Kapitel 94
Koptisches Museum, Kairo
Emily arbeitete sorgfältig. Bei Bells Bereitschaft, Michael alles anzutun, was er für nötig hielt, um sie zu »motivieren«, hatte sie einen großen Anreiz, ihr Bestes zu geben. Die Angst schien zu bewirken, dass sie in der Erinnerung die Details klarer sah, und sie entzifferte den verborgenen Inhalt des Codex langsam, aber stetig. Ohne Wörterbuch, wie es ihr während der Autofahrt zur Verfügung gestanden hatte, war sie nicht imstande, die koptischen Ergebnisse ins Englische zu übersetzen, aber ein Mitglied von Bells Gruppe besaß mehr als nur gute Kenntnisse der koptischen Sprache.
Bell war eine Zeitlang im Raum auf und ab gegangen, wobei seine erzwungene Selbstbeherrschung einer Mischung aus Erwartung, Unruhe und religiöser Leidenschaft wich. Doch er hatte inzwischen seine Konzentration wiedergefunden, und während Emily unter der Aufsicht seiner Männer ihre Arbeit fortführte, zog er sich in eine Ecke zurück und verlagerte seine Aufmerksamkeit darauf, die Maßnahmen abzuschließen, die nötig sein würden, sobald die Entschlüsselung fertig war.
»Hier ist Marcianus. Teile Praxean und Victor mit, dass die Männer, die in der Stadt vor Ort sind, sich bereit machen sollen«, sagte er in sein kleines Satellitentelefon zu einem der Brüder, die als Mittelsmänner zwischen ihm und den regionalen Anführern bei der großen Versammlung in Chicago fungierten. »Corinthus wird bis zum Moment der Befreiung nicht zu sehen sein. Praxean wird es übernehmen müssen, morgen die Brüder in der Menschenmenge zu organisieren und dafür zu sorgen, dass sie am richtigen Ort sind, wenn die Zeit gekommen ist.«
Es folgte eine Pause, während er der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte. Obwohl Emily damit beschäftigt war, die noch fehlenden Ingredienzen zu entschlüsseln, strengte sie sich an, seine Worte zu verstehen. Er hat sich Marcianus genannt. All die Namen klangen uralt, wie aus dem vierten Jahrhundert.
»Die Menschenmenge wird so groß sein, wie wir erwarten – vielleicht sogar noch größer. Besser hätten wir es uns nicht wünschen können. Wir werden den Leuten mit dem Befreiungsgebet zeigen, was Freiheit wirklich bedeutet.«
Das Befreiungsgebet, wiederholte Emily still für sich. Es war das erste Mal, dass sie gehört hatte, wie »Marcianus« sein Vorhaben nannte.
Sie steckte den Kopf in den Codex, damit nicht bemerkt wurde, dass sie Bells Worte mitbekam.
»Praxean soll Victor über den vereinbarten Platz informieren. Der Versammlungsort ist von grundlegender Bedeutung. Man hat mir versichert, er liegt dort, wo die Prozession am dichtesten sein wird.«
Wieder eine Pause, dann lachte Marcianus zufrieden ins Telefon. »Ob sie es verstehen werden oder nicht, ist nicht von Belang. Auf unserem Weg zur Freiheit werden wir ein Bekenntnis zur Religion abgeben, das die sündige Welt nicht vergessen wird.«
Emily wurde starr, als sie dies hörte. Der rachsüchtige Ton, der mit einem Mal in Marcianus’ Stimme mitschwang, führte dazu, dass sich unwillkürlich ihr Griff lockerte. Der Codex fiel auf den Tisch und schlug dort mit einem lauten, dumpfen Geräusch auf, das durch den Raum hallte.
Marcianus’ Kopf flog zu ihr herum. Als sich ihre Blicke trafen, erkannte er, dass sie zugehört hatte. Aber das machte ihm nichts mehr aus. Die beiden würden den Ausstellungssaal nicht lebend verlassen. Den gleichen Fehler wie in der Wüste würde er nicht noch einmal begehen.
Marcianus schaute ihr direkt in das entsetzte Gesicht und beendete das Gespräch mit dem Bruder in Chicago. »Wir verlassen dieses materielle Gefängnis und hinterlassen der Welt lediglich die Echos ihrer Verderbtheit. Was ist schon der Tod von ein paar Dutzend religiösen Führern oder ein paar tausend fehlgeleiteten Feiernden? Nichts als das ultimative Zeichen ihrer Belanglosigkeit.«
Die Details von Chris’ Warnung im Hotel in Assiut kamen Emily wieder in den Sinn. Die Parade in Chicago, eine terroristische Anschlagsdrohung. Verdacht auf eine Bombe oder einen Großangriff.
»Macht die Bombe bereit«, sagte Marcianus, womit er jeden Anschein von Geheimhaltung fahren ließ. »Danach ruft ihr den Piloten hier in Kairo an und macht den Jet für unseren Flug in die Staaten startklar.« Er klappte das Telefon zu und schritt mit unnachgiebigem Blick geradewegs auf Emily zu.
»Sie sind wahnsinnig!«, rief sie entsetzt.
»Das sagen Sie«, entgegnete er wegwerfend. Er stellte sich neben sie und blickte auf das Blatt hinab. »Und Sie, meine Liebe, sind fertig.«
Er schnappte sich den Text, den Emily mit dem letzten entschlüsselten Wort vervollständigt hatte, und reichte ihn dem Übersetzer, der die letzte Ingredienz identifizierte. Einen Augenblick später befand sich diese in der dritten Schale.
Marcianus drehte Emilys Stuhl um, sodass er zur Mitte des Tischs gerichtet war, beugte sich hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Bevor Sie sterben, möchte ich, dass Sie sehen, was wahre Hingabe bewirken kann.« Sein Atem war heiß, seine Feuchtigkeit klebte ihr auf der Haut.
Er richtete sich auf und gab dem Chemiker ein Zeichen.
»Tu es jetzt.«