Kapitel 49
FBI-Außenstelle, Chicago
»Was haben wir in Erfahrung gebracht?«, fragte Angela Dawson wie üblich.
Das Verhör hatte die ganze Nacht hindurch bis in die frühen Morgenstunden gedauert, und sie alle hatten den Eindruck, dass es einen zufriedenstellenden Abschluss gefunden hatte. Mit dem Anbruch des neuen Tages war es Zeit für die Nachbesprechung. Dawson und ihre zwei Agenten trafen sich in einem kleinen Büro neben den Verhörräumen. Auf ihre Bitte hin stieß auch Brian Smith dazu, der Pikes Vernehmung von der gewohnten Stelle hinter dem Einwegspiegel des Zimmers verfolgt hatte.
»Die Parade ist eindeutig das Ziel.«
Ted Gallows hatte die entscheidenden Informationen Harry Pike aus der Nase gezogen, und zwar nur wenige Minuten nach dessen Einknicken angesichts der Drohung, in Guantanamo Bay lebenslänglich eingesperrt zu sein. Die vielen Stunden danach hatten sie damit zugebracht, bei sämtlichen Angaben nachzubohren, die Pike preiszugeben bereit war – und auch bei denen, die er eigentlich nicht hatte ausplaudern wollen.
Gallows hatte sich bei der Vernehmung von Pike völlig von seiner Intuition und seinem Instinkt leiten lassen, was typisch für den beruflichen Werdegang und die Arbeitsweise des Special Agent war. Seine Recherchen waren stets penibel, seine Planungen sorgfältig. Doch sobald er einen Raum mit einem Verdächtigen betrat, übernahm sein Instinkt das Kommando. Notizen und Täterprofile hatten ihren Sinn; doch nichts ließ sich mit dem intuitiven Gefühl vergleichen, das sich einstellte, wenn man den Augenausdruck eines anderen Menschen oder die Veränderungen beim Schimmer des Schweißes auf dessen Haut oder beim Atemrhythmus wahrnahm.
Gallows hatte nur drei Monate nach seinem Eintritt beim FBI seine erste Vernehmung durchgeführt, vor nunmehr über elf Jahren. Er war ein Anfänger in dieser Kunst gewesen, wenngleich er sie sorgfältig studiert hatte. Als er den kleinen Betonraum mit einem Verdächtigen betrat, von dem angenommen wurde, ein untergeordnetes Rädchen bei einer systematisch durchgeführten Unterschlagung von Firmengeldern zu sein, hatte Gallows zuvor jedes Dokument über den Hintergrund und die vermuteten Verbindungen des Mannes sowie all die Punkte gelesen, bei denen das FBI erst handeln konnte, wenn sie mit harten Beweisen untermauert waren. Er hatte den Verdächtigen dazu gebracht, diese Verbindungen nach nur vierzig Minuten zu liefern, womit Gallows’ Arbeit offenkundig getan war. Aber irgendetwas hatte ihn daran gehindert, den Raum zu verlassen. Der Mann saß irgendwie seltsam am Vernehmungstisch – nicht ganz im richtigen Winkel oder mit dem richtigen Benehmen. Seine Gestik wirkte selbstbewusst, doch seine Redeweise eigentümlich leer, so als habe er geübt, voller Emotionen zu sprechen, ohne sie jedoch tatsächlich selbst zu empfinden. Gallows hatte bei diesem Mann gespürt, dass da noch mehr war. Seine Intuition hatte damals zu einer Untersuchung geführt und diese wiederum zu einer Ermittlung, bei der schließlich herauskam, dass der Verdächtige der wichtigste Killer einer Gruppe war, die geschäftlich weitaus hochfliegendere Ambitionen hegte als einfache Unterschlagung.
Seit jenem Tag hatte Gallows gelernt, seinen Instinkten zu vertrauen und sich von ihnen bei Befragungen leiten zu lassen. Bei der Vernehmung von Pike war es genauso gewesen: Als Gallows, wie in früheren Fällen, seinen Instinkten folgte, hatte er Ergebnisse erzielt. Der Mann mochte wie ein Schwachkopf wirken, ja sogar einer sein, aber er stand in Beziehung zu etwas mehr als nur einer Gruppe von Ideologen oder Waffennarren. Die Kirche der Wahrheit in der Befreiung verfügte über eine reale Gewaltbereitschaft, und ihre Drohungen hatten echte Substanz.
»Wir haben es nicht mehr nur mit einer hypothetischen Bedrohung zu tun«, sagte er nun. »Selbst wenn wir noch nicht alle Einzelheiten kennen – das ist real.«
Alle vier Köpfe am Tisch nickten unisono.
»Und wie es scheint, ist es penibel geplant«, fügte Laura Marsh hinzu. »Dass Pike nicht alle Details kennt, macht diese Tatsache sogar noch deutlicher. Was immer die Kirche der Wahrheit in der Befreiung sonst noch sein mag, sie ist durchdacht organisiert. Die Informationen werden in Häppchen aufgeteilt, und jedes einzelne Mitglied erfährt nur das, was ihn betrifft.«
Dawson wandte sich an Brian Smith. »Glauben Sie Pike, wenn er behauptet, er wisse nicht, um was für eine Art von Anschlag es sich genau handelt?«
»Ja«, antwortete der Sektionschef. Wie Ted Gallows war er früher in der FBI-Zentrale in Washington stationiert gewesen, und er hatte diese würdevolle, stoische Haltung, die sich einstellte, wenn jemand sehr rasch sehr weit nach oben aufgestiegen war. »Die Befragung durch Special Agent Gallows ist gründlich gewesen, und Pike war gebrochen. Ich glaube nicht, dass er etwas zurückgehalten hat.«
»Pike ist mehrfach ausgewichen«, hob Gallows hervor. »Seine Äußerungen zum Nahen Ostens machten deutlich, dass er nicht sehr viel darüber weiß, welche Verbindungen seine Kirche dorthin hat, aber seine Worte ließen in mir keine Zweifel aufkommen, dass es sie gibt.«
»Seine Bemerkung ›Wir haben viel von unseren arabischen Freunden gelernt‹ hat kaum Raum für Spekulationen gelassen«, rief Dawson ihnen nochmals in Erinnerung.
Smith beugte sich vor. »Und damit passen Pikes Aussagen perfekt zu dem, was wir auf dem gestern veröffentlichten Video gesehen haben.«
»Also haben wir die Parade und die Verbindung zum Nahen Osten«, fasste Dawson zusammen. »Welche Vermutungen können wir über die Methode aufstellen?«
»Wenn wir uns an die gängigen Vorgehensweisen von Terroristen halten, ist es am wahrscheinlichsten, dass diese Kirche entweder einen Selbstmordanschlag am Boden oder einen Angriff aus der Luft plant.« Marsh ließ sich die verschiedenen Möglichkeiten durch den Kopf gehen. »Letzteres ist bedeutend schwerer durchzuführen, aber wie wir alle wissen, ist es schon mal gemacht worden. Und wir alle haben gesehen, wie verheerend so ein Anschlag sein kann.« In der Skyline von Chicago gab es zwar keine Hochhäuser, die den ehemaligen Türmen des World Trade Center in New York glichen, aber die Stadt besaß dennoch einige der weltweit höchsten Wolkenkratzer.
»Alarmieren Sie die Bundesluftfahrtbehörde«, ordnete Dawson an. »Sagen Sie denen, wir haben eine glaubwürdige Drohung unbekannter Art gegen die Parade. Es müssen zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen für den regionalen Luftraum ergriffen werden, nur für den Fall.«
»In der Zwischenzeit müssen wir die Personenkontrollen wegen eines möglichen Anschlags am Boden verstärken«, fügte Gallows hinzu. »Wir sollten zusätzliche Kontrollpunkte an den Straßen innerhalb eines Radius von sechs Blocks rund um die Route der Parade errichten und jedes Auto auf Sprengstoff überprüfen lassen. Und noch mehr Leute vor Ort beordern, die nach einem tragbaren Apparat suchen.«
»Wir haben keine Ahnung, wonach wir Ausschau halten sollen. Es könnte nicht mal eine Bombe sein.« Smiths Bemerkung schien die wachsende Tatkraft mit einem Schuss pessimistischen Realitätssinn abzuwürgen. »Wir sollten einen gut postierten Scharfschützen oder ein politisches Attentat nicht ausschließen. Es werden jede Menge Würdenträger an der Parade teilnehmen.«
Die Stellvertretende Direktorin Dawson sann über diese Behauptungen einige Augenblicke nach, bevor sie sich erhob. Als sie aufstand, taten Gallows, Smith und Marsh es ihr gleich.
»Zumindest haben wir etwas, mit dem wir arbeiten können, so vage es auch sein mag«, sagte Dawson und blickte dann Gallows an. »Mobilisieren Sie unsere Einsatzkräfte vor Ort, und beginnen Sie, Szenarien durchzuspielen, wie so ein Anschlag ablaufen könnte – die wahrscheinlichsten Methoden, Standorte, Zeiten, spezifische Ziele.« Sie wandte sich Marsh zu. »Ihr Team soll sich voll und ganz auf die Verbindung zum Nahen Osten konzentrieren. Ich will wissen, wer die sind und mit wem wir es zu tun haben. Welche Ressourcen von anderen Sie auch immer benötigen – nutzen Sie sie.«