Kapitel 117
Magnificent Mile, Chicago
Das Taxi war nun zwei Querstraßen hinter ihnen, als Emily und Michael, so gut es ging, durch die Menschenmenge hetzten. Michaels Verletzungen schränkten nach wie vor sein Tempo und seine Bewegungsfähigkeit ein, und Emily versuchte, ihm stets einen Schritt voraus zu sein und die Besucher der Parade zur Seite zu schieben, damit sie nicht gegen seinen verletzten Arm rempelten. Die Menge nagte aber auch an Emilys Gewissen. Da waren so viele Gesichter, die nichts von der Bedrohung ahnten und sich keiner Gefahr bewusst waren. Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter, eine Mutter hielt einem Baby ein Fläschchen hin, ein Pärchen im Teenageralter stand in einer fast schon pornografischen Umarmung erstarrt da und benutzte die Parade als willkommene Entschuldigung, um mit der öffentlichen Zurschaustellung ihrer grenzenlosen Zuneigung durchzukommen. Hot-Dogs wurden verzehrt, und Hände schwenkten begeistert Plastikfähnchen.
So viel Glück. Unschuld. Keiner von ihnen ahnte etwas von dem Horror, der da drohte.
Die Kreuzung East Pearson und North Michigan war einer der Orte mit den größten Zuschauerströmen, und es gab hier kaum einen Fleck, der nicht von den Menschenmassen besetzt war. Nur wegen des auffallend konzentrierten Verhaltens ihres Freundes gelang es Emily und Michael, Chris auszumachen. Er blickte prüfend in die Menge, und sein Kopf bewegte sich in großen Schwenks über die gesamte Straßenkreuzung auf der Suche nach einem unbekannten Zielobjekt. Eine Frau, die nur ein paar Schritte von ihm entfernt war, tat das Gleiche.
»Da drüben!«, schrie Emily und zerrte an Michaels Schulter, um ihn dicht neben sich zu behalten. »Das muss Laura Marsh sein.« Die Frau neben Chris war augenscheinlich in körperlich guter Verfassung und ebenso offenkundig sehr angespannt. Einige Momente später wurde sie fast an Chris’ Seite gepresst, während sie beide weiterhin den Platz absuchten.
Emily und Michael drängten sich hakenschlagend durch die Menschenmenge, um zu ihnen zu gelangen.
»Was zum Teufel tut ihr zwei hier?«, entfuhr es Chris, der offensichtlich verblüfft war, sie zu sehen. »Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt euch fernhalten!«
»Und ich hab dir gesagt, wir haben in die Sache zu viel investiert, um jetzt nicht dabei zu sein.« Michael hielt dem Blick von Chris stand. »Wir wissen, dass es gefährlich ist.«
Genau da bemerkte Chris Michaels verbundenen Arm und das verschorfte Gesicht. Die Begegnung mit Bell in Kairo war eindeutig körperbetonter gewesen, als ihm Michael am Telefon erzählt hatte.
Doch sie hatten keine Zeit und es ergab auch keinen Sinn, jetzt weiter zu protestieren. Sie waren nun mal da. Chris sah zu Emily und dann wieder zu Michael.
»All unsere Männer sind im Einsatz. Sie halten Ausschau nach allem, das so eine Art von Apparatur sein könnte, wie ihr sie beschrieben habt. Aber es ist ein höllisches Unterfangen.«
Wie schwierig die Suchaktion war, konnten sie von ihrem Standpunkt aus nur zu gut sehen. Es waren Tausende, ja Zehntausende Menschen auf den Straßen. Die Häuser ragten auf allen Seiten in den Himmel hoch. Die gesuchte Apparatur konnte überall sein. Emilys Gedanken rasten.
»Unsere Teams durchkämmen alles so sorgfältig, wie sie nur können«, fügte Laura hinzu, »aber unsere eigentliche Aufgabe ist dieser Mann da. Ted Gallows.« Sie hob einen Arm und deutete auf die andere Seite der belebten Straße. Dort blickte ein Special Agent im Jackett über die Menschenmassen und unterhielt sich dabei mit einem Kollegen. Die Art und Weise, wie er mit den Augen die Umgebung absuchte, wirkte professionell und gewissenhaft.
»Das ist der Agent, den wir als internes Bindeglied zu Bells Gruppe ausgemacht haben. Wenn jemand weiß, was gleich losgeht, dann er. Wir haben seine Gesten beobachtet und nach irgendwelchen Kontaktpersonen vor Ort gesucht. Er muss wissen, wer in diesem Chaos noch zu der Gruppe gehört.«
Laura wurde durch das Auftauchen einer anderen Frau unterbrochen, die durch eine Menschenwand trat und sich zu ihnen stellte.
»Stellvertretende Direktorin«, begrüßte Laura sie.
»Es ist Zeit, die Überwachung einzustellen«, befahl die Frau. »Die religiöse Prozession erreicht gleich die Plaza. Nehmen Sie Gallows auf der Stelle fest. Wir können nicht zulassen, dass er zu irgendjemandem in der Prozession Kontakt aufnimmt.«
Chris erwiderte den Blick der Stellvertretenden Direktorin. »Wir brauchen Sie dazu. Laura und ich sind seine Untergebenen. Er wird seinen Rang ausspielen, um uns daran zu hindern.«
Die Frau dachte nur kurz über die Bemerkung nach. »Gut. Wir nehmen ihn gemeinsam fest.«
Sie marschierte forsch los, schob ein Absperrgitter beiseite und trat auf die Straße. Chris und Laura waren dicht hinter ihr.
Michael versuchte, ihnen rasch zu folgen, doch Emily hielt ihn zurück.
»Lass sie gehen.« Ihr Gesichtsausdruck war entschieden. Michael sah sie irritiert an, widersprach ihr aber nicht.
In dem Moment kehrte Chris noch einmal zu ihnen zurück und steckte seinem Freund ein Funkgerät zu. »Bleibt darüber mit uns in Verbindung. Lasst es uns wissen, wenn ihr etwas Verdächtiges entdeckt.« Ohne ein weiteres Wort eilte Chris zu Laura und Dawson und schritt mit ihnen zu Gallows hinüber.
Michael drehte sich zu Emily um, sein Gesicht ein einziges Fragezeichen.
»Warum hast du nicht erlaubt, dass ich ihnen nachgehe? Glaubst du, wir sind hier sicherer als da drüben?«
»Es ist nicht unsere Sicherheit, die mir Sorgen macht«, antwortete Emily. »Es ist die Sicherheit aller hier.«