Kapitel 1

Hays Mews, London

In der morgendlichen Stille drang die knarzende Holzdiele wie ein Einsatzhorn Andrew Wess ins Bewusstsein. Zunächst deutete sein benommenes Hirn dies als die letzten Spuren eines Traums, dem er gerade entronnen war, und das seltsame Knarzen von Bodendielen und das Rascheln von Papieren als die Überreste von Szenen, die sein Verstand im Schlaf produziert hatte. Als er zu der großen Uhr gegenüber dem Sessel schaute, in dem er die Nacht verbracht hatte, sah er, dass es noch sehr früh am Morgen war. Viel zu früh, um schon auf zu sein.

Dann hörte er es erneut: wieder eine knarzende Holzdiele, Schubladen, die aufgezogen wurden, und Papierrascheln. Andrews Rücken versteifte sich. Die Geräusche, die ihn aus dem Schlaf geholt hatten, entstammten nicht seinen Träumen. Vielmehr waren sie real und deutlich. Seine verspannte Haut wurde sofort kalt.

»Wach auf«, flüsterte er der Frau zu, die auf der Couch neben seinem Sessel schlief. Zu der improvisierten Nachtruhe auf der Sitzgruppe im Wohnzimmer war es nach einer spätabendlichen Unterhaltung gekommen, die angeregter verlaufen war, als beide erwartet hatten. Trotz der ungezählten Zwiegespräche in ihrem Leben konnten sie sich immer noch für endlose Stunden gegenseitig bezaubern.

Der Kopf der Frau ruhte auf der gepolsterten Seitenlehne der Couch. Sie schlief tief und fest.

»Emily, wach auf«, wiederholte Andrew und schritt auf leisen Sohlen zu ihr hin. Seine Stimme war nach wie vor gedämpft, als er hinzufügte: »Da ist jemand im Haus.«

In der Dunkelheit fiel es den beiden Männern schwer, sich in der Doppelhaushälfte zurechtzufinden. Jeder trug zwar eine Stiftlampe, doch deren Einsatz beschränkten sie auf ein Minimum: Sie hatten die Umgebung genau in Augenschein genommen, und ihnen war dabei klar geworden, dass die Bewohner des schicken Viertels nur zu gerne ungewöhnliche Aktivitäten der Polizei meldeten.

»Dorthin, das sieht aus wie ihr Büro«, flüsterte der eine Mann dem anderen zu.

Mit einem Kopfnicken wies er auf eine Türöffnung rechts, hinter der sich das provisorische Büro von Dr. Emily Wess in ihrem Londoner Haus befand. Sie hatten bereits einen ähnlichen Raum gefunden und durchsucht, der ihrem Mann als Arbeitszimmer diente, dort aber nichts gefunden. Das Zimmer hier war jedoch vielsprechend. Sie waren an der Arbeit der Frau interessiert – oder vielmehr an deren Besitztümern. Sie hatte erst zwei Tage zuvor das Objekt, um das die Männer sie nun zu erleichtern gedachten, erworben und in ihre Obhut übernommen, ohne die leiseste Ahnung zu haben, um was es sich tatsächlich handelte. Die Männer aber kannten seinen wahren Wert, und ihr Anführer hatte sie beauftragt, genau dieses Objekt wiederzubeschaffen, das allein sie in die Lage versetzen würde, das großartigste Werk in ihrer Geschichte zu vollbringen.

Jetzt war es irgendwo hier, in der Dunkelheit des Homeoffice, und wartete darauf, den Weg in ihre Hände zu finden. Im Idealfall wären sie zu einer Zeit gekommen, wo sich keiner im Haus aufhielt, statt in der Nacht, wenn seine Bewohner ganz in der Nähe schliefen. Aber die Chancen, dass Emily Wess das Objekt unbeaufsichtigt ließ, standen schlecht, und die Männer wussten nicht, wie lange sie es in ihrem Besitz zu behalten beabsichtigte, bevor sie es den neuen Eigentümern übergab. Nein, die Situation erforderte eine nächtliche Operation. Am Morgen würde die Frau nach dem Aufwachen feststellen, dass der Gegenstand weg war, und nie erfahren, was sie da wirklich verloren hatte.

Emily öffnete die Augen und setzte sich ohne weitere Verzögerung auf, um Andrew anzuschauen, der vor ihr auf dem Boden kniete. Bevor sie etwas sagen konnte, hielt er ihr einen Finger auf den Mund, damit sie still blieb. »Schhh«, formte er schweigend mit den Lippen. Er legte eine Hand wie einen Schalltrichter ans Ohr, und sie lauschten. Die Geräusche, die aus Emilys Büro am anderen Ende des Korridors drangen, waren leise, aber deutlich vernehmbar – Laute wanderten durch die papierdünnen Wände des Hauses, als gäbe es diese gar nicht.

Jemand durchstöberte ihren Schreibtisch.

Leise stand Andrew auf und setzte sich neben Emily auf die Couch, packte sie bei den Schultern und drehte sie zu sich herum.

»Ich gehe nachsehen, wer das ist«, sagte er mutig. Er blickte sich prüfend im Zimmer um und beurteilte seine Alternativen.

Emily beugte sich zu ihm und wisperte ihm ins Ohr: »Denk nicht mal dran. Wir wissen nicht, wer das ist. Sie könnten gefährlich sein.«

Sie langte über die Couch und schnappte sich das schnurlose Telefon vom Beistelltisch.

»An der Schiebetür zum Flur – genau da – ist ein Riegel.« Sie deutete auf den Eingang zum Wohnzimmer und sprach so gedämpft wie möglich. »Schieb sie zu, so leise wie es nur geht, und sperr sie ab. Ich gehe in den Wandschrank und rufe die Polizei an.« Der begehbare Schrank, der sich zwischen Wohnzimmer und Küche befand, war riesig, fast schon ein in der Wand verstecktes zusätzliches Zimmer, und so vollgestopft mit Textilien, Kleidung und Vorräten, dass er ihre Stimme gut dämpfen würde.

Andrews Herz klopfte schmerzhaft, da es nicht daran gewöhnt war, so rasch von Schlaf auf Stress umzuschalten. Er sah zu Emily, in ihre vertrauten Augen – die er schon so lange kannte und in so unterschiedlichen Situationen erlebt hatte.

Er drückte ihr fest den Arm – seine Gefühlsäußerungen beschränkte er so, aufgrund der augenblicklichen Gegebenheiten, auf ein Minimum – und zog sie zur Ecke der Couch. Emily nickte und stellte sich auf ihre nackten Füße. Dann ging sie auf Zehenspitzen in den Wandschrank und zog langsam die Tür hinter sich zu.

Obwohl Andrew eine Heidenangst hatte – einen nächtlichen Einbruch hatte er noch nie erlebt –, war sein Beschützerinstinkt doch stärker. Er und Emily hatten seit ihrer Kindheit in einem intellektuellen Wettstreit gestanden, hatten wie Ebenbürtige miteinander gespielt, gestritten und gerauft. Gleichwohl war Andrew stets ihr Beschützer gewesen, wann immer Emily sich in Gefahr befunden oder Schmerzhaftes erlitten hatte. Er war es, der das aufgeschrammte Knie verarztete, der die Raufbolde aus der Nachbarschaft vertrieb und ihr anschließend beibrachte, wie man sich dieser Kerle erwehrte.

Die Geräusche dauerten an, und die Kindheitserinnerungen schwanden. Als er sicher war, dass Emily gut versteckt war, änderte er seine Absichten. Die Eindringlinge einzusperren und das Beste zu hoffen entsprach nicht seiner Natur, und so nahm Andrew sich vor, die Einbrecher aus dem Haus zu jagen. Er blickte sich im Zimmer um und suchte nach etwas, das ihm als Waffe dienen könnte. Die Wandleuchter am offenen Kamin waren zu klein, um jemanden einzuschüchtern, geschweige denn eine ernsthafte Bedrohung darzustellen, falls das mit dem Einschüchtern nicht klappte. Die Lampe in der Ecke war zu unhandlich und sperrig.

Dann, im hintersten Winkel des Zimmers, fiel ihm das perfekte Hilfsmittel ins Auge. Gott segne dich, Em! Obgleich er diesen Sport noch nie ausprobiert hatte, war Emilys Liebe zum Golf mit einem Mal einer ihrer größten Vorzüge: In einer Ecke war ihr gutbestückter Golfsack abgestellt. Er hatte sie so oft wegen ihrer Liebe für diese Sportart aufgezogen. Sobald er die Eindringlinge aus dem Haus gejagt hätte, würde er deswegen mit einer guten Entschuldigung aufwarten müssen.

Andrew schritt leise über den Boden und zog einen ausreichend schweren Driver aus dem Sack, dann schlich er sich in den großen Flur. Mit jedem Schritt waren die gedämpften Stimmen und das Rascheln von Papier besser zu hören.

Der verborgene Schlüssel
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