eine Spur geliefert?«, fragte Dawson.
»Seine letzte Notiz lautete, dass die Verbindung zum Nahen Osten aussähe wie etwas, das ›gesehen werden will‹. Als ob uns jemand zu ihr führen würde.«
»Wer immer dieser Lewis ist, es klingt, als wäre er zur selben Schlussfolgerung gelangt wie wir«, verkündete Michael. »Vielleicht war Bell klar, dass das FBI die Kirche genau unter die Lupe nehmen würde, und er brauchte eine Möglichkeit, euch etwas zu geben, das ihr verfolgen könnt, um euch auf Abstand zu halten. Seine Gruppe ersinnt einen scheinbar im Nahen Osten begründeten anti-amerikanischen Anschlag, von dem sie wissen, dass er eure Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird…«
»Während sie ihre eigentlichen Absichten über ihre eigenen Netzwerke in Europa und hier in den Staaten weiterverfolgen«, beendete Marsh den Gedanken für ihn. Endlich ergaben all die Informationen einen Sinn.
»Dann dirigierten sie euch zu ihrer Bombe, um euch hinters Licht zu führen und glauben zu lassen, die Bedrohung sei aus der Welt. In der Zwischenzeit können sie sich für ihren tatsächlichen Anschlag bereit machen.«
Eine lange, stille Pause folgte, während die Stellvertretende Direktorin über das Gehörte nachdachte.
»Wie zur Hölle konnten wir so weit kommen«, fragte sie endlich mit angespanntem Ton, »und trotzdem nicht mehr über diese Sache wissen?«
»Aber das ist nicht der Fall«, antwortete Marsh. »Special Agent Taylor und ich haben genau darüber gesprochen, als Sie ins Zimmer gekommen sind. Die Kirche der Wahrheit in der Befreiung hat einen Mann hier im FBI sitzen. Einen Mann, der von der Verbindung mit Kairo wusste; einen Mann, der, wie ich fest überzeugt bin, Agent Lewis umbrachte, um dessen Ermittlungen zu stoppen.«
Als der Name fiel, waren es Marsh und Taylor gemeinsam, die ihn aussprachen. »Special Agent Ted Gallows.«