Kapitel 43
Der Tempel, Chicago
Nach dem letzten Schritt hoch aufs Podium blickte der Befreier von seiner erhöhten Position in der Mitte des Tempels über die versammelten Brüder. In dem schwachen Licht verschwammen ihre dunklen Samtroben und Kapuzen in einem Meer kaum unterscheidbarer Formen.
Es war ein göttliches Wunder, dass sein Leben an diesem Punkt angelangt war. Jedes Mal wenn er die dicke und schwere, in jeder Hinsicht luxuriöse Samtrobe überstreifte, dachte er an seine Kindheit zurück: Damals trug er Klamotten, die über drei Generationen hinweg weitergereicht und von einer Familie geborgt oder gestohlen worden waren, mit der die Frau, die eine erbärmliche Ausrede von einer Mutter war, einen momentanen Umgang gepflegt hatte. Wenn er sich sehr anstrengte, konnte er sich noch an einige Bilder aus seiner frühesten Kindheit erinnern – als sie, wie ihm erzählt worden war, noch ein eigenes Haus und einen Vater hatten, der sich um ihn und seine Schwester kümmerte. Aber alles, an was sich Walter tatsächlich erinnerte, waren die fortwährenden Umzüge: die Wechsel zwischen den Wohnwagen oder Apartments jener Männer, von denen seine Mutter jeweils einen zu einem bestimmten Zeitpunkt als »ihren Freund« auserkoren hatte. Walter hatte keinen Vater gehabt; und er hatte sich die meiste Zeit gewünscht, er hätte auch keine Mutter.
In dieser Verfassung hatte der Große Anführer ihn gefunden. Neunzehn Jahre alt, abhängig von jeder Droge, die er sich leisten konnte; ein Junge, der die Nacht lieber auf der Straße verbrachte als in dem erbärmlichen Abgrund seines »Zuhauses«. Marcianus hatte ihn bei einem Restaurant getroffen. Walter war natürlich nicht in dem Lokal gewesen – es war für seinen nicht vorhandenen Stammbaum viel zu exklusiv –, aber er hatte bei seinem Marsch die Straße hinunter eine Pause eingelegt, um sich durch das Fenster die gut gekleideten Stammgäste im Innern anzuschauen, und dabei Marcianus entdeckt. Walter erinnerte sich an das unauffällige Äußere des Mannes und auch an dessen Blick, als er durch die Scheibe Walter bemerkte. Marcianus war von seinem Mahl aufgestanden, nach draußen gekommen und hatte sich ihm vorgestellt. Einen Augenblick später hatte er Walter ins Innere gezogen, zu seiner Nische, anscheinend unbeeindruckt von den angewiderten Blicken der Kellner, die vor Walters schmuddeliger Erscheinung zurückschreckten. Der freundliche Mann hatte die Hand nach ihm ausgestreckt, ihm zu essen angeboten, ihn zum Sitzen und Erzählen aufgefordert. Und Walter, immer noch halb im Drogenrausch, hatte dort in seinen ungewaschenen Klamotten gesessen – mit zwei Männern, die ihm ihr Essen gaben und mit ihm wie mit einem Freund redeten. Walter war auf den ersten Menschen getroffen, der sich wirklich für ihn zu interessieren schien.
Mein Name ist Marcianus, hatte der Mann freundlich gesagt, und das ist Simon. Und wir glauben, dein Leben ist mehr als … das. Der Mann deutete dabei auf das schmutzige Äußere und die ungewaschenen Haare von Walter, der sich jedoch seltsamerweise nicht beleidigt oder verurteilt fühlte. Er verspürte nur Hoffnung. Die Stimme des Mannes besänftigte ihn, seine Worte ermutigten ihn. Marcianus erzählte ihm von einem besseren Sinn in seinem Leben, von einem Geist, der rein war, trotz seiner Lebensumstände. Walter war völlig in den Bann des Mannes geschlagen gewesen, und sein Leben hatte sich geändert. Der großartigste Moment seiner neunzehn Jahre war gekommen, als er nicht lange danach in die Kirche voll aufgenommen, initiiert und gesegnet wurde. Der Große Anführer hatte ihm sogar einen neuen Namen, Cerinthus, gegeben, und mit diesem hatte er ein neues Leben angefangen.
In den Jahren, die folgten, war er höher und höher aufgestiegen. Dann, als der Große Anführer seine Vision offenbart hatte – erkannt hatte, dass das Zeitenende, auf das sie warteten, bereits gekommen war –, erlebte Walter den Höhepunkt seines Lebens. Marcianus hatte ihn dazu auserwählt, der Befreier zu sein. Er hatte ihm die großartigste Aufgabe gegeben, die ein Mitglied der Kirche erhalten konnte. Sein Tun würde allen Erwählten die Freiheit bringen.
Diese Erwählten standen nun voller Erwartung vor ihm.
»Wissende, Brüder und Schwestern«, begann er von der Plattform aus. »Wir kommen dem großen Moment, unserem großartigen Triumph, immer näher. In nicht einmal eineinhalb Tagen werden die Erwählten endlich frei sein!«
Seine dröhnende Stimme hallte von den Dachträgern und Wänden wider. Die Brüder befolgten die kirchlichen Gebote der Schicklichkeit und antworteten auf seine tragenden Worte nicht mit Jubelrufen oder Schreien. Doch die Aufregung in dem erwartungsvollen, stillen Raum war schier zum Greifen und elektrisierend.
»So lange in der Erde verborgen, wird sich das Versprechen, das unsere Vorväter abgaben, bald erfüllen. Sie hinterließen uns eine Möglichkeit, in unserer Zeit das zu erlangen, woran sie durch die Umstände ihrer Zeit gehindert wurden. Ihr Geschenk an uns ist der Schlüssel – der Schlüssel, um die Worte des Lebens aufzusperren.«
Die elektrisierte Stimmung im Raum sprühte Funken, und einige Brüder vermochten ihre Freudenschreie nicht mehr zu unterdrücken. Walter ließ ihnen ihren spontanen Begeisterungsausbruch. Als er auf die Menge hinabblickte, konnte er ältere Frauen, junge Männer, sogar Kinder sehen. Die Kirche schloss niemanden aus. Jeder, der wollte, konnte das wahre Licht finden, und die Befreiung würde allen offenstehen.
»Und so versammeln wir uns hier, liebe Brüder und Schwestern, in Erwartung der vollen Offenbarung der lange verborgenen, lange erwarteten Worte.«
Cerinthus griff in eine tiefe Tasche seines Gewandes und zog sein eigenes Exemplar des kleinen Werks heraus, das einfach als das Buch bekannt war. Es war akribisch von Hand auf dicke Papierseiten kopiert, gebunden und mit einer Lederkordel verschnürt worden. Er hob es nun hoch über seinen Kopf.
»Das Buch zeigt uns unsere Vergangenheit! Aber weit mehr als dies, gibt es uns Anweisungen für den letzten Tag. Wenn wir seiner Weisung folgen – wenn wir handeln –, dann warten wir nicht mehr länger. Die Zeit ist gekommen, da wir von diesem alltäglichen Leid befreit werden!«
Er rief seine Worte mit aufrichtiger Empfindung und Eindringlichkeit aus. Seine Aktivitäten in den letzten Tagen hatten ausschließlich dem einen Ziel gedient: sicherzustellen, dass die Rohmaterialien für dieses Werk bereit waren, wenn die Zeit kam. Zu seiner Befriedigung würden sie es sein. Wenn die Wahrheit eine kleine Lüge erforderte, damit sie nicht behindert wurde, so sollte es denn so sein. Das war die listige Voraussicht des neuen Plans gewesen, den der Große Anführer entwickelt hatte. Aus der Dunkelheit ins Licht zu treten und die Welt zu täuschen, damit sie nicht das Edle und Gute verschlang.
Er hatte es von ihrer Kontaktperson beim FBI erfahren. Die Täuschung funktionierte. Der Köder war geschluckt worden.
Seine Brust schwoll an, und er legte all seine Energie in das Herzstück seiner Ansprache.
»Ich versichere euch, liebe erleuchtete Brüder und Schwestern, vor allem einer Sache: Das Licht der Befreiung ist bereit, und es wird die Erlösung bringen, die unsere Seelen in den Himmel aufsteigen lassen wird.«
Wieder ging ein Schrei durch die Dunkelheit. Hände fanden zueinander, und Applaus siegte über die Schicklichkeit.
»Die Welt wird nicht mehr länger unser Gefängnis sein!«, brüllte Walter mit aller Kraft und hob die Arme in einer Geste totalen Triumphs.
Und als er das tat, konnte die Menge die Jubelschreie nicht mehr zurückhalten.