Kapitel 2
Hays Mews, London
Mitten im Büro von Emily Wess erstarrte plötzlich einer der beiden Männer. Seine Hände steckten noch in einem großen Stapel von Mappen und Dokumenten, und einen Augenblick lang fragte er sich, ob das hier real war. Der Zweifel war jedoch nicht von langer Dauer. Er wusste, was er in seinen Händen hielt: Treffer!
Simon war schon immer ein pragmatischer Mann gewesen, doch in Momenten wie diesem konnte er nicht anders – da beanspruchte das Gefühl genauso viel Aufmerksamkeit. All seine Mühe und sein Einsatz zur Förderung ihrer Sache galten letztlich einem spirituellen Ziel, und Simon hatte seit jeher auch eine spirituelle Seite. In diesem Augenblick konnte nichts die Bedeutung dessen mindern, das zu holen sie hier waren. Es war die größte Aufgabe, die er jemals übernommen hatte, und sie würde die grandioseste Leistung seines Lebens sein.
»Ich hab es gefunden.« Die Worte hatte er flüsternd gesprochen. Trotz dieses Erfolgserlebnisses war er kein Mann, der es seiner Ehrfurcht erlaubte, ihn so zu überwältigen, dass er nicht mehr auf die Umgebung achtete. Es war fast gewiss, dass die Frau und ihr Mann in diesem Haus schliefen, und das Sprechen musste auf ein Minimum beschränkt bleiben.
Als der andere Mann sich zu ihm umwandte, zog Simon die gepolsterte Mappe aus dem größeren Stapel heraus, der sich in einer Schublade des von Hand gefertigten antiken Schreibtischs befand. Einen Moment später lag sie offen da, und die beiden blickten prüfend auf ihren wertvollen Inhalt.
Ein einzelnes uraltes, braun gewordenes und zerknittertes Blatt Papier.
»Bist du sicher?« Der andere Mann studierte das Blatt, verwirrt von der antiquierten Schrift, die dessen Oberseite bedeckte. Er war von Natur aus misstrauisch: ein Charakterzug, der ihm in seinem schwierigen Leben mehr als einmal gute Dienste geleistet hatte. Und in diesem Augenblick schien seine angeborene Skepsis gerechtfertigt. »Es sieht nicht wie eine Landkarte aus.«
Simon prüfte das Dokument bis in die kleinsten Einzelheiten. Sein Partner hatte recht: Es sah nicht wie eine Landkarte aus. Aber die Schrift war Simon vertraut; sie passte perfekt zu der Handschrift im BUCH – dem schmalen antiken Band, der ihnen, solange er zurückdenken konnte, ein unfehlbarer Führer gewesen war.
»Ich bin sicher.«
Der andere Mann war nach wie vor nicht überzeugt. »Ich sehe nicht, wie Arthur damit den steinernen Schlüssel kriegen soll.« Wenn sie zu ihrem Anführer ohne die authentische Karte zurückkehrten, würde das ernste Konsequenzen haben.
Simon blickte zu seinem Begleiter hoch, der plötzlich eine bittere Miene aufsetzte. Für diese unentschuldbare Respektlosigkeit hätte er dem anderen am liebsten eine Ohrfeige verpasst, doch er unterließ es, weil er im Moment wegen des damit verbundenen Lärms besorgt war: Selbst die Geräusche, die eine geflüsterte Zurechtweisung machen würde, wollte er vermeiden. Sie hatten genug geredet. Er schoss seinem Partner einen wütenden Blick zu.
Der Mann hörte auf zu widersprechen. Er war es gewohnt, zurechtgewiesen zu werden, weshalb Simons Blick ihn nicht ärgerte. Außerdem war an seinem Partner heute irgendetwas anders. Der unerschütterliche Mann, den er, egal wie schlimm die Umstände auch gewesen waren, noch nie zittern gesehen hatte, bebte am ganzen Körper vor Aufregung. Und seine Augen funkelten beinahe, selbst in der Dunkelheit.
Andrew Wess bewegte sich ein paar Schritte weiter den Korridor hinunter, bis er schließlich neben der Tür von Emilys Arbeitszimmer stehen blieb. Da drin wurden nicht mehr Schubladen durchwühlt, stattdessen drangen Geflüster und das Scharren von Füßen nach draußen, und dann herrschte plötzlich Stille.
Beim Näherkommen war seine Angst der Wut gewichen. Andrew hatte gehört, dass in London die Zahl der Einbrüche gestiegen war: Nun stellte er sich vor, in dem kleinen Raum befänden sich gerade zwei Diebe im Teenageralter, die betrunken oder high waren und in der Annahme handelten, dass sie alles, was sie im Leben haben wollten, einfach klauen konnten. Ohne Rücksicht auf den Schaden oder die Angst, die sie anderen zufügten. Der Gedanke versetzte ihn in Wut. Zu Hause in Ohio brachten sie Rowdys immer noch hinter den sprichwörtlichen Holzschuppen – für eine anständige, im Stil des kleinstädtischen Mittleren Westens geführte »Diskussion« mit den Einheimischen. Er wusste nicht, was man mit solchen Kerlen in London machte, aber er war absolut nicht gewillt, sie weiter frei herumlaufen zu lassen.
Als er direkt an der Tür stand, trieb ihn sein Zorn zu einer Impulshandlung. Er atmete tief durch und nahm all seinen Mut zusammen, dann drehte er sich nach links und warf sich gegen die Tür. Das war eine Fehlentscheidung; doch er besaß weder die Erfahrung noch die Reife, um diesen Irrtum wahrzunehmen.
»Was zum Teufel treibt ihr in unserem Haus?!«, donnerte er und hob den Golfschläger in seiner linken Hand so hoch, dass dessen mit Titan ummantelter Holzkopf fast an der Decke entlangschrammte.
In Sekundenbruchteilen registrierte Andrew, dass es sich bei den Eindringlingen nicht um betrunkene Teenager handelte. Seine Überraschung beim Anblick der zwei ihm körperlich überlegenen Männer, die über den Schreibtisch gebeugt waren, wurde abgelöst von dem Schock, den zwei rasch aufeinanderfolgende Schüsse auslösten: Sie durchbrachen die nächtliche Stille, noch bevor das letzte Wort ihm donnernd über die Lippen gekommen war. Der Mann, der ihm am nächsten stand, hatte mit bemerkenswerter Schnelligkeit seine Pistole gezogen und ohne Zögern gefeuert.
Als Andrew Wess zu Boden fiel, war sein Herz von den Kugeln durchbohrt und bereits alles Leben aus ihm gewichen.
»Verflucht!« Der Schütze trat vor und stupste mit der Pistole Andrews leblosen Körper an. Die beiden Wunden glänzten wie Rosetten auf dem T-Shirt des Toten, unter dem sich bereits eine dunkle Lache aus Blut auszubreiten begann.
»Verdammt. Da wird er aber angepisst sein.« Dem Schützen machten die fortwährenden Verbalinjurien seines Partners nichts aus, aber die des Großen Anführers würden schwerer zu ertragen sein.
Einen Augenblick später, als das Geräusch der Schüsse immer noch nachhallte, fand er einen anderen, unmittelbareren Anlass zur Sorge.
»Los komm, Zeit zu verschwinden. Wir dürfen uns hier nicht erwischen lassen.« Es war nicht ihre Absicht gewesen, entdeckt zu werden – und schon gar nicht, dass diese Operation Opfer fordern sollte. Aber die Umstände waren nun einmal so, wie sie waren, und man musste sich ihnen anpassen.
Der andere Mann nickte, schob das wertvolle Blatt wieder in die Mappe und klemmte sie sich fest unter den Arm. Die beiden stiegen über den leblosen Körper von Andrew Wess, liefen schnell die Treppe hinunter zur Hintertür und verschwanden in dem Straßenlabyrinth von Shepherd Market und Westminster.
Hinten im begehbaren Wandschrank ließ Emily Wess die Tränen über die Wangen laufen, während sie darauf wartete, dass die Männer verschwanden. Ihre Worte waren leise, aber deutlich durch die dünnen Wände gedrungen und hatten sich Emily mit aller Klarheit und für immer ins Gedächtnis gebrannt. Selbst in ihrer seelischen Qual war ihr bewusst, dass sie sich an sie klammern musste.
Sie kannte die Stimmen der Eindringlinge nicht, sie wusste nicht, was sie wollten oder was sie gefunden hatten. Die Worte, die sie gesprochen hatten, ergaben keinen Sinn, und Emily wusste auch nicht, welche Wahnvorstellungen sie in ihr Haus geführt hatten.
Sie wusste lediglich, dass auf die zwei Schüsse das Geräusch eines zu Boden fallenden Körpers gefolgt war, und seitdem hatte sie von Andrew keinen einzigen Laut mehr gehört.